Licht aus dem Abgrund

Was uns bleibt

Ein Mystiker ist kein Weltverneiner, kein Eremit, der sich in seine Klause zurückzieht, von allem Erscheinenden abwendet und für die Probleme der Gesellschaft die Augen verschließt.

Er lebt in beiden Welten, der äußeren und der inneren, und schätzt nichts gering. So ergeht es auch mir, der ich so unverhofft über die Schwelle des inneren Einweihungstempels gelangt bin. Während der flammende Geist und Hüter dieser Schwelle mir die Kohlenschwärze der Lüge im Lichte der Wahrheit offenbart, erwacht in mir eine neue Zuneigung zur Welt, in der ich lebe. Und ich sehe die Herausforderung, die darin besteht, wirklich in dieser Welt zu sein, ohne sie fortlaufend zu fliehen, sich in den Rausch des Erfolgs, der Leistung, des Kampfes oder der Ablenkung zu stürzen.

Ernüchtert und desillusioniert blicke ich auf mein Leben und frage mich, was noch zählt. Worauf kommt es an, jetzt, da die alten Fundamente in Schutt und Asche gelegt, die Gewissheiten von einst pulverisiert sind. Ich sehe die verblendende Macht der Lüge, die Verkehrung von Recht in Unrecht, der Kollaps lange tradierter Systeme. Ich darf die Augen nicht davor verschließen und kann es auch gar nicht. Im Gegenteil, mein Weg nach innen verstärkt mein Mitempfinden und Mitfühlen mit den Geschicken dieser Welt. Dort zu stehen, ohne mich in Verzweiflung oder Empörung zu flüchten, darum geht es.

Aber worauf kann ich überhaupt noch stehen? Was gibt mir in diesen Zeiten der Enttäuschung und Entfremdung Festigkeit? Besitz etwa, materielle Güter, das gute alte Eigenheim, Wertpapiere, Edelmetalle? Ein Blick in die Geschichte, ein Hineinhorchen in die eigene Biografie verrät: Nichts vergänglicher als das! Wie gewonnen, so zerronnen. Schon der arme Hiob musste das erfahren und seitdem viele Opfer kleinerer oder größerer Katastrophen. Das Fahrrad, das mir in Amsterdam gestohlen wurde, ein neues Rad, Diebstahl vorbeugend, denn Fahrraddiebstahl war damals eine Plage in der holländischen Stadt, mit vielen Farbklecksen auf alt getrimmt. Einfach weg! Vergebliche Flecktarnung. Sogar das Fahrradschloss, eine dicke, sicher geglaubte Kette, war spurlos verschwunden. Fassungslos stand ich in der Dunkelheit und starrte die leere Hausfassade im Licht der Straßenlaternen an. Wie lange es dauerte, bis ich den Verlust akzeptieren konnte! Und viele Jahre später der Rucksack, den ich am Ende eines Schülerausflugs, die Hände plötzlich voll mit gebastelten Sachen, Gipsgüssen aus einem Workshop, im überfüllten Zug stehen ließ, was ich erst unten auf dem Parkplatz hinter dem Bahnhof bemerkte. Zu spät! Auch er spurlos verschwunden und mit ihm Jacke, Schüsselbund und Reservebrille, eine blaue Prada, was wieder einmal bestätigt, dass eitel zu Recht auch vergeblich heißt. Oder die große Geldsumme, die an betrügerische Anleger unwiederbringlich verloren ging. Alles banal und doch, wie schwer es fiel, das Entwendete loszulassen!

Im Lichte dieser Erfahrungen, im Lichte der Zeit sehe ich mich genötigt, zu fragen, ob ich überhaupt besitze, über meinen von mir sogenannten Besitz herrsche. Habe ich mir hier nicht immer schon in die Tasche gelogen, indem ich Objekt mit Subjekt vertauschte? Wäre es nicht angemessener, ehrlicher vor allem, zu sagen, ich werde von meinen Gütern besessen? Gut, ich habe sie, aber ganz sicher haben sie auch mich. Und sie bedrängen mich, verfügen über meine Lebenszeit, halten mich fortwährend im Modus der Sorge. Ich muss vorsorgen, besorgen, versorgen, entsorgen. Immer droht der Verlust. Mein Haus? Der Blitz könnte einschlagen, ein Orkan der Stärke Hiob das Dach davonreißen, eine plötzliche Überschwemmung meinen Hausrat zerstören. Mein Stromgenerator? Wie lange wird der Diesel reichen und wo soll ich überhaupt den Treibstoff brandsicher lagern? Meine Essensvorräte? Ewig haltbar sind sie nicht. Und was mache ich, wenn Hungernde an meiner Tür erscheinen, bittend, bettelnd, fordernd, drohend?

Spätestens dann, wenn ich anfange, all das, was ich meinen Besitz nenne, zu verteidigen, notfalls mit Gewalt, zeigt sich unmissverständlich, wer Herr und wer Knecht ist.

Nun gut, kein Besitz ist sicher. Ich muss mich vor allen Eventualitäten vorsehen und die Zahl der möglichen Zwischenfälle ist Legion. Im Modus der Sorge kann ich nicht vertrauen, unmöglich. Was könnte stattdessen zählen, jetzt, in diesen unsicheren Zeiten des Niedergangs? Körperliche Unversehrtheit, Gesundheit, Fitness? Ohne Gesundheit, so heißt es doch, sei alles nichts. Das vielgepriesene höchste Gut ist tatsächlich hoch im Kurs. In der Welt des nur dieses, in welcher mein Ich-Bewusstsein, auf das ich mir so viel zugutehalte, bloß als ein zufälliges Nebenprodukt des Kreatürlichen, eine Täuschung der Körperchemie gilt, wird Gesundheit allerdings zum Glücksspiel. Ich habe ja kaum Einfluss auf die Geschicke meines Körpers. Das fängt schon bei meiner genetischen Ausstattung an, die ich den Gesetzen der Vererbungslehre verdanke und über die ich nicht verfüge. Meine Konstitution ist offenbar von Anfang an festgelegt und ich scheine nichts dagegen tun zu können. Vielleicht habe ich ein schwaches Herz, vielleicht sind Bandscheibenvorfälle bei mir quasi vorprogrammiert oder Zystennieren oder Nervenleiden. Lebenslange Gesundheit und Unversehrtheit, so das materialistische Credo, seien extrem unwahrscheinlich und nur unter besonders günstigen Umständen zu erwarten. Wieder gibt es keine Gewissheit, kein beruhigendes Gefühl, sondern noch mehr Sorge. Vorsorgen ist auch hier das oberste Prinzip. Damit wird Gesundheit zum Privileg der Reichen, jener also, die sich gesunde Lebensmittel, gesunde Luft, aufwendig gefiltertes Trinkwasser, gesunde Wohnräume, die besten Ärzte, ausgiebige Kuren und teure Präparate leisten können. Doch die Sorge bleibt und sie wächst mit den Jahren.

Zählt also am Ende doch nur das Wissen, dieser geistige Schatz des mündigen Bürgers? Taugt es als Basis für ein waches, sinnerfülltes Dasein? Finde ich in ihm den Kompass, der mir den sicheren Kurs durch stürmische Zeiten zeigt? Es heißt doch, wir leben in einer Wissensgesellschaft. Wissen, so hört man, ist Macht. Deshalb gilt auch Bildung im Sinne der Wissensvermittlung allgemein als entscheidend für unsere Zukunft. Um die aufgeworfenen Fragen beantworten zu können, muss ich differenzieren und klären, was ich meine, wenn ich von Wissen spreche.

Im Berufsleben ist technisches oder funktionelles Wissen gefragt. Da geht es um hochspezialisierte Fachkenntnisse, mit denen etwa Programmierer programmieren, Operateure operieren und Finanzjongleure kassieren. Ebenso brauchen Pflegekräfte oder Angestellte bei einem Wertstoffhof spezifisches Fachwissen. Zum Geldverdienen ist solches unumgänglich. Aber es gibt einen feinen Unterschied zwischen Sinn und Zweck. Fachkenntnisse sind eindeutig zweckmäßig, garantieren für sich aber kein sinnvolles Leben. Das ist offensichtlich. Ein studierter Jurist weiß zwar, wie er eine Klageschrift formulieren muss, aber nicht, wozu er überhaupt da ist.

Die Frage nach dem Sinn, ist immer auch die Frage nach mir selbst. Was weiß ich von mir, von dem, was mich äußerlich steuert oder innerlich bewegt? Wie verstehe ich mich selbst? Wie weit bin ich mir meiner selbst bewusst? Damit betreten wir den Bereich des Metaphysischen, des kritischen Denkens, das alles Augenscheinliche hinterfragt. Historisch gesehen verbinden wir das mit der Epoche der Aufklärung.

Könnte aufklärerisches Denken ein Wissen um die Lüge generieren, um die Mittel der Macht, die Schwächen der Kreatur, die Tücken der Selbsttäuschung? Wenn Aufklärung historische, politische, philosophische Zusammenhänge beleuchten würde, so dass die gewonnenen Einsichten für meine persönliche Lebensführung bedeutsam wären, könnte es mir tatsächlich die nötige Orientierung und Standfestigkeit bieten.

Im Idealfall geht es also um ein Wissen, das mich verändert, meine Natur veredelt. Das klingt nach Romantik. Aufklärung ist eine schöne Sache, ein leuchtendes Erbe, eine Sternstunde unserer Geschichte, auf die wir uns gern beziehen. Wer aufgeklärt ist, lässt sich nicht mehr leicht hinters Licht führen. Doch wenn ich mich umschaue, wenn ich meine eigenen Wege betrachte, ist von einer solchen Aufklärung wenig zu sehen.

Das kritische, auch selbstkritische Denken ist Chance und Verpflichtung zugleich. Von alleine geschieht es nicht. Es erfordert Zeit und Kraft und die brauchen wir heute vor allem, um unsere Existenz zu sichern. Zum Geldverdienen ist kritisches Denken offensichtlich unnütz. Schüler bekommen damit keine besseren Zensuren, Studenten nicht schneller die erforderlichen Scheine und die den Gedanken der Aufklärung verpflichteten Berufstätigen sehen ihre Chancen auf Beförderung eher geschmälert. Denn der aufgeklärte Mensch ist ein unbequemer Denker, der nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen und die menschengemachten Verhältnisse in Frage stellt. Wieso sollte man sich also mühen, das Wissen und die gedankliche Disziplin der Aufklärung zu erwerben? Die Welt der Lüge rät doch etwas anderes: Willst du vorankommen, Karriere machen, Prestiges erlangen, auf der sicheren Seite sein, dann frag nicht so viel, schau nicht so genau hin, füge dich!

Ich konnte und wollte diesem Rat nicht befolgen. Ob das eine Stärke oder doch eher eine Schwäche offenbarte, lass ich vorerst offen. Jedenfalls geriet ich mit meiner Kritik in die Position des Widerspruchs, wurde in einen regelrechten Informationskrieg verwickelt. Das verstärkte meine Tendenz zu Rechthaberei mit allem, was dazu gehört, messerscharfen Analysen, vorgetragen in wortgewaltigen Plädoyers mit hieb- und stichfesten Argumenten. Ich hielt mich für aufgeklärt und war stolz darauf, nicht zu denen zu gehören, die offensichtlich uninformiert und, wie ich unterstellte, zu feige waren, sich mit der Wahrheit zu konfrontieren.

Das Unvermeidliche geschah: In der Hitze des Meinungsstreits wuchs das Ego, dieser innere Materialist. Es lebt von der Gegnerschaft, in ihr sieht es seine Daseinsberechtigung. Ich gegen die anderen, das ist seine Lieblingsparole.

Je mehr ich mich gesellschaftlich von Zwang und Irreführung drangsaliert sah, umso stärker identifizierte ich mich mit dem, was ich für Recht und richtig hielt. Das war nicht so sehr ein aus Selbsterforschung gewonnenes Wissen. Vielmehr ging es um Informationen, die ich draußen in der Welt der Nachrichten aus verschiedenen Quellen sammelte. Damit steuerte ich direkt in Konflikte, mehr noch, ich provozierte sie. Die Informationen machten mich parteiisch. Diese Art von Wissen konnte mich nicht aus der Dualität von Richtig und Falsch befreien.

Wenn mir in diesen Zeiten der großen Enttäuschung, des jähen Weltanschauungsuntergangs, weder Besitz noch Gesundheit noch Wissen einen festen Stand, Gelassenheit und Geborgenheit gewährleisten, was bleibt mir dann noch? Ich spüre, dass es etwas sein muss, dass jenseits von Haben und Horten, von Reden und Rechnen, Tricksen und Täuschen existiert. Eine Art von innerer Gestimmtheit, ein Grundton, der immer da war, ist und sein wird – der bangen Kreatürlichkeit zum Trotz. Es scheint nicht viel zu sein und so frage ich mich, ob das reicht, ob dieser elementare Klang unterhalb der schrillen Obertöne des Alltags genügt, dem Ungeheuren, dem Blick in den schwindelerregenden Abgrund standzuhalten. Reicht dieses Gefühl der inneren Stimmigkeit, um auszuschließen, dass ich einer romantischen Schwärmerei oder gar einem trotzigen So-bin-ich-nun-einmal aufsitze? Ich spüre, dass es unterhalb der Gefühle, jenseits von ihrem Anlass und Ausdruck, noch einer Klarheit und Kraft, einer Aufgerichtetheit bedarf. Welches Wort setze ich dafür dem Reigen ruheloser Verben entgegen, ein Wort, das nirgendwo hinstrebt, hineilt oder flüchtet? Präsenz? Wesen? Authentizität? Oder vielleicht doch eher das kompromisslose, einfache und in seiner Einfachheit so schwerwiegende Sein?

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