Mütter und Abgründe
Zu stehen, einen aufrechten Stand zu haben, war das eine. Etwas
ganz anderes aber war es, zu springen. Wie stark ich vor dem Absprung zurückscheute, immer schon gescheut hatte. Da war der Absprung aus dem limburgischen Geburtsdorf mit dem sonderbaren Namen Berg-Urmond in die holländische Residenzstadt Den Haag, geografisch nur 200 Kilometer entfernt, aber kulturell eine völlig andere Welt. Rückblickend stellt sich dieser Sprung als ein Aufbruch in die Freiheit dar. Doch damals war die Angst vor Veränderung so stark, dass ich mir eine dramatische Zwangslage inszenieren musste, um mich selbst zu diesem Schritt zu nötigen. Aus einer diffusen, vielleicht auch naiven Sehnsucht nach Freiheit heraus hatte ich meine Zivildienststelle gekündigt. Wusste ich, was ich tat, war mir klar, dass ich mich zum Deserteur machte? Sicher nicht. Ahnte ich, worauf es hinauslaufen würde? Vermutlich schon. Wenige Tage später tauchte jedenfalls ein Militärpolizist im bescheidenen Reihenmietshaus meiner Eltern auf und erteilte mir die Order, am nächsten Morgen „mit Zahnbürste“ beim Verteidigungsministerium in ‘s-Gravenhage zu erscheinen. Anstatt mich auf das Abenteuer Großstadt zu freuen, geriet ich in Panik.
Stärker noch scheute ich Jahre später den Sprung ins Berufsleben, in dem ich für mich keinen Platz erkannte. Ich spürte die lähmende Furcht vor Unzulänglichkeit, nein, ich war mir sicher, den Leistungsanforderungen der Arbeitswelt nicht entsprechen zu können. Das war sonderbar, stellte sich doch später heraus, dass ich durchaus erfolgreich in dieser mir bedrohlich erscheinenden Welt agieren konnte, diszipliniert, vorbildlich, ein Leistungsträger. War es also genau das, was mich damals scheuen ließ, die Aussicht auf eine erfolgreiche Laufbahn, eine tiefsitzende, irrationale Furcht vor Erfolg? Oder war sie vielleicht gar nicht so sinnwidrig, diese Angst, sondern eher ahnungsvoll? Denn zahlte man nicht einen Preis für die gelingende Karriere, ein faustisches Tribut an die Welt des Wachstums mit ihren zahllosen Gütern, Genüssen und Ehrungen? Zeigte sich mir nicht gerade jetzt, dass ich dafür meine Seele zwar nicht verkauft, aber doch zum Schweigen gebracht hatte? Zwang mich nicht die Nähe des Abgrunds zu sehen, wie sehr der Erfolg, die Anerkennung und die Belobigungen mich korrumpiert, mich dazu verleitet hatten, diese Daseinsform schon für das Ganze zu halten, ein Perpetuum Mobile zusammengefügt aus den perfekt austarierten Elementen Arbeiten, Geldverdienen, Dazugehören, Konsumieren, Sich-betäuben?
Denn nun stand ich unversehens vor dem Absprung aus eben dieser Welt der erfolgreichen, pflichttreuen Angestellten, der ich so lange angehört hatte.
Sie hatte nicht nur ihren Reiz, sondern auch ihre Glaubwürdigkeit verloren und nicht einmal ihr stärkstes, bislang schlagendes Argument, die Sicherheit, konnte mich noch bestechen. Ein katholischer Seelsorger, der damals in einem großen fränkischen Gefängnis arbeitete, erzählte mir vor vielen Jahren einmal, dass Sicherheit das übergeordnete, alles beherrschende Thema der Haftanstalt sei, und zwar beim Wachpersonal genauso wie bei den Insassen. Das leuchtete mir unmittelbar ein. Die Rollen sind verteilt, die Handlungsabläufe genauso festgelegt wie die Denkmuster, die Spielräume eng abgesteckt. Man darf nicht viel, muss sich an klar definierte Regeln halten, kann nicht ausbrechen, aber dafür erhält man die Zusicherung, dass der morgige Tag dem heutigen gleicht, dass keine beunruhigende Veränderung eintreten wird. Und wenn man sich als „Knacki“ anpasst und das Spiel mitspielt, bekommt man gar bescheidene Vergünstigungen, erleichterte Haftbedingungen. Entgegen dem Klischee aus Film und Fernsehen wollen die allermeisten Häftlinge, so wurde mir versichert, gar nicht ausbrechen. Und die Justizvollzugsbeamten hätten das sicherste Arbeitsverhältnis überhaupt.
Aber war es nicht maßlos übertrieben, mein bisheriges Berufsleben als angestellter Lehrer mit einem Gefängnis zu vergleichen? Ich hatte doch immer beachtliche Spielräume gehabt, pädagogische Freiheiten, wie es in meinem Metier heißt, erst recht, da ich in Einrichtungen tätig war, in denen das freie Arbeiten, zumindest im Wortlaut ihrer Konzepte, von zentraler Bedeutung war. Doch die Liberalität, diese stolze Gesinnung der Gebildeten, hielt der Nähe des Abgrunds nicht stand und verblasste zum bloßen Anschein. Denn bei ehrlicher Betrachtung, und nur diese durfte jetzt noch sein, zeigte sich, dass es stets eine Vielzahl ungeschriebener Gesetze gab, ein feinmaschiges Netz kultureller Muster, das Handlungs- und Sprechweisen vorgab. Ich bemerkte all diese subtilen Vorgaben und Regeln erst, als ich anfing, dagegen zu verstoßen. Plötzlich war das von mir Gesagte unsäglich, die Kollegen wollten es nicht hören oder wiesen es als unerhört zurück. Ein Wort bloß, ein einziger Satz, konnte schon zum Tabubruch werden. Ich spürte, wie ich in den Untergrund abrutschte, in die Rolle des subversiven Störers gedrängt, der die Grundmauern der allgemein geltenden Glaubenssätze untergrub, sich außerhalb des unausgesprochenen Konsenses stellte. Ist der Absprung weniger bedrohlich, fällt er mir tatsächlich leichter, nun, da ich mich bereits im Keller dieser alten Welt befinde? Die Fallhöhe ist gewiss geringer.
Und es gab Hilfe, so wie es sie immer gibt. Sie kam von der Seite, die mir fehlte und nur von außen begegnen konnte, eine weibliche Hilfe.
Jedes Mal, wenn sich in meiner Vergangenheit ein Abgrund auftat, ein Sprung erforderlich war, stand mir eine Mutter zur Seite, eine mütterliche Frau, die mich tröstete, mir Mut machte, mich aber auch, wenngleich einfühlsam, zum Sprung aufforderte.
Das mag schon bei meinem Eintritt ins Leben der Fall gewesen sein, meiner Geburt in einer heißen Julinacht, von der ich nur weiß, dass sie langwierig und kräftezehrend war. Noch als Säugling rang ich, schwer an Keuchhusten erkrankt, lange Monate mit dem Erstickungstod, so als scheute ich bereits gleich am Anfang vor dem zurück, was ich dunkel ahnend auf mich zukommen fühlte. Meine Mutter war zum Äußersten gefordert, mich durch diese Krise zu führen.
Auch an anderen kritischen Stellen des Weges standen Frauen, zumeist ältere, die mir Mütter waren und das Schutzbedürfnis des schmächtigen und schwärmerischen jungen Mannes, der ich war, gespürt haben mögen, seinen Hang zu Abstraktionen und seine deshalb nur bedingte Tauglichkeit für die konkrete Lebenspraxis. Noch am Anfang meiner Zwanziger mag ich ihnen wie ein großes Kind vorgekommen sein. Und doch müssen sie noch etwas anderes gespürt haben, eine Neigung zur Gedankentiefe, zum Jenseitigen, zum inneren Wort, die trotz ihrer Lebensferne faszinierte. Es entging mir nicht und, jung wie ich war, fühlte ich mich geschmeichelt, vielleicht sogar ein wenig umworben, was gelegentlich zu Missverständnissen führte. Eine Mutter ist keine Geliebte. Dort, wo sie es mir trotzdem wurde, war das Ende der Beziehung vorgezeichnet.
Es waren Mütter, die mir zeigten, welche Welten links und rechts des Weges lagen. Als ich bereits die Teenagerjahre hinter mir hatte, war ich immer noch erstaunlich wenig mit dem Leben in Berührung gekommen. Wie in Entsprechung zu meiner schmalen Gestalt, glich auch mein Weg einer Schmalspur. Ich wusste wenig, kannte wenig, traute mir wenig zu, lebte in selbstgewählter Isolation. Mütter nahmen mich an die Hand und führten mich in Räume ein, die mir bislang verschlossen waren. Eine öffnete mir die Welt der Kochkunst, eine andere weckte meine Liebe zur Alten Musik, wieder eine andere zeigte mir die kreative Vielfalt der Mode und kleidete mich. Ihnen allen gemeinsam war, dass sie mich mit dem Dasein versöhnten, mich dabei unterstützten, einen festeren Stand auf dem Boden des Tatsächlichen zu erlangen. Sie erkannten oder erahnten zumindest die Schüchternheit hinter meiner Arroganz und versetzten mich in die Lage, sozialer, umgänglicher, aufgeschlossener zu werden. Doch half mir das an meinen Abgründen? Nützt ein fester Stand, wenn man springen muss?
Bezeichnenderweise stand ich in der unmittelbaren Konfrontation mit einer Notlage jedes Mal allein. Davor mögen mir Mütter den Rücken gestärkt, danach mögen sie mich getröstet haben, doch den Abgrund musste ich stets allein überwinden. So war es auch diesmal, als es darum ging, die Verbindung zum sicheren, langjährigen Arbeitsverhältnis, dem leer und mechanisch gewordenen, beherzt zu kappen. Kurz vorher, praktisch am Vorabend der Entscheidung, kam Unterstützung von unerwarteter Seite. Eine Helferin mit Herz, Sozialarbeiterin von Beruf, deutlich jünger als ich, aber die Gestalt gewordene Mütterlichkeit, flößte mir so viel Vertrauen ein, dass mir mein eigener Weg, den ich jenseits des Abgrunds gewahrte, nicht nur gangbar, sondern geradezu notwendig und glückverheißend erschien.
Dieses Vertrauen trug mich, einem Hochgefühl gleich, über den weit klaffenden Felsspalt hinweg, ohne ein Zaudern, ohne Zweifel.
Gibt es also doch etwas, was mich in Krisen begleitet, etwas Immaterielles, in kritischen Augenblicken Beistand Leistendes? In der vielleicht dramatischsten Stunde meines Lebens, einmal abgesehen von der Not des Säuglings, war ich tatsächlich allein, allein mit dem Meer, das mich an diesem Tag fast zu sich genommen hätte. Ich betrachte es noch heute als ein Rätsel des Schicksals, dass diese Begegnung mit dem Tod ausgerechnet an einem Karfreitag geschah, einem ungewöhnlich kühlen und windigen Tag an der Südküste Kretas im Jahr 2003. Meine Frau machte einen Ausflug, an dem ich nicht hatte teilnehmen wollen. Die Meeresbrandung gebärdete sich ungestüm und es war dieses Unbändige, Wilde und Stürmische, das in mir die Leidenschaft weckte, eine begeisterte, hingebungsvolle Hinwendung zur Weite des Meeres. Dass ein paar ältere Touristinnen im geschlossenen Anorak dem Strand entlang spazierten, wollte ich nicht als Warnung verstehen, als Appell an meine Vernunft. Ohne zu zögern, tauchte ich in die heranrollenden Wellen und schwamm hinaus.
Wie leicht diese Hingabe war, wie bereitwillig das Meer mich aufnahm! Nachdem ich den Widerstand der Brandung, die Wucht der schlagenden Wellen, überwunden hatte, umfing mich die Unendlichkeit versöhnlich, schien mich willkommen zu heißen. Hätte ich da nicht Verdacht schöpfen, ahnen müssen, dass ich besser an mich halten sollte, mich nicht hinaustreiben lassen durfte? Denn so einfach es war, mich dem Meer zu überlassen, so schwer wurde es, mich seinen Wogen wieder zu entziehen. Der Weg zurück, die Wende, wurde zur Prüfung. Die Unterströmung war stark und so sehr ich mich auch bemühte, ich schien der Küste nicht näherzukommen. Die hohen Wellen nahmen mir immer wieder die Sicht, meine Kräfte ließen nach, ich wurde mehrmals kopfüber untergedrückt und fühlte, wie sich mit jedem Schwall zahllose Kieselsteine über mich ergossen, Wasser drang mir in Nase und Mund, ich fürchtete, wie man so sagt, um mein Leben.
War ich allein? Irgendwann sah ich aufgeregte Menschen am Strand. Meine Notlage war bemerkt worden. Zwischen den wogenden Wassern hindurch erblickte ich einen Mann, ein zusammengerolltes Seil in Händen, hilflos hin und her gehen. Was hätte er machen sollen? Man konnte mir nicht helfen, ich musste mich selbst retten. Jetzt war nichts mehr mit Hingabe, kein „dein Wille geschehe“, kein surrender.
Mich jetzt dem Meer zu ergeben, mich ihm zu unterwerfen, darüber brauchte ich nicht nachzudenken, das spürte ich mit jeder Faser meines Seins, hieße zu sterben. Und ich wollte leben, da war kein Zweifel, auch keine Verzweiflung, sondern purer Lebenswille, der mich schließlich in die Lage versetzte, die Küste zu erreichen.
Mit schwärmerischer Leidenschaft war ich hineingegangen und als ich völlig erschöpft herauskam, war diese Schwärmerei, wie mir erst später klarwurde, für immer im Meer zurückgeblieben.
Das Meer, französisch la mer und nahezu gleichlautend la mère, auch dies also eine Mutter, eine Mehrerin des Lebens. Und jene Mutter Meer hat mich geprüft. Ich frage mich, ob ich bestanden habe. Ich brauchte Monate, um zu verstehen, dass der, der aus dem Wasser gekommen war, ein anderer war als der, der sich hineingestürzt hatte. Sollte das eine Art von Einweihung gewesen sein? Wurde das andere, angesichts des Todes erst erwachte Ich eingeweiht, wie ein von der großen Mutter Geborenes feierlich der Öffentlichkeit übergeben, aus der Taufe gehoben? Ich spüre hier, dass mit der Mutter etwas sehr Tiefes, Wesentliches verbunden ist. Sie hütet nicht nur des Daseins Rätsel, das Tor zum Leben. Sie hilft auch, dieses Leben zu läutern und verlangt von jedem ihrer Kinder Wahrhaftigkeit. Kein Mensch war da, als ich der Prüfung unterzogen wurde. Und doch war ich nicht allein. Die Mutter war da, die Große Mutter, keine persönliche und dennoch starke Gegenwart einer völlig unsentimentalen Liebe. Am Abend kehrten die Wellen als Schockwellen zurück, fuhren mir in die Glieder, und meine Frau hielt mich, der ich am ganzen Körper zitterte, mütterlich tröstend im Arm.
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