Licht aus dem Abgrund

Mensch, wo ist dein Meister?

So glaubte ich trotz allem, ja gerade weil sich überall in der Welt die Düsternis offenbarte, an das Lichte. Doch auch dieser Glaube wurde geprüft. Denn plötzlich gingen mir die Vorbilder aus, die geistigen Größen, auf die ich mich berufen konnte.

Wo waren sie bloß geblieben, die Lichtgestalten, Leuchttürme und Leitsterne, jene Gurus und Heiligen von einst? Wo waren die geistigen Autoritäten, die in der verworrenen Lage des Schlachtfeldes unmissverständlich Ross und Reiter nannten und mir zuriefen: Halte stand, Legionär, weiche dem Bösen nicht?

Anders als dem indischen Krieger Arjuna aus der Bhagavadgita, der sich auf dem Schlachtfeld seinen Verwandten gegenübersieht, fehlte mir die göttliche Unterweisung, jener klar und kraftvoll geäußerte Rat, mich nicht vom äußeren Schein blenden zu lassen. Wo waren die Lotsen, die mein Lebensschiffchen durch stürmische Zeiten in den sicheren Hafen des inneren Friedens, eines geklärten Bewusstseins, hätten führen können? Manche waren verstorben, verstummt; ihre Botschaften, niedergelegt in zahlreichen Schriften, erschienen mir fern und unwirklich. Ich versuchte zu lesen, anzuknüpfen an vergangene Begeisterung, doch gab bald auf. Es fehlte der Zauber, kein Funke sprang über. Selbst die Gebete und Mantras waren leer gewordene Formeln. Nur noch mechanisch wiederholten die Lippen die heiligen Silben. Andere geistigen Größen lebten zwar noch, waren mir aber fremd geworden, redeten den Machthabern nach dem Mund, predigten Anpassung, demonstrierten Fügsamkeit.

Es war Winter, vorbei die Zeit, in der ich mich an den herrlichen Blüten spiritueller Meister ergötzte. Als die Erntezeit gekommen war, hatte ich mancherlei Früchte gekostet, obwohl ich weder gesät, gezüchtet oder gejätet noch mich sonst um deren Wachstum gekümmert hatte. Ich schwelgte in ihren starken Geschmäcken und Aromen, viele davon blumig-süß oder süßbitter, manche auch herb. Doch nun war es kalt und trüb geworden, die Bäume waren kahl und ein grauer Himmel ließ keinen einzigen Sonnenstrahl zu mir durch, eine Zeit der Entbehrung, wie es schien. Tief in der Erde schlummerten die Samen, sammelten ihre Kräfte, verbargen ihr Licht, harrten eines neuen Frühlings.

Schaute ich mich um, sah ich mich verlassen. Die lichten Helfer von einst hatten sich zurückgezogen. Doch wohin waren sie gegangen und wo war ihr Licht? Was davon trug ich in mir? Ich ahnte, dass es darum ging, Licht im Innern zu bergen.

Jetzt musste sich zeigen, welche Saat in mir keimt, wie viel ich von all dem Gehörten, Gelesenen, Gesehenen mit Leben erfüllen und fruchtbar machen konnte.

Würde ich mich den Meistern, den lange unermüdlich Lehrenden und großzügig Licht Spendenden, würdig erweisen? Und, viel wichtiger noch, wie? Sollte ich ihre Worte aufgreifen, sie mir zu eigen machen, wiederholen, zitieren und mit Nachdruck in die Welt meiner Zeit hinaustragen? Wurde das von mir erwartet? Wäre irgendjemandem damit geholfen? Ich bezweifelte es. Gab es denn nicht schon genug Prediger, Verkünder einer neuen Erde, Propheten einer lichten Menschheit, einer höheren Schwingung, gerade heute? Ich fühlte, dass es nicht darum gehen konnte, zu lehren, anderen eifrig zu verkünden, was ich verstanden hatte. Das wäre anmaßend, ehrgeizig, vielleicht auch aggressiv, rechthaberisch. „Mein Lehrer hat gesagt…“

Dass manche Meister menschlich enttäuschten, sollte mich nun an meine Eigenverantwortung erinnern, an die stete Notwendigkeit, mir meine Urteilskraft zu bewahren. Egal welch hehre Herkunft ich dem Geist des Gurus zubilligte, sofern er hier erschien, trat er mir als Mensch gegenüber, nicht mehr oder weniger göttlich als andere Menschen. Ich mochte seine Weisheit lieben und ehren, machte ihn aber zum Götzen, wenn ich vor seiner Erscheinung in die Knie ging und das kreatürliche an ihm beweihräucherte. Das klingt vernünftig und klug. Trotzdem war ich öfter versucht, mich einem göttlichen Lehrer oder einer heiligen Mutter mit kindlicher Hingabe zu nähern, fiel es mir doch leicht, mir mein Nichtwissen, meine Hilfsbedürftigkeit einzugestehen. Dabei wusste ich doch, dass jeder Guru, der etwas taugt, der seine Aufgabe ernst nimmt, die Selbstständigkeit seiner Schüler im Sinne hat. Die wahren Meister wissen sich der spirituellen Entfaltung, dem geistigen Erwachen ihrer Schüler oder Zuhörer verpflichtet. Deren Anhänglichkeit ist ihnen ein Gräuel. Wer dagegen eine Fangemeinde um sich schart, ist im Grunde ein Scharlatan, einer, der sich selbst wichtiger nimmt als seine Aufgabe. Insofern haben mir gerade jene Meister, die meine kindliche Verehrung zurückwiesen, am nachhaltigsten geholfen. Die Forderung, selbst zu denken, zog sich wie ein Basso continuo durch alle Variationen ihrer Lehre.

Sie waren die Helfer, die kein Interesse daran hatten, dass ich ihre Früchte aß, was mich, wie ihnen sehr wohl bewusst war, unweigerlich in eine Abhängigkeit gebracht hätte. Sie wollten, dass ich selbst Frucht trug. Auch wenn sie tief Gedachtes lehrten, ging es ihnen nicht darum, ihre Saatgedanken in meinen Seelengrund zu säen, erkannten sie doch, dass mein eigenes Saatgut tief in mir versunken seiner Erweckung harrte. Diese Erweckung war das Ziel ihres Wirkens. Ich sollte nicht in ihrem schönen Garten lustwandeln, mich von den dortigen Düften und Farben betören lassen, sondern mich um meinen eigenen Garten kümmern, ihn von Disteln und Dornen befreien, ihn lichten, meine Sämlinge hegen. In ihrer Weisheit sahen sie deutlich, dass ich keinen Frieden finden würde, solange meine menschliche Erscheinung nicht in der Einheit mit ihren seelisch-geistigen Wurzeln lebte.

Man hört und liest heute viel von Selbstversorgung und auch ich habe, der Zeitströmung entsprechend, zwei Hochbeete gebaut, Kompostiertes hineingeschaufelt und eigenes Gemüse herangezogen. Selbst Gesätes zu ernten und sich davon zu ernähren, ist eine befriedigende und beruhigende Erfahrung. Man fühlt sich der Erde nahe und erlebt den Kreislauf von Sterben und Werden unmittelbar.

Noch wichtiger aber, am Ende auch nachhaltiger, ist es, sich mit eigenen Seelenfrüchten zu versorgen, mit dem also, was uns aus dem Hochbeet unserer Seele erwächst. Dort keimt Geistiges und die Früchte sind keine Karotten oder Salate, sondern Inspirationen. Ich ernte sie in Gestalt von Traumbildern, Ahnungen, einfallenden Gedanken, Ideen oder wegweisenden Worten.

Woher kommt das geistige Saatgut, wer hat es in meine Erde gebracht? Ich weiß wenig über diesen inneren Gärtner, aber ich spüre sein Wirken, sein stetes Bemühen, meine Seelenfrüchte zur vollen Reife zu bringen.

Natürlich kann ich immer und überall die Seelenfrüchte anderer konsumieren, mir gedankenlos ihre Meinungen einverleiben, ihre Erklärungen übernehmen, ihre Ansichten teilen oder umgekehrt, ihnen widersprechen, meine Verstandeskräfte benutzen, um ihre Behauptungen mit schlauen Gegenargumenten zu widerlegen. Dann mache ich mir meine eigenen Gurus, meine Götzen, die ich in Form von Überzeugungen vor mir hertrage, Abgötter, die immer in Abgrenzung von anderen, vermeintlich falschen Abgöttern existieren. Habe ich das nicht immer wieder gemacht, mich dazu verleiten lassen, meine Spitzfindigkeit derart zu feiern und zu genießen? Das Ergebnis war doch stets ein fruchtloser Streit um das objektiv Bessere, das sowohl ich als auch mein Gegenüber gleich einer Schimäre hinterherjagten. Ich fühle, und vielleicht ist es das, was mich mein innerer Meister lehrt, dass diese Rechthaberei erst aufhören kann, wenn ich auf meine eigenen Seelenfrüchte aufmerksam werde, mich ihnen zuwende.

Was mir aus dem Seelengrund erwächst, eignet sich nicht als Instrument der Selbstbehauptung. Es scheut die lautstarken Auftritte, meidet den Brustton der Überzeugung, stimmt mich vielmehr darauf ein, auf das zu achten, was mit dem Gesagten mitschwingt. Es ergreift nicht Partei und rät mir, es ebenfalls nicht zu tun.

Was bei mir im Innern lebt und was wir Seele oder höheres Selbst nennen, ist nicht daran interessiert, dass ich mich profiliere, vor den anderen als etwas Besonderes hervortue. Es verkündet mir keine Weisheiten, um mir zu ermöglichen, mich wichtigzumachen. Denn jede Wichtigtuerei führt in die Isolation, in die Abkapselung und Verhärtung.

Die Impulse, die ich aus der geistigen Welt empfange, sind insofern unpersönlich, als sie nicht meinem persönlichen Profit dienen. Solange ich gewinnen will, muss ich die anderen als Gegner betrachten. Dabei verliere ich meine tiefe Verbundenheit mit ihnen zwangsläufig aus dem Blick.  

Wir denken ständig in Dafür oder Dagegen, in Pro oder Kontra, sagt der weißhaarige Mann vorne auf dem kleinen Podest. Er sitzt in schlichter, schmuckloser Kleidung kerzengerade auf einem einfachen, hölzernen Klappstuhl, sein Mund ein Ausdruck strenger Konzentration, die Augen gütig. Die vom hohen Alter zittrig gewordenen Hände unterstreichen die Dringlichkeit seiner Worte auf eindrückliche, überzeugende Weise. Hier herrscht nicht nur der Geist über den Körper, hier wird auch ein Mensch von seiner Aufgabe getragen. Es ist warm, die Seitenwände des großen Zeltes sind aufgeschlagen, um etwas frische Luft hereinzulassen. Saanen in der Schweiz im Juli 1985. Regungslos sitzen Hunderte von Besuchern auf ihren Klappstühlen und hören konzentriert zu.

Ich bin einer von ihnen, aber innerlich bin ich alles andere als regungslos. Die Worte des indischen Lehrers versetzen mich in Unruhe. Er spricht von weltweitem Chaos und endlosen Konflikten. Seine schonungslose Darstellung der gesellschaftlichen Lage, das erschreckend zutreffende Bild meines Lebens, lastet mir auf der Brust. Das Atmen fällt mir schwer. Ich verstehe noch nicht viel von mir selbst, habe noch nicht gelernt, die Dinge zu relativieren. Aber ich spüre den Ernst, der von diesem alten Mann ausgeht, auch in mir. Es ist ein Gefühl, das es mir nicht erlaubt, schulterzuckend über seine Worte hinwegzugehen, ihm gar mangelnden Optimismus oder Humorlosigkeit vorzuwerfen, wie es manche der rotgekleideten Anhänger Bhagwans tun. Vielmehr spüre ich eine gewaltige Dringlichkeit. Ich muss etwas unternehmen, etwas ändern, weiß aber nicht wie. Sämtliche Wege, die mir in den Sinn kommen, hat der Redner als unwegsam dargestellt, wirkungslos und schädlich, allen voran eben dieses Denken in Für und Wider.

Aber wie soll ich mein Denken ändern, wenn mich doch schon das Nachdenken über diese Frage in alten Mustern festhält? Ich erlebe also einerseits, dass ich nicht aus meiner Haut herauskann, während ich andererseits überzeugt bin, genau das tun zu müssen. Die Situation erscheint mir ausweglos, meine eigene genauso wie die der Welt. Und als die innere Spannung unerträglich wird, stehe ich auf und verlasse, mitten im Vortrag, fluchtartig das Zelt. Draußen, unweit des Zeltes, falle ich schluchzend auf die Knie.

Ich kann es nicht wissen, ahne aber vielleicht schon, dass es das letzte Mal war, dass ich Krishnamurti reden hörte. Ein halbes Jahr später, inzwischen zurück in Amsterdam, erfahre ich aus der Zeitung von seinem Tod im fernen Kalifornien.

Er war kein Guru, forderte keine Folgsamkeit, keinen Gehorsam. Verehrung war ihm zuwider und man spürte, dass er das wirklich so meinte. Er wies alles zurück, die Blumengirlanden, den Weihrauch, die Bhajans, jede noch so fröhliche Unterwerfung. Und doch war er ein Lehrer, dessen klare, friedvolle Präsenz ich unmittelbar erlebte, der zugleich aber jede Nachahmung, jedes unkritische Verweilen im Glanz eines Gurus untersagte. Er weigerte sich, mir einen Weg zu zeigen, unterließ es aber nicht, mir meine Fluchtwege abzuschneiden. Warum weigerte er sich? War das unnötig streng oder unerbittlich, gar Ausdruck einer versteckten Boshaftigkeit? Die Antwort ist einfach und sie, immerhin, leuchtete mir schon damals ein. Solange ich einer äußeren Autorität folge, einen mir gewiesenen Pfad beschreite, komme ich nicht zu mir. Meinen Weg muss ich selbst finden. Heute würde ich sagen, er entsteht beim Gehen. Aber es ist dies kein Umherziehen, kein Wandern im weltlichen Sinne, eher eine Frage der Beziehung, des Durchlässig-werdens für ein Sein von jenseits meiner bewussten Wahrnehmung.

Brauche ich also keinen Guru, keinen Führer, der mir zeigt, wo es langgeht? Sind die Lehrer und Weisen deshalb aus meinem Leben verschwunden? Jahrelang bin ich wie ein Geselle auf der Walz von Meister zu Meister gegangen, habe dieses und jenes gehört, gelesen und kennengelernt. Ist nun also die Zeit gekommen, innezuhalten, mich niederzulassen und selbst, längst zu alt für den Gesellenstatus, Meisterschaft zu erlangen, irgendeine Meisterschaft zumindest?

Oder sind die wegweisenden und Rat gebenden Helfer gar nicht verschwunden, sondern bloß ätherischer, geistiger geworden. Gerade jetzt, angesichts zunehmender Verwirrung und Entfremdung, drängt sich dieser Eindruck auf. Denn während sich die einen, der Inder, der Graf, der Chassidim, der Wundertäter, die mir allesamt leiblich begegneten, von der weltlichen Bühne verabschiedet haben, sind hinter den Kulissen andere aufgetaucht, flüchtige Wesen, die sich wie Kommentatoren aus dem Off zahlreich zu Wort melden. Es scheint fast, als würde die Menschheit von medial empfangenen Botschaften geistiger Wesenheiten regelrecht geflutet werden. Überall treten mir „gechannelte“ Lehren und Verkündigungen entgegen, die ihrer Herkunft entsprechend universale Gültigkeit beanspruchen.

Nun bin ich weder emotional geneigt, noch spüre ich einen intellektuellen Zwang, die Existenz all dieser intergalaktischen Wesenheiten, Erzengel und aufgestiegenen Meister zu leugnen. Weshalb sollte ich? Ich glaube an die verborgene Welt des Geistes und an die Vielfalt geistiger Realitäten. Ich kann sie daher gut sein lassen, diese göttlichen Helfer, die lichten Brüder und Schwestern anderer Sphären, und mich an ihrem Dasein erfreuen. Kritischer allerdings betrachte ich den Menschen, den, der ich selbst bin, genauso wie den, der mir draußen begegnet. Ich sehe und wundere mich, dass sich manche meiner Zeitgenossen nicht nur auf kindlich unbefangene, sondern auch naive Weise all diesen geheimnisvoll tönenden, manchmal aber auch Banales verlautbarenden Wesenheiten hinwenden. Die Bereitschaft, ihr eigenes Urteilsvermögen hintanzustellen, scheint gerade bei Lehrern, die ihnen nicht leiblich begegnen, besonders ausgeprägt zu sein. Und wenn sich diese durchtönenden überirdischen Lichtgestalten selbst in einer kosmischen Hierarchie einordnen – je höher, so scheint es, je besser – so wird das überraschend leichtfertig als fraglose Tatsache akzeptiert. Irritiert beobachte ich, wie solch ein hochrangiger Stellenwert als Beleg dafür genommen wird, dass die verkündeten Wahrheiten, zumindest bis in ihre jeweilige Himmelssphäre hinauf, über jeden Zweifel wahr und erhaben sind.

Warum hoffen wir auf Weisung, Hilfe, Trost, Rettung aus dem Weltall, von fernen Planeten oder Sterngruppen? Warum suchen wir, und suchen erneut, wie man sagen muss, Autoritäten außerhalb von uns selbst, mächtige Geistwesen, die uns an Wissen und Weisheit, wie wir gerne glauben wollen, immens überlegen sind, die uns Menschenkinder väterlich oder mütterlich an die Hand nehmen, um uns unser Leben in der dunklen raumzeitlichen Welt liebevoll zu erklären? Was ist jetzt mit der spiritueller Selbstversorgung?

Es mag eine Zeit gegeben haben, da Kinder an langen Winterabenden den Geschichten ihrer Großeltern mit offenen Mündern und Sinnen lauschten. Draußen, jenseits der schützenden Umarmung der Höhle, der Hütte, des Zeltes, stand die frostklirrende Nacht, drinnen verströmten die glühenden Holzscheite in der Feuerstätte wohlige Wärme. Man saß dicht beisammen und die Erzählung entspann sich im Zusammenspiel von Sprechern und Zuhörern. Die Worte kamen nicht nur kraft einer willentlichen Entscheidung aus dem Innern, aus der Erinnerung der Alten, sie fanden sich deshalb ein, weil die Zuhörer bereit waren, sie offenen Herzens aufzunehmen. So entstanden die Geschichten und Botschaften aus einem in verbindender Liebe gebildeten Kreis, in dem sich Unbewusstes leicht offenbaren konnte. Die Unschuld der kindlichen Zuhörer war dabei ein unverzichtbarer Wert, aber ebenso waren es die Weisheit, die nüchternen Betrachtungen und gereiften Gedanken der Älteren. Für die Jungen mögen die Geschichten ihrer Groß- oder Urgroßeltern wie Erzählungen der Ahnen oder Göttern aus einem Jenseits gewesen sein. Die Erzähler selbst aber wussten um die wahre, innere Quelle ihrer Worte.

Vielleicht, denn mit Sicherheit können wir es weder wissen noch ausschließen, spricht aus den medialen Menschen am Ende ihr eigenes Unbewusstes, das von ihnen allerdings gemäß ihrer Glaubenssätze interpretiert und in archetypische Gewänder gekleidet wird. Und wenn es so wäre? Käme das einer Abwertung ihrer Botschaft gleich? Hätten wir es demnach „bloß“ mit Erzeugnissen ihrer Fantasie, mit eingebildeten Anderwelten und Projektionen ihres Wunschdenkens zu tun? Offenbar haben wir wenig Vertrauen in das, was sich aus uns selbst heraus meldet. Das sollte uns zu denken geben. Stellen wir uns vor, jemand teilt uns einen Gedanken mit und erklärt, er sei ihm eingefallen, ihm einfach in einem stillen Moment unvermittelt gekommen. Alles klar, denken wir, der hat sich was ausgedacht, verkündet mir seine Sichtweise, seine Meinung. Je nachdem nun, ob wir die Person mögen oder nicht mögen, fällt unsere Reaktion darauf eher wohlwollend oder aber skeptisch und ablehnend aus. Würde uns dagegen jemand einen Gedanken mitteilen und glaubhaft versichern, eine geistige Entität der kausalen Ebene, ein Erzengel oder ein „Plejader“ hätte ihm diesen zugeraunt, verliehe das der Botschaft nicht sogleich ein größeres Gewicht? Wären wir nicht sofort bereit, genauer hinzuhören und dem Gehörten einen größeren Wert beizumessen?

Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Was bedeutet mir dieses Christuswort, das millionenfach gedruckte und vielleicht nur mechanisch gelesene, gerade jetzt, so nah am Abgrund? Wie könnte es gemeint sein? Sollte ich dieses innere Reich als eine Metapher für körperliche Stärke, Vitalität, emotionale Ausgeglichenheit oder die Herrschaft des Intellekts verstehen? Es gibt nichts da draußen, entscheidend ist, dass ich mich in meiner Haut wohlfühle, im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten bin, gesund, fit, leistungsstark? Dann müsste es sich wohl um ein kleines, bescheidenes Reich handeln, das sich da inwendig in mir befindet, denn es bricht schon nach wenigen Jahrzehnten in sich zusammen und vergeht schließlich vollends. Dagegen ist ein weiter Himmel über mir voller Engel, die sich frohlockend bis hinauf zur Zentralsonne reihen, wo Gott in einem golden leuchtenden Palast thront, gewiss imposanter, eindrucksvoller, überzeugender.

Und dennoch ist mir, ist uns allen, dieses Bibelwort überliefert. Vielleicht sollte ich mich darauf besinnen, es ernstnehmen und mich mit angemessener Ehrfurcht diesem inwendigen Reich nähern, in mich selbst hineinhorchen. Ehrfurcht? Wieso Ehrfurcht? Warum meine ich, dass ausgerechnet sie angemessen wäre? Handelt es sich hier nicht um ein vertrauensvolles, intimes Verhältnis? Ist mir dieses inwendige Reich nicht näher, als es je ein Mensch aus Fleisch und Blut sein könnte? Ich spüre, dass mir die Ehrfurcht hilft, mich davor bewahrt, das innere Reich zu banalisieren.

Ich nähere mich einem großen Unbekannten, das ich zugleich selbst bin, stehe vor einem Rätsel.

Ein Schwert blitzt auf, die Scheide der Unterscheidung, ein Symbol der Trennung. Diese außergewöhnliche, weil globale Einweihung, der wir unterzogen werden, ist eine Zeit des Schwertes, das uns von allem trennt, was nicht unser Eigen ist. Dieser oder jener Gedanke mag mir gefallen, manche Vorstellung mir sympathisch sein, und andere Menschen, die Ähnliches denken und meinen, mögen mir verwandt erscheinen, wie Brüder und Schwester. Doch das Schwert der Wahrheit zieht einen klaren Schnitt. Was nicht in mir lebt, bleibt nicht. Und so entzweit mich das Schwert mit allem Äußerlichen, nicht nur mit allem, was ich irgendwie geleistet habe, meinen Erfolgen und der daraus resultierenden Anerkennung, sondern auch mit allem bloß Gelesenen und Gehörten, mit Theorien und Spekulationen. Was bleibt mir jetzt, wie nackt stehe ich da?

Sofern mir die Gurus und Meister äußerlich begegnet sind, waren auch sie Äußerlichkeiten. Im Licht des Schwertes sehe ich nun ihre historische und biografische Bedingtheit. Ich erkenne die relative Gültigkeit, die Einseitigkeit und Unvollkommenheit ihrer Mitteilungen. Was mir in der Außenwelt als Erscheinung begegnete, waren Menschen, die wie alle Menschen ihre persönliche Geschichten, ihre charakterlichen Stärken und Schwächen hatten, vergänglich wie jede Erscheinung. Man sagt leichthin, dass ihre Botschaft, ihre Lehre zeitlos und unvergänglich sei. Doch eine solche Behauptung bleibt so lange leeres Gerede, bis ihre Worte in mir auferstehen.

Wohin ich schaue, ich gewahre keinen Meister, auf dem ich mich länger aufstützen, keine Wahrheit, die nicht hinterfragt werden könnte. Schluss mit den Krücken! Das ist offenbar die Losung dieser Zeit. Steh endlich auf eigenen Beinen!

Doch wie finde ich das nötige Gleichgewicht? Hier schließt sich der Kreis, denn das Organ für den aufrechten Stand ist doch im Ohr. Selbstständigkeit erfordert also ein Horchen, ein In-mich-hineinhorchen. Versenkung, das Wort sagt es bereits, geschieht entlang der senkrechten Achse, ist wie ein Lot, ein Senkblei, das die Tiefe auslotet.

Natürlich werde ich weiterhin Botschaften, die von außen auf mich zukommen, anhören und aufnehmen. Die ganze Welt ist ja voller Botschaften. Alles was mir begegnet, ein Mensch, ein Baum, ein Buch, sagt etwas aus. Um es hören und verstehen zu können, muss ich mit mir selbst in Beziehung sein. Ich kann natürlich über das Erfahrene nachdenken, es analysieren. Das ist nicht verkehrt, aber es reicht nicht. Ich spüre, dass etwas aus dem Verborgenen, aus dem inwendigen Reich dazu kommen muss, wenn ich erkennen möchte, was die Begegnung für mich bedeutet, was ihr Sinn ist. Es gibt nur den einen Weg, das Äußerliche zu verinnerlichen, und der besteht darin, dass ich zum lebendigen, authentischen Sprachrohr, Medium meines inneren Selbst werde. Man könnte das als Self-Channeling bezeichnen. Vielleicht ist ja das die zeitgemäße Lösung der Gurufrage.

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