Zum Wort stehen
Auf dem Boden der Tatsachen. Wenn es doch nur so einfach wäre, denn dieser Boden ist heute so morastig, dass ein fester Stand kaum möglich ist. Tat-Sache, ein Wort wie ein Pflock, der in den sumpfigen Boden gerammt wird. Tatort, Tatzeit, Tathergang, Tatmotiv, Tatwaffe, eine ganze Reihe von Tatwörtern, die gründliche Aufklärung, ein Auf-den-Boden-gehen, Stabilität versprechen. Eine kriminalistische Suche nach Wahrheit. Der Kommissar wird es richten, bringt Licht in das Dunkel menschlicher Abgründe. Aufklärung als Fernsehserie, Feierabendvergnügen. Doch eine Tatsache ist etwas Getanes, Getätigtes, so wie ein Fakt etwas Fabriziertes, Gemachtes ist. Wer tut die Sache, wer fabriziert den Fakt? Homo Faber, der Werkzeug herstellende Mensch? Die Tatsache ist ganz konkret betrachtet ein Werkzeug, nichts Vorgefundenes, wie das Adjektiv „tatsächlich“ stolz behauptet, sondern im Grunde etwas Konstruiertes, Funktionalisiertes. Ein toter Ast liegt am Boden und ist so lange nichts anderes, bis einer ihn aufhebt und damit einem anderen den Schädel einschlägt. In der Tat wird er zur Tatwaffe. Und so wie der Homo Faber einst Bäume fällte, um auf sumpfigem Boden ganze Pfahlbautendörfer zu errichten, schleppen wir heute aus dem undurchdringlichen Wald der Welt unsere entasteten Fakten heran, um uns darauf ein Zuhause zu bauen. Und den anderen schlagen wir unsere Tatsachen um die Ohren.
Über dem martialischen, marsgleichen Rot am Horizont, dort wo es streifenweise in ein bläuliches Lila übergeht, glitzerte die Venus zur frühen Stunde, unberührt und rein, aber nahebei, ein Zeichen der Versöhnung, der Hoffnung. Später dann aber doch Herzschmerz nach einem Gespräch mit der Vorgesetzten, Abschiedsschmerz, wie ich gleich mutmaßte.
Eine Suspendierung, gar eine Kündigung war nicht länger unwahrscheinlich, nicht mehr bloß eine böse Befürchtung.
Gesprochen wurde viel, und der Versuch, die Welt des anderen zu verstehen, war erkennbar, doch begegneten wir uns? Oder war es mehr ein sich Zurufen über den Abgrund hinweg? Ich spürte, dass ein Schweigen nötig gewesen wäre, keine Sprachlosigkeit, kein Nicht-mehr-weiter-wissen, wie es sich tatsächlich einstellte, sondern ein gemeinsames Ausloten des Unsagbaren, des Unsäglichen.
Große Änderungen standen bevor und ich merkte, wie mich das mit Sorge erfüllte. Geteilte Freude ist doppelte Freude, sagt der gut gelaunte Volksmund, aber Angst? Wie ist es mit dieser kreatürlichsten aller Gemütserfahrungen? Wird sie ebenfalls mehr durchs Teilen? Und was hieße das dann? Ein Erstarren im Angesicht des Fremden, des Feindes? Kollektive Engstirnigkeit? Eine Wagenburg der Kaltherzigen? Flucht ins Private? Oder ein Wiedererkennen, ein sich selbst im anderen Erkennen, ja, vielleicht überhaupt erst ein Gewahrwerden der Angst, Worte finden für das bislang Unaussprechliche? Mag sein, dass in Momenten höchster Gefahr für Leib und Leben jeder an sich denkt oder besser gesagt, die Angst unser Denken übernimmt. Doch unterhalb der Todesangst und gerade, weil wir sie alle erfahren und aus dem unmittelbaren Erlebnis kennen, hilft uns da nicht auch die Angst, weich zu werden für den anderen, Mitgefühl zu haben? Könnten wir uns und einander eingestehen, dass sie da ist, wäre die Angst dann nicht ebenso verbindend wie die Freude, würde sie uns nicht sogar stärker einen? Vielleicht rührt daher die besondere Kameradschaft der Soldaten an der Front, ein Gefühl starker, elementarer Verbundenheit, wie sie in Friedenszeiten kaum zu erfahren ist. Ich weiß, wie sich das anfühlt, was du fühlst, ich kenne diese Verzweiflung und die verzweifelten Aggressionen als starke Regungen aus der Tiefe meines kreatürlichen Daseins.
In der Angst sind du und ich gleich.
Doch bin ich imstande, schweigend diese Tiefe auszuloten? Lässt sich die Angst anschauen, wenn nicht ruhig und mit klarem Blick, dann doch zaghaft, verstohlen, oder ist ihre Fratze so furchterregend, dass ich meine Augen nicht hinzuwenden vermag? Und was, wenn sie mir aus dem Spiegel entgegenblickt? Wäre es dann noch gerechtfertigt, dieses Gerede von ich und mein? Wenn Angst in Fleisch und Blut übergegangen, in dieser Kreatur inkarniert ist, in den Knochen steckt, ist sie dann nicht das Dasein schlechthin, die Natur des Menschen, Conditio humana? Doch ich empfinde sie nicht nur, ich erkenne auch, dass ich sie empfinde, dass sie da ist. Ein Hoffnungsschimmer ist dieses Ins-Auge-fassen. Ich begegne der Angst, trete ihr, und sei es auch zitternd, entgegen, in den Weg, setze mich mit ihr auseinander.
Was hilft? Mir begegnete in dieser Zeit immer wieder das Wort Mut, es tauchte auf wie ein Wort der Stunde, so als stünden wir alle gemeinsam, letztlich aber doch jeder für sich vor einer gewaltigen Mutprobe. Wir redeten einander aufmunternd zu, gleichwohl war nicht zu überhören, dass wir vor allem ängstlich bemüht waren, uns selbst Mut zu machen: Die irrsinnige Ausnahmesituation kann jetzt nicht mehr lange dauern. Die Wahrheit kommt ans Licht. Alles wird gut. Durchhalteparolen! Es war, wie mir schien, ein Mut der Verzweiflung. Ich wundere und frage mich, seit wann wir Mut brauchen, uns mit unserer Kreatürlichkeit zu konfrontieren. War das immer schon so? Es bedarf der Ehrlichkeit, ja, und eine gewisse Distanz zur eigenen Person, sonst kann man sich nicht mit ihr aus-einander-setzen, auch das Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen, aber Mut? Üblicherweise braucht man Mut doch zur Überwindung einer Angst. Sollte aber die Begegnung mit uns selbst nicht wie ein Heimspiel sein, wir uns dabei heimisch, gestärkt und sicher fühlen?
Offenbar tun wir es nicht, haben vielmehr Angst vor der Konfrontation mit uns selbst. Wir fürchten uns vor dem Bösen in der Welt, stärker aber noch vor jenem in unserer verworrenen Psyche. Wenn einer Angst vor sich selbst hat, vor den Abgründen, die mit seiner Kreatur gegeben sind, dann flüchtet er, verleugnet das Dunkel, bekämpft die Wahrheit, ermahnt und ermannt sich, reißt sich zusammen, reißt die Macht über seinen Alltag an sich. Dann hat das Ego seinen großen Auftritt. Es plustert sich auf und verspricht Schutz und Stärke. Ich spüre und kann jetzt auch in meiner Umgebung täglich beobachten, dass wir zu vielen Taten bereit sind, um ja nicht in den Spiegel schauen zu müssen.
Sie treibt um, die Angst, treibt unentwegt an, ruhelos umherzustreifen, sich endlos im Kreis zu bewegen wie die armen Verdammten in Dantes Hölle. Ist das die Krise, gefangen zu sein im Zirkelschluss, im Bannkreis der Angst? Die rastlose Suche hat sich totgelaufen. Die Wege erwiesen sich als Irrwege. Wie komme ich raus, fragt die Kreatur, und merkt nicht, tragischerweise muss man sagen, dass die Frage falsch gestellt ist. Sie ist schon draußen, denn der Irrkreis dehnt sich endlos aus, ist Erdkreis, alles umfassend, Zeit und Raum. Die Jagd nach mehr Besitz, mehr Erfolg, mehr Fitness, Erholung, Wissen, Kontrolle ist ein endloses Kreisen. Es gibt kein rettendes Hinaus, kein Dahin oder Dorthin, wo man nicht schon gewesen wäre. Ich erkenne, dass ich mich nur mehr verlieren würde und ziehe mich zurück, aber nicht, indem ich mich verschanze, mich verschließe.
Ich besinne mich, werde dessen inne, was unbewegt ist und finde – zur Mitte. Dort ist die Stille, in dem das Wort vernommen werden kann.
Was sonst sollte mich aufrichten, wenn nicht das Wort, das seit je das Verbindende zwischen Innen und Außen ist? Aber stehe ich auch zu diesem Wort, nicht starr und besserwisserisch, sondern lauschend, lebendig, liebend? Immerhin ist es möglich, sehr gut möglich sogar, dass ich hinter ihm zurückbleibe, mich als einer erweise, der ihm nicht gewachsen ist. Es prüft mich eben nicht nur die Tiefe, sondern auch das Wort. Ich ahne, dass ich der Angst erst standhalten kann, wenn ich zu meinem Wort stehe. Es will gelebt oder, wie der Evangelist sagt, Fleisch werden und unter uns wohnen. Hier geht es nicht um ein Versprechen, ein Ehrenwort, das ich halten soll. Die Rede ist vielmehr von einem Sinn, der meinem Dasein zugrunde liegt und durch mich hindurch zum Ausdruck drängt.
Vor zwei, drei Jahren schrieb ich einen zweiteiligen Roman, in dem ich verschiedene Ausblicke in die Zukunft als utopische Visionen skizzierte. Aus einer Eingebung heraus veröffentlichte ich die beiden Bände unter einem Pseudonym, so als ahnte ich bereits, dass der Sinn des Beschriebenen mir dereinst zur Aufgabe werden, mich beim Wort nehmen würde. Aber der Trick mit dem Decknamen funktionierte nicht. Der Sinn des in Bildern Beschworenen holte mich ein und heute sehe ich mich dazu angehalten, ihm ganz konkret, ganz anschaulich, ganz unmittelbar Ausdruck zu verleihen – und sei es, indem ich nur mehr barfuß durchs Leben gehe.
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