Licht aus dem Abgrund

Jetzt prüft uns die Tiefe

Ich blickte vom Schreibtisch auf in den Garten, die Sonne schien, es war frisch, Ende Oktober. Vereinzelt fielen Blätter vom Haselstrauch. Together we stand, divided we fall. Schon wieder Pink Floyd, dachte ich und fragte mich sogleich: Wie wird ein Bild zum Sinnbild? Sind wir sinngebende Wesen, die deutend die Welt aus der Sinnlosigkeit erlösen? Und woher käme dann die Deutung? Ist Sinn in der Welt außerhalb von mir? Wir fallen doch genauso vereinzelt, losgelöst aus einem Kollektiv, das nicht länger Geborgenheit bietet. Der berauschende Glanz des Sommers ist dem nüchternen Niedergang des Herbstes gewichen. Der Wind reißt uns aus der zerfallenden Baumkrone, trennt uns aus der sich lichtenden Gemeinschaft der Blattgesellen und wirft uns auf uns selbst zurück. Auch das ein Sinnbild, heißt doch das hebräische Wort Ruach nicht nur Wind, sondern ebenso Geist oder Verstand. Ich denke, also falle ich.

Auch ich fiel, als das Ungeheure geschah, und ich fiel auf das, was man den Boden der Tatsachen nennt. Hart traf ich auf, als ich mich wegen meiner Gedanken unerwartet der Diffamierung und Ächtung ausgesetzt sah. Mein guter Ruf eines pflichtbewussten Kollegen wich in Windeseile dem Stigma eines unsolidarischen, rücksichtslosen Egoisten. Unausgesprochen, wie in geheimer Absprache, wurde ich aus einem Wir ausgeschlossen, in dem ich mir lange Zeit wichtig und prägend vorgekommen war. Als dann aber die Tatsachen ebenso fielen, in der Welt nichts mehr gewiss und die Lüge allgegenwärtig erschien, blickte ich, wie ich schon erwähnte, in einen dunklen Abgrund. Die Erde tat sich auf und mein Auge verlor sich in einer bodenlosen Tiefe.

Bereits einmal zuvor, wie ein Vorgreifen, ein Vorfallen auf das, was kommen würde, fiel mein Blick in den Abgrund. Es war Anfang August 2019 im Altaigebirge unweit der kasachischen Grenze. Wir, eine kleine Gruppe Sinnsuchender, waren zum Oberlauf eines Gebirgsbaches gewandert. Das Wasser stürzte lebhaft plätschernd den langen, steilen Hang hinab. Als ich näher heran ging, erkannte ich weit unten einen See, der vollkommen still dalag, eisgrau trotz des Sommers. Immer wieder folgte mein Blick dem Verlauf des Wassers von seinem Ursprung weiter oben, über das felsige, unregelmäßige Bett bis hinunter zum schweigend wartenden See. Ich spürte diese Abwärtsbewegung wie einen Sog in die Tiefe, dem ich mich nicht entziehen konnte. Schon da kündigte sie sich an, die Tiefe.

In unmittelbarer Nähe stand eine alte sibirische Zirbelkiefer, ein Baum, den die Einheimischen кедр (Kedar), die Botaniker Pinus sibirica nennen. Erdreich war kaum vorhanden, sie schien direkt aus dem Felsen zu wachsen. Unser russischer Führer, ein bärtiger Schamane und Ex-Soldat, sah darin ein Zeichen für die besonderen Kräfte des Ortes. Mag sein, dachte ich, war dann aber doch überrascht, wie stark die Berührung mich erschütterte.

Rücklings angelehnt am Baumstamm zitterte ich unwillkürlich am ganzen Körper. Es schüttelte mich. Aber was? Dieser uralte Baum, der, so hieß es, mindestens 800 Jahre alt sei? Die Kraft des Ortes, der Genius Loci? Oder war auch das nur die Vorankündigung?

Schließlich setzte ich mich auf einen dicken Ausläufer des Stammes, Anfang einer gewaltigen Wurzel. Dort kauerte ich mit hochgezogenen Knien und hängendem Kopf.

Kaum hatte ich die Augen geschlossen, tat sich direkt vor mir die Erde auf. Zunächst erblickte ich nur ein Loch im Boden, wie der Eingang zu einem Dachs- oder Kaninchenbau. Doch rasch weitete sich die Öffnung und bald stürzte mein Blick einen Schacht hinab, tiefer und tiefer. Obwohl diese … soll ich sagen Schau? Vision oder Einsicht? … wie eine schwindelerregende Höllenfahrt anmutete, erklärte das doch nicht meine heftige Gefühlswallung. Mir liefen die Tränen und ich hätte damals nicht sagen können, weshalb. Gebannt sah ich, wie sich die Grube immer weiter vertiefte. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Dann endlich, weit, weit unten in der Tiefe wurde es heller und ich gewahrte etwas, was wie ein Wolkenhimmel aussah. Die Wolkendecke riss auf und es bildete sich ein lichteres Fenster, Licht aus dem Abgrund. Erst danach konnte ich mich vom Geschauten lösen.

Am nächsten Morgen, nach einer Übernachtung im Freien, erzählte ich dem Schamanen von meinem Erlebnis. Er beglückwünschte mich und meinte, ich hätte das Portal gesehen, das dort bei der Zirbelkiefer existiere, einen Durchgang also in eine andere Dimension. Das klang aufregend, aber ich war mir nicht sicher, ob es auch stimmte. Erst ein halbes Jahr später, längst wieder zu Hause und erholt von den Strapazen dieser Reise, ahnte ich, was ich gesehen hatte. Denn nun stürzte ich und mit mir, wie es schien, die ganze Welt in eine Krise und ein vage vorgeahnter Abgrund tat sich auf.

Die Tiefe, das weiß ich seither, prüft uns. Wer wagt es, hineinzuschauen oder sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen? Wer hält dem Grauen stand, das ihm aus dem Abgrund entgegenblickt? Wer steht, ohne zu wanken und vermag noch in tiefster Tiefe Licht zu gewahren?

Ich wurde erneut an den Abgrund geführt, ob vom Schicksal, vom Zufall, von geistigen Mächten, – wer kann das schon sagen. Ich taumelte, spürte den Sog der Tiefe und drohte bereits in Trübsinn zu versinken. Letztlich, so verstand ich später, kann die Prüfung nur so oder so ausgehen. Entweder du verlierst dich in Gefühlen der Beklemmung und Trübsal oder du findest zu Tiefsinn und tiefgründigen Gedanken – und richtest dich darin auf. Nur eins ist mir nicht möglich, nämlich die Existenz des Abgrundes schlichtweg zu leugnen. Das Zurück in ein Dasein von erschreckender Oberflächlichkeit und Langeweile ist mir nicht mehr möglich. Für mich ist dieser Weg abgeschnitten. Ich möchte ihn auch gar nicht gehen; ich wollte und will die Tiefe, selbst auf die Gefahr hin, abzustürzen. Diese Krise zeigt mir in aller Deutlichkeit: Wer nicht bereit ist, seine inneren Tiefen auszuloten, wird an den Abgründen dieser Welt nicht stehen können. Er wird ihnen erliegen, fliehen und die Tatsache ihrer Existenz vollständig verdrängen.

Ohne einen Führer allerdings sollte man sich nicht hinabwagen. Auch Dante, der große Renaissance-Dichter, traute sich nur in Begleitung seines Schutzpatrons Virgil in die Hölle hinunter. Das schreibt er am Anfang seiner Göttlichen Komödie. Vielleicht stehen wir ebenfalls am Anfang einer göttlichen Komödie, die sich naturgemäß wie eine teuflische Tragödie ausnimmt, aber wo ist mein Begleiter hinab in die Tiefe, mein Virgil? Da ist weit und breit kein Dichter, kein Priester, Schamane oder Lehrer, der mir helfen könnte, gelassen und klar den Grauen der Tiefe zu begegnen. Auf das Verschwinden der Gurus und Meister werde ich noch zurückkommen. Offensichtlich ist jedenfalls, dass ich den Führer im Innern suchen. Im Grunde fand auch Dante den Seinen im Innern. Und da der antike römische Dichter Virgil für ihn der Inbegriff einer achtsamen, horchenden Beziehung zur Sprache war, ein Mann, der seine Worte stets sorgfältig wägte – man sagt, er arbeitete cum lima, „mit der Feile“ – erkor der große Lyriker aus Florenz ihn zum Archetypus seines Wortgewissens. Das Beispiel ermutigt mich, mich ebenfalls auf innere Qualitäten zu verlassen. Und so sollen mir mein poetisches Sprachgefühl, mein Gehör und Sprachverständnis Begleiter ins Ungewisse sein. Vielleicht habe ich nichts anderes, was mir in dunklen Zeiten klar zu sehen erlaubt.

Doch das Ungewisse ist nicht nur draußen in der Welt, es ist vor allem in mir selbst. Horchend und schreibend wollte ich den Dingen auf den Grund gehen, die Ursache des Ungeheuren ergründen und landete am Ende bei mir selbst, genauer gesagt, bei einer zutiefst kreatürlichen Angst. Unmittelbar bedroht sah ich mein Leben zwar nicht. Auch fürchtete ich weder Krankheit noch körperliche Leiden. Schmerzen hatte ich wiederholt erlebt, langwierige Schmerzen am motorischen Apparat, an Knochen, Muskeln, Nerven. Ich war nicht gerade daran gewöhnt, aber doch geübt im Ertragen. Vor allem aber hatte ich stets das Gefühl gehabt, die Schmerzen würden auf unerklärliche, aber intime Weise zu mir gehören. Körperliche Entbehrungen fürchtete ich ebenso wenig. Ich fühlte mich bereit, durch Hunger oder Kälte auf die Probe gestellt zu werden. Dagegen empfand ich psychische Verletzungen, Kränkungen, Ächtung, üble Nachrede, für die ich ein fast schon überempfindliches Gespür hatte, und sogar sachliche Kritik, da ich diese gleich persönlich nahm, als existenzielle Bedrohung.

Das also war meine ganz eigene Hölle, mein Eigendünkel, mein Festhalten am Gefühl der eigenen Wichtigkeit. Angekommen an den bröckelnden Rand meiner persönlichen Beschränktheit, meinte ich – ganz der Lehrer – recht zu haben und hätte gern recht bekommen. Getrieben vom Wunsch, mich vor Diffamierung und Ausschluss zu schützen, suchte ich andere aufzuklären, sie zu belehren, ihnen zu sagen, es gäbe keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben. Eure Angst, versteht es doch!, macht euch am Ende krank. Bleibt wach, bleibt in der Unmittelbarkeit eurer Erfahrung, spürt in euch hinein, beobachtet doch bitte kritisch die toxische Wirkung medial inszenierter Bilder und Botschaften! Gehorcht nicht blind! Mit anderen Worten, ich sah den Abgrund, aber ich sah kein Licht. Ich stand selbst im Dunkeln, im Schatten der Angst.

Und so ist es wohl zu erklären, dass ich die meisten, erschreckend viele, wie ich bestürzt feststellte, nicht erreichte. Für sie war ich aus der Welt herausgefallen, ein vom Glauben an die gemeinsame Erzählung Abgefallener, vom gewohnten Standpunkt abgerückt und insofern tatsächlich verrückt. Sie entzogen mir ihr Vertrauen, fingen an mich zu meiden, reduzierten den Kontakt auf ein absolutes Minimum, knapp unterhalb der Grenze der Höflichkeit. Ihre Missbilligung, so schien mir, war geradezu physisch spürbar. Und sie war, wie sich bald herausstellte, nicht bloß eine Einbildung oder die Projektion meiner Furcht. Ich war wirklich zu einem Unberührbaren geworden, einem, dem man mied, um keine „Kontaktschuld“ auf sich zu laden. Ausgerechnet ich, dem Ansehen und Geltung stets wichtig gewesen waren, sah mich nun in der bedauerlichen Lage eines Ausgestoßenen. So führte mein leidenschaftliches Auf- und Einstehen für das, was ich als recht und gerecht erkannte, genau das herbei, was ich am meisten fürchtete. Da zog ich mich zurück, leckte meine Wunden und fand eine Formel, die meinem Hochmut entsprach und meinen Stolz stärkte: Nicht wer liegt, sondern nur wer steht, kann fallen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich verstand, weshalb ich so litt. Ich hielt am Alten fest, an der Vorstellung meiner Großartigkeit.

Mag sein, dass wir alle einer psychologischen Kriegsführung ausgesetzt sind, einer großangelegten und generalstabmäßig geplanten Operation zur Unterwerfung und Versklavung der gesamten Menschheit. Vielleicht beobachten wir zurzeit in der Tat den Siegeszug größenwahnsinniger Geldeliten und ihrer korrupten Helfershelfer. Aber anstatt deren Betrügereien aufzudecken, nehme ich sie zum Anlass, mir selbst auf die Schliche zu kommen. Denn was hier triumphiert, ist nicht so sehr eine Gruppierung oder Kaste, sondern eine Denk- und Sichtweise, die weltweit verbreitet ist und nicht nur bei den Herrschenden den Ton angibt. Nochmal: In der Welt des nur dieses lernen wir alle von frühester Kindheit an, uns mit Materiellem zu identifizieren, in erster Linie mit unserem Körper, manchmal auch mit technischen Geräten oder anderen Gegenständen. Die Selbstwahrnehmung, die aus dieser Identifikation hervorgeht, nennt man Ego. Die Empörung und Selbstgerechtigkeit, aber auch die Angst und Verzweiflung, mit denen ich auf die Bedrohung von außen reagierte, zeigten mir schließlich, wie groß die Macht des Ego in mir selbst war.

Der Verstand sagt, es gibt nur diese Welt, entweder das, was du siehst, hörst und berührst, oder die „Multimediashow“, die dein Gehirn dir vorführt. Es gibt nichts Übersinnliches, kein Jenseits, nur das Organische und Physikalische, Steine, Pflanzen, Tiere und Maschinen. Damit macht sich der Verstand zum Sprachrohr des Ego, denn dieses sagt genau das Gleiche: Es gibt nur mich, keine Seele, kein Geist, kein Gott. Du bist allein, ohne Hilfe. Entweder du behauptest dich oder du gehst unter.

Buddhas erste der vier edle Wahrheiten lautet: Leben ist Leiden. Ich verstand jetzt was gemeint war. Das Leben des Ego ist Leiden. Denn das Ego verlangt ständig nach Anerkennung, Bewunderung, Zustimmung, Unterordnung, und die Ursache des Leidens, so Buddhas zweite edle Wahrheit, ist das Verlangen. Einher mit diesem Verlangen geht die Angst, das Begehrte nicht zu erhalten. Daraus erwächst das Bedürfnis, möglichst alles unter Kontrolle zu haben. Wenn ich nach außen schaue, sehe ich diesen Zwang zur Kontrolle überall: Grenzkontrolle, Straßenkontrolle, Impfpasskontrolle, Geburtenkontrolle, Geldverkehrskontrolle, Lieferkettenkontrolle oder die Kontrolle über Medien, Märkte und Meinungen. Es fällt mir nicht schwer, dieses Kontrollbedürfnis als grotesk und wahnhaft anzusehen. Schwieriger ist es freilich, denselben Zwang, dieselbe Angst, bei mir zu erkennen. Doch mein Weg nach innen ließ mir keine andere Wahl.

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