Licht aus dem Abgrund

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist Wahn

Du könntest krank werden, sagt man mir, schwer krank. Du könntest sterben, vorzeitig dein Leben verlieren. Die Mahnung offenbart die Gesinnung der Mahner, denn sie impliziert, dass ich den Tod abwenden, hinausschieben, vielleicht sogar überlisten könnte, wenn, ja wenn ich mich nur vorsähe und meinen Körper ordentlich pflegen, ernähren und schützen würde. Und so ist die Erhaltung des Lebens den ständig Furchtsamen zu einer technischen Herausforderung geworden, eine Frage der Vorsorge, des Trainings, der Risikovermeidung und Altersverhinderung. Ihre vielleicht gut gemeinte Warnung sagt vor allem aber dieses aus: Der Tod kann dich jederzeit und völlig willkürlich ereilen, er fällt dir genauso zu, wie dir ein vom Wind zufällig vom Balkon heruntergestoßener Blumentopf auf den Kopf fällt.

Ist das so? Ich frage mich, wer entscheidet über Leben oder Tod. Ist es tatsächlich der Zufall? Man stellt sich das so vor. Ein Kind führt seinen Hund Gassi. Das Tier sieht auf der anderen Straßenseite einen Artgenossen, reißt sich plötzlich los und rennt auf die Straße. Eine Autofahrerin, die kurz abgelenkt war, erschreckt nun, weicht aus, kommt ins Schleudern, gerät auf die Gegenfahrbahn und stößt frontal mit mir und meinem Fahrrad zusammen. Ich fliege in hohem Bogen auf den Asphalt und breche mir beim Aufprall das Genick. Dumm gelaufen. Am Ende bleibt nur noch die Schuld- und Haftungsfrage. Doch was, wenn der Unfall kein Zufall gewesen wäre, wenn mich etwas dazu bewogen hätte, mit meinem Fahrrad genau in diesem Moment an diesem Ort zu sein, wer oder was entschiede dann über meinen Tod? Das Schicksal? Und was hieße das dann? Wäre mein Ende vielleicht schon in meinen Genen angelegt? Oder waltete eine höhere Macht, das Universum, Gott, und löschte aus unerfindlichen Gründen genau zu dieser Stunde mein Lebenslicht?

Mein Gefühl sagt mir, dass der Tod zu mir gehört, wie meine Geburt und mein Weg zu mir gehören. Er ist mein, ein besonders intimer Freund und treuer Wegbegleiter.

Der Tod, wie er sich mir zeigt, ist kein Unfall, kein Missgeschick oder vermeidbares Versehen und erst recht kein gemeiner Wegelagerer, der heimtückisch über mich herfällt. Wenn er eintritt, freundschaftlich seine Hand auf meine Schulter legt, dann deshalb, weil es Zeit ist. Wer entscheidet das? Wer bestimmt den Zeitpunkt? Er liegt im Verborgenen und bleibt für mich in der Welt des nur dieses ein Rätsel. Aber ich spüre deutlich, dass hier, wo alles in Erscheinung tritt, nichts zu bestimmen vermag, wann mein Tod mich berührt.

Weil er nicht von dieser Welt ist, nicht dem Gesetz von Ursache und Wirkung gehorcht, auch niemand „Schuld“ trägt, wenn ich zu Tode komme, entzieht sich der Tod meiner Kontrolle. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbar, auch wenn wir gerne so tun, als könnten wir unsere Lebenserwartung errechnen. Zu meinen, dass die abstrakten Mittelwerte einer Statistik eine Aussage über mein konkretes Leben machen, ist natürlich eine Täuschung. Ich lese, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer in Deutschland im Jahre 2021 bei 78,6 Jahren lag. Soll ich jetzt beruhigt sein, das Thema weit von mir schieben, weil es doch noch eine ganze Weile dauern wird, bis ich dorthin gelangt sein werde? Innerlich weiß ich wohl, dass solche Zahlen nichts über mich, über mein Leben und Sterben aussagen. Aber auch am Lauf der Gestirne lässt sich mein Tod nicht ablesen. Mein „persönliches“ Horoskop kann darüber keine Auskunft geben und ein Astrologe, der es meint zu können und mir meinen Todeszeitpunkt errechnet, erteilt mir keinen Rat, sondern übt Verrat an der Freiheit des Geistes und liefert mich an eine Zwangsvorstellung aus.

Mögen jene, die offenbar ohne Hingabe sind, von der technischen Machbarkeit eines zwei- oder dreihundertjährigen Lebens träumen. Ich sehe darin lediglich den verzweifelten Versuch, dieses Leben festzuhalten, die halsstarrige Weigerung, ein Leben jenseits davon auch nur in Erwägung zu ziehen.

Der technische Sieg über den Tod kann nur dazu führen, dass auch das Leben und die Liebe schwinden.

Prinzipiell endlos funktionieren nur Maschinen. Blind für die Liebe, blind auch für das Mysterium des Lebens, treiben die materialistischen Macher die technische Perfektionierung der Natur bis zur Überwindung des Menschen und merken offenbar nicht, dass dieser „Transhumanismus“ auch das Ende der Menschlichkeit heißen wird. Dabei wissen wir eigentlich ganz genau, dass wir den Tod nicht im Griff haben, nicht über ihn verfügen oder ihn irgendwie „machen“ können. Sollte ich es dennoch versuchen, ihn zwingen zu kommen oder fernzubleiben, würde ich ihn – und es schaudert mich innerlich bei der Vorstellung – vergewaltigen und könnte nur im Selbstmord oder einem maschinellen Dauerkoma enden.

Ich lebe in einer Gesellschaft, bin Teil einer Arbeitswelt, in der mir viel Selbstkontrolle abverlangt wird: pünktlich aufstehen, jeden Tag zur Arbeit erscheinen, Aufgaben erledigen, Termine einhalten. Der Tod aber rät mir, das Unkontrollierbare bei mir zuzulassen, Raum zu lassen für das Unberechenbare, das Unvorhersehbare. Ausgerechnet er! Sein Rat ist ein weiteres Rätsel, denn er legt mir in Wahrheit nahe, dem Leben zu vertrauen.

Immer, wenn mich der Zwang zur Kontrolle antreibt, fehlt mir dieses Vertrauen. Stattdessen rechne ich damit, muss damit rechnen, dass die große Gesellschaftsmaschine, von der ich ein kontrolliertes und sich selbst kontrollierendes Teilchen bin, richtig funktioniert. Ich muss ganz auf die Verlässlichkeit dieses Systems setzen. Das fängt schon beim Einkaufen an. Wo „Bio“ draufsteht, soll auch „Bio“ drin sein, und ich verlasse mich darauf, dass Bio auf jeden Fall besser ist als nicht-Bio. Genauso ist es mit Verabredungen. Wenn Termine nicht eingehalten werden, geraten meine Pläne durcheinander und ich erlebe diesen Kontrollverlust als Chaos und Stress. Bei der Lektüre meiner Qualitätszeitung muss ich davon ausgehen, dass die Journalisten pflichtbewusst arbeiten und gründlich recherchieren. Wenn ein wissenschaftlicher Experte zur Bestzeit im Fernsehen seinen Ausschnitt der Wirklichkeit erklärt, rechne ich selbstverständlich damit, dass das, was er sagt, stimmt.

Vertrauen aber rechnet nicht. Vertrauen weiß, dass Kontrolle eine Illusion ist, ein Betonbett, eine Flussbegradigung mit Staustufen und Staubecken. Nirgendwo tritt das Leben über die Ufer, nirgendwo mäandert es gemächlich vor sich hin, nirgendwo gibt es sonnige Tümpel, in denen Fische laichen, keine Furten mit spielenden Kindern, die Auen unfruchtbar und öde. Gradlinig verläuft meine kontrollierte Lebenszeit in der erstarrten Linientreue ihres Bettes. Ungehindert und unaufhaltsam schießt mein Bötchen dahin. Ich schaue weder nach links noch nach rechts, sondern liege bäuchlings am Bug und starre sterbensängstlich, zielfürchtend nach vorne.

Vertrauen weiß um den Ozean, die unermessliche Heimat, die immer da ist, die jeden Lebenslauf empfängt, aufnimmt wie einen verlorenen Sohn.

Vergessen sind alle Windungen, alle Umwege, das Seichte, das Reißende, die Stürze, nein, nicht vergessen, heimgeholt, aufgehoben im Wesen des Wassers, im Sein des Unfassbaren. Ist also Vertrauen Hingabe? Ich überlasse mein Ich-Schiffchen willig der Strömung des Flusses, lehne mich müßig auf den Deckplanken zurück und schaue selig, versonnen in den Himmel. Reicht das? Ist es das, was der Himmel von mir erwartet?

Die Erfahrung sagt Nein, denn bliebe ich auf Dauer untätig, ganz dem Stromgotte hingegeben, würde ich mit Sicherheit irgendwann festfahren, an einem Felsen leckschlagen oder kentern und untergehen. Ich muss lenken, rudern, gegensteuern, zögern, zweifeln, Entscheidungen treffen, kämpfen, fluchen, Fehler machen – in der Gewissheit, dass all das dazugehört, eine Einheit bildet, dass ich und mein Boot und das Wasser eins sind, dass etwas anderes durch mich hindurch tut. Der Flussgott? Das Wesen des Wassers? Mein innerer Führer? Ja, namentlich dieser, ein Lotse aus dem Verborgenen. Ihm zu vertrauen ist mir also tätige Hingabe, ständige Überwindung des Zwanges. Sie ist nicht ganz, wenn ich nicht auch meine Angst hingebe.

Ist das das Ungeheure, der Auftakt einer weltweiten Einweihung, dieser Verlust der Kontrollillusion, die im Wortsinn enttäuschende Entdeckung, dass alles Planen, Berechnen und Konstruieren am Leben vorbeigeht, es verfehlt?

Ich habe jahrzehntelang zuverlässig meine Arbeit getan, Renommee aufgebaut, ein bescheidenes Vermögen gebildet, Vorgedachtes nachgeplappert, gescheit diskutiert. Jetzt erkenne ich: Sand, nichts als Sand, untauglich als Fundament eines sinnerfüllten Lebens! Es rinnt mir davon. All die Jahre habe ich mich der Welt des Planbaren, Vorhersagbaren und Konstruierbaren angepasst, ja angedient. Ich glaubte an ihre Werte. Reibungslos zu funktionieren, ohne anzuecken, war mein Ideal, ein Maschinenideal, wie ich heute verstehe.

Ich lernte, ein funktionstüchtiger Verbraucher zu sein, ein Konsument von Waren, Sachen, Pauschalreisen und All-Inclusive-Meinungen. Selbstverständlich durfte ich auswählen, mich für eines der zahlreichen Produkte aus der Vielfalt eines unübersehbar großen Sortiments entscheiden. Und wie sehr mich diese Produktpalette berauschte! Wie sehr mir die Angebote den Kopf verdrehten! Ich konnte mir gar ein Profil zulegen, mich von der Masse anderer Konsumenten unterscheiden, meine sogenannte Individualität herausstreichen. Ich esse und trinke dieses, trage jenes, habe diesen Stil, fliege dorthin in den Urlaub, lese die Zeitung soundso und habe die Meinungen X, Y, Z. Ohne es zu bemerken, wurde ich damit selbst immer berechenbarer, eine zuverlässig konstante Größe, die problemlos in die ökonomische und politische Maschinerie eingepasst werden konnte. Nur das Konsumentendasein selbst in Frage zu stellen, war nicht vorgesehen. Ein Nichtkonsument wäre ja auch unkontrollierbar gewesen.

Der Tod prüft mein Vertrauen, meinen Glauben, meine Treue zu dem, was bei mir im Verborgenen lebt. Man könnte es auch Gottvertrauen nennen. Angesichts des Todes muss es sich bewähren. Da erst zeigt sich, ob es real ist oder bloß ein wohlfeiles Lippenbekenntnis.

Der Tod ist ein großer Offenbarer und zugleich ein Lehrmeister der Liebe.

Vom heiligen Franziskus wird überliefert, dass er Leprakranke umarmte. Egal, ob das historisch gesehen zutrifft oder nicht, es ist ein starkes Sinnbild für den Glauben, dass nicht der Zufall, sondern Gott über den Tod entscheidet. Kann ich es glauben? Wenn ich zwar gern von Seele und Geist, von Seelenplan und innerer Führung spreche, mir dann aber in die Hose mache, wenn ein angeblich gefährlicher Krankheitserreger grassiert, und mich kaum noch mit anderen Menschen in einem Raum aufzuhalten traue, geschweige denn, sie zu berühren, liebe ich noch zu wenig, um glauben zu können. Stattdessen mache ich den Zufall zu meinem Götzen, gehe vor der Macht der Materie in die Knie und traue meiner Seele nicht über den Weg. Dem Tod bleibt nichts verborgen.

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