Licht aus dem Abgrund

Der Moment der Mitte

Haltsuchend am Rande des Abgrunds, die Tiefe zu Füßen, die Oberflächlichkeit im Rücken, sehe ich mich Tag für Tag drängender mit einer einzigen Frage konfrontiert. Es ist nicht die Frage: Was hast du?, auch nicht: Was kannst du? und noch weniger: Was weißt du? Nein, richtungweisend und offenbar alles entscheidend ist nur diese: Wer bist du? Stripped down to nothing, nackt wie Gott mich schuf, stehe ich in dieser Zeit, suchend, hoffend auf das Unvergängliche inmitten einer Vergänglichkeit, die sich von Horizont zu Horizont erstreckt. Jetzt gilt es zu bleiben, wo man ist und wer man ist. Ein stolzer Satz, gewiss, vielleicht gar eine pathetische Aussage. Bekräftigt man damit seine mutige Absicht oder versucht man bloß, sich selbst Mut zu machen? Auch dieses war ein Wort am Abgrund, einem furchterregenden Abgrund, in den schließlich die halbe Welt stürzte. Möglich, dass dem Bedrängten hier eine Antwort aus der Tiefe kam. Vernommen, erfasst und notiert hat es Hermann Keyserling, ein seinerzeit bekannter Philosoph, ein auf das Sein ausgerichteter, heute würde man sagen spiritueller Mensch, als er erfuhr, dass die von ihm vielfach kritisierten Nationalsozialisten in seiner Heimat die Macht übernommen hatten. Er blieb bei seinem Wort, die ganzen zwölf Jahre lang, und hat sich nicht verbogen. Ist das Standorttreue? Selbsttreue? Seinstreue?

Ich kann mich gut verbiegen, sagt mir die Schülerin stolz, als ich im Turnunterricht ihre erstaunliche Gelenkigkeit bewundere. Und ich staune tatsächlich. Nur ein Schlangenmensch kann in der Brücke den Kopf zwischen seine Füße schieben.

Doch mehr noch erstaunt mich das Wort, das achtlos gesagte, verräterische, traurige. Ein unfreiwillig wahres Wort, dieses Verbiegen, das die Tiefe des Schicksals einer früh adoptierten Afrikanerin erahnen lässt, verloren die Heimat, für die Heimat verloren.

Die Schlange hat keinen Stand, erst recht keinen unbeugsamen, kann nur liegen, wie kaum ein anderes Geschöpf in der Lage, sich zu beugen, anzuschmiegen, zu winden. Ist nicht gerade dieses Wendige, Anschleichende, Un-Aufrechte ein Sinnbild der Lüge?

Im schwachen Licht der sternklaren Nacht und im weniger schwachen der beiden Laternen an der Straße hinter dem schon weitgehend entlaubten Garten, sitze ich in unserem Wohnzimmer auf dem Boden. Mit nackten, ein wenig zur Seite gestreckten Beinen beuge ich mich vor und drücke das Kinn auf die schafswollene Yogamatte. Die ausgeatmete Luft kondensiert zu kleinen Wölkchen. Durch die geöffnete Terrassentür tritt die kalte Novemberluft herein. Ich spüre einmal mehr, wie wohl es mir tut, meinen unteren Rücken zu strecken. Ich bin froh über und, es wäre albern, es zu leugnen, auch stolz auf meine Gelenkigkeit. Doch ist dieses Vorbeugen nicht auch ein sich Beugen, ein Nachgeben, ja, ein sich Verbiegen?

Tägliche Praxis hilft, lässt mich Weisheit am Leibe erfahren, oder sollte ich sagen Leibes Weisheit? Je leichter und stärker du dich biegst, so lehrt sie mich, umso leichter und stärker kannst du dich strecken, aufrecht stehen, in deiner Achse sein, deine Tiefe ausloten. Du beugst dich tief nach vorn, nach hinten, nach vorn, halbnackt, leicht fröstelnd, wie in einer scheinbar grotesken, in Wahrheit aber zum Äußersten gehenden Gebetshaltung, Hingabe und Hinnahme zugleich, um … um was? Dich auf eine Mitte einzupendeln? Doch was für eine Mitte sollte das sein, die zwischen vorn und hinten, links und rechts, oben und unten?

Gibt es eine Mitte zwischen Wahrheit und Lüge, ein neutraler Ort des Sowohl-als-auch? Nein, kein Ort! Ich spüre, dass die Mitte ein Moment ist, der Moment, in dem das Licht einfällt und Sinn mir einleuchtet.

Ja, das klingt gut, aber stimmt es auch oder suche ich bloß halt beim Wort, klammere mich gar ans Wortdenken, Wortwägen? Wieder und wieder von der weit ausgreifenden Lüge angegriffen, horche ich, mehr oder weniger nahe der Verzweiflung, auf das Wort, hoffend, Sinn zu erfassen, zu begreifen das Unbegreifliche. Denn das Wort, das im Innern vernommene, ist doch das Verbindende, die Brücke zwischen dieser erscheinenden Welt und jener verborgenen, unbewussten. Es hat eine diesseitige und zugleich eine jenseitige Bedeutung. Ich versuche durch das achtlos gesprochene, gehörte, hier erscheinende Wort hindurchzuhorchen, still, abwartend, empfänglich. Ich trete etwas beiseite und erlaube dem Wort, sich selbst auszusagen.

Manchmal kommt es unverhofft und man könnte es leicht überhören. Ein junges Mädchen steht auf einem Feld, das die Anwohner Erdbeerfeld nennen. Doch jetzt im Herbst sind die begehrten Nussfrüchte längst geerntet und das Feld gleicht einer Wiese mit breiten Trampelpfaden. Das Kind lächelt und hält eine Schnur lässig in der Hand vor der Brust. Die Schnur verläuft über seine Schulter nach oben. Am anderen Ende flattert ein kleiner Drache aus billigem Plastik. Die Abbildung einer Fledermaus, oder ist es ein Flugsaurier?, schmückt das Spielgerät. Ganz aufgeregt, halb wütend, halb panisch, holt das Flugwesen immer wieder aus, nach links, nach rechts, nach links, in einer Lemniskate der Verzweiflung. Denn unweigerlich sinkt es tiefer. Der Absturz ist nur noch eine Frage schwindender Zeit. Das Mädchen schaut in die entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo offenbar anderes sein Interesse geweckt hat. Etwas abseits unterhalten sich ein Mann und eine Frau. Im Vorbeigehen spüre ich, vielleicht höre ich es auch, dass sie sich zwar kennen, aber kein Paar sind. Der Mann bemerkt den drohenden Niedergang des Drachens, blickt über die Schulter, denn auch er steht abgewandt, ruft das Mädchen beim Namen und sagt dann nur ein einziges, mahnendes Wort: Spannung! Daraufhin dreht sich das Kind um und zieht, wie geheißen, an der Schnur. Sofort steigt das flatternde Spielzeug in die Höhe. Der Zug nach unten, erlaubt den Höhenflug, so als bedürfe der Aufstieg eines Gegengewichts.

Ist das der Grund für die Spannung, die ich in mir empfinde? Werde ich hinuntergezogen, um meinen Aufstieg zu ermöglichen, ihn zu beschleunigen?

Das wild flatternde Hin-und-Her des Drachen ist ein Sinnbild großer Nervosität, innerer Unruhe. Die kenne ich gut und damit auch die Gefahr des Absturzes. Also überlege ich, woher die notwendige Spannung kommt. Wo ist mein Gegengewicht? Welcher leibliche Anker erlaubt erst meinen Gedanken himmelwärts zu steigen?

Das frage ich mich in der Frühe des folgenden Tages und die Antwort kommt mir aus dem Körper, denn es meldet sich mein Magen, der sich zu dieser nachtschlafenden Stunde des gestrigen Abendmahls noch nicht ganz entledigt hat. Leibes Mitte beschwere ich offenbar gern und fülle sie mit allerhand Früchten der Erde aus, übrigens ohne dadurch zuzunehmen. Ich war immer schon dünn und bin es weiterhin. Dass ich mich über das ausgiebige Essen mit der Erde verbinde, muss deshalb, so dachte ich lange, einen anderen Zweck als bloße Aufnahme von Kalorien erfüllen. Ich sagte mir, dass ich auf diese Weise versuche, dorthin meinen Schwerpunkt zu verlagern. Ruhe, Ausgeglichenheit stelle sich damit zwar nicht ein, aber immerhin eine Art von Stabilität, keine goldene, eher eine steinerne Mitte. Ich suchte also, vermeintlich, wie ich jetzt sehe, Zuflucht zur Schwere, damit die Ströme der Zeit, die Wogen einer unfassbar aufwühlenden Welt nicht in der Lage wären, mich mitzureißen. Es ist eine Beschwörung, diese Beschwerung, so befinde ich jetzt, eine Beschwichtigung der Angst. Siehe, du hast deinen Schwerpunkt in der Mitte, du wirst nicht fallen, wirst standhalten, unverrückbar sein, nicht verrückt werden. Dank einer solch stabilen Anbindung an das Irdische wird sich dein Geist umso kräftiger in höhere Sphären erheben können.

Doch ein voller Bauch reicht nicht, ist bloß beschwerlich und wenig geeignet, mich von meiner Fallangst zu erlösen. Ich merke doch, dass er viel eher Schwermut und Schwerfälligkeit im Gefolge hat. Offensichtlich habe ich das mit der Beschwerung zu wörtlich, zu leiblich genommen. Und dennoch brauche ich ein Gegengewicht, denn der geistige Höhenflug, meine Erhebung ins Ideelle, kann leicht in eine Zerreißprobe ausarten, ein Entrissen- oder Entrückt-werden. Das wurde dem Ikaros zum Verhängnis, diesem unerfahrenen, schwärmerischen Jüngling, der seine Mitte verließ, sich emporschwingend maßlos wurde und deshalb schließlich abstürzte.

Aber sogar des tragischen Aufsteigers Schicksal, das im gewissen Sinne doch auch meins ist, verliert seinen Schrecken, wenn man bedenkt, dass es für ihn einen Weg zurück zur Erde gibt. Aus der Traum vom Fliegen – der Erdenweg geht weiter. Aber was ist, wenn der Traum zum Alptraum wird, wenn man gar nicht mehr abstürzen kann und wie Major Tom in David Bowies Space Oddity auf immer unerreichbar in den luftleeren Raum entschwebt. Dann verfehlt man Wort und Weg. Ich sehe es klar vor mir, dieses Mahnzeichen, und es zeigt mir, welches Gegengewicht meinem Aufstieg die Waage halten kann. Denn der luftleere Raum ist wie das lichtlose Reich abstrakter Begriffe, eitler Gedankenspiele, die endlos weitergehen – und nichts bewirken. Besser also ich lasse meine Gedanken aus dem Leiblichen, dem Konkreten, aus der Anschauung hervorgehen. Immer schön auf dem Teppich bleiben!

Der platonische Ideenhimmel bekommt dir nicht. Halte dich an Aristoteles! Halte die Spannung!

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