Licht aus dem Abgrund

Aufrecht am Abgrund

Es ist leicht, sich über die schnöden Materialisten zu erheben und sich für einen Mann des Geistes, einen spirituellen Menschen zu halten. Ganz sicher ist es verlockend. Aber bin ich nicht auch materialistisch? Ich vertraue doch stärker auf die Dinge, die ich sehe und anfasse, als auf das Unsichtbare, Unfassbare. Habe ich mich nicht weitgehend mit der Gestalt und dem Gesicht identifiziert, die ich im Spiegel erblicke? Ich trage Sorge dafür, dass der Kühlschrank gefüllt, das Einkommen gesichert und der Öltank voll ist. Ich investiere viel Energie darin, mich zu schützen, nicht nur gegen Wind und Wetter, sondern auch gegen Schmerzen und Kränkungen aller Art. Mich gänzlich auf eine Führung aus der geistigen Welt zu verlassen, sähe gewiss anders aus.

Genügt es schon, zu versichern, dass ich an Gott glaube, an Geist und Seele, an ein Universum voller Lichtwesen, um mich von den sogenannten Materialisten abzuheben? Nein, tut es nicht. Ich stelle doch immer wieder fest, dass Angst mich umtreibt, Angst vor der Zukunft, Angst vor Gewalt, Angst vor Verletzung, Angst vor Verlust. So viele Ängste! Stünde ich wirklich fest im Glauben, einem Glauben, getragen von der Liebe zum Schöpfer, hätte ich überhaupt keine Veranlassung, mich zu fürchten. Aber die Wirklichkeit, meine Wirklichkeit, sieht anders aus. Nun, da die Welt mich auf mich selbst zurückgeworfen hat, mache ich bei mir eine Bestandsaufnahme. Das Ergebnis ist ernüchternd. Mein Glaube und meine sogenannte Spiritualität sind kaum mehr als ein Lippenbekenntnis, Wunschdenken, Pfeifen im Walde.

Was stärkt mein Vertrauen, Selbstvertrauen, Gottvertrauen? Ich sehe im grellen Licht eines medial inszenierten Schreckens, was es in letzter Konsequenz bedeutet, ohne Vertrauen zu sein, einsam, angstgequält, voller Argwohn und Aggressivität. Was habe ich denn gemacht, als die Angst um mich herum groteske Züge annahm und allenthalben Zwang ausgeübt wurde? Welcher Impuls kam mir? Ich bin aufgestanden. Ich bin hingestanden und habe meinen Mund aufgemacht. Das klingt jetzt ein bisschen heroisch, kämpferisch. Get up, stand up, stand up for your right! Und wie das bei Kriegern meistens der Fall ist, war auch mein Vorpreschen angstgesteuert, eine Flucht nach vorn, könnte man sagen. Bei uns Menschen vermischen sich die Dinge ja immer. Dementsprechend war bei diesem Aufstehen von allem etwas dabei: aggressive Selbstbehauptung, Trotz, Mut der Verzweiflung, selbstständiges Denken und die Bereitschaft, einen Schritt zu tun.

Bei aller Gefahr dünkelhafter Rechthaberei war dieses Aufstehen für mich doch notwendig. Aufrecht sollte man doch der Lüge begegnen. Sagt das nicht schon das Wort selbst aus? Man muss sich schon aufrichten, wenn man aufrichtig sein will.

Wer liegt, lügt, liegt falsch. Das ist natürlich nicht wörtlich gemeint. Schließlich ist es nicht verlogen, im Bett zu liegen. Andererseits jedoch hat schlafen auch die Bedeutung von unaufmerksam und unbewusst sein. In diesem Sinne kann man schlafend durchs Leben gehen. Aber Liegen und Lügen, ist das nicht bloß ein zufälliger Gleichklang? In der Welt des Verborgenen, das heißt jenseits des konventionellen Wortgebrauchs, scheinen die Worte ein Eigenleben zu führen. Im Alltag benutze ich sie als Kommunikationsmittel, Werkzeuge der Verständigung, und tue dies zumeist unbedacht. Lasse ich aber davon ab und höre genauer hin, so merke ich, dass es etwas gibt, was Worte selbst aussagen, eine Art innere Weisheit, die nicht konstruiert ist, nicht von mir oder anderen bewusst hineingelegt wurde. Wenn ich nun dieser Sinnspur folge, so soll das die Skeptiker nicht beunruhigen. Ich beanspruche ja keine Wissenschaftlichkeit. Sagen wir einfach: Ich wortspiele.

Also versuchen wir einmal durchzuhören. Die Worte lügen und liegen sind klanglich und strukturell verwandt, haben dasselbe Wortgerüst. Im Englischen ist es sogar das gleiche Wort, to lie, was mich in der Vergangenheit öfter verwirrte. Und das niederländische liegen heißt auf Deutsch lügen, während unser Liegen dort liggen heißt. Zufall? Ohne Bedeutung? Verhalten wir uns einmal wie die Schriftsteller und Lyriker und lauschen den Worten offen, vorurteilsfrei, begegnen ihnen respektvoll und forschenden Geistes. Fragen wir also danach, welcher Sinn sich durch die verwandtschaftliche Nähe dieser beiden Wörter zum Ausdruck bringt? Wir gehen davon aus, gleichsam probeweise, dass hier etwas über uns selbst ausgesagt wird, und versuchen, diesem verborgenen Hinweis nachzuspüren.

Wenn ich auf dem Boden liege, bin ich eins mit der Welt der Erscheinung, mit allem, was hier auf der Erdoberfläche räumlich nebeneinander und zeitlich nacheinander erscheint. Alles breitet sich aus, wird zu meinem Umkreis. Es ist die Welt der Entwicklung, der ständigen Veränderung, des Kommens und Gehens, einer Vergänglichkeit, der ich als Kreatur dieser Welt erliege. Es ist auch die Welt des Materiellen, des Körperlichen, der Früchte, der Erfolge, des Konsums, des Besitzes. Heißt nicht Grundbesitz Liegenschaft? Mit anderen Worten, insofern als ich liege und mein Bewusstsein in horizontaler Lage halte, bin ich ein Geschöpf dieser Erde, ein Säugetier, ähnlich dem Hund oder Esel, deren Wirbelsäulen sich auch in der Waagerechten befinden. Vielleicht blicke ich dabei hinauf in den Sternenhimmel, der sich wie eine gewaltige, in seiner Größe aber auch ferne Kuppel über mir wölbt. Doch ich bin nicht imstande, zu diesem „bestirnten Himmel über mir“, wie Kant das nannte, in Beziehung zu treten, mich als Mensch zu verstehen.

Dazu muss ich aufstehen, mich aufrichten, mich in die Welt hineinstellen. Frage ich aber, was mich dazu veranlasst, suche ich nach auslösenden Momenten in der äußeren, materiellen Welt. Vielleicht gibt es ein Hindernis, über das ich hinüberschauen, vielleicht eine Bedrohung, die ich verscheuchen oder beherrschen will. Die Evolutionstheorie und Paläopsychologie basieren auf solchen Kausalitäten. Das Gras der Savanne wurde immer höher, deshalb musste der Menschenaffe sich aufrichten, um potenzielle Feinde erspähen zu können. Von dieser Seite kommt ja die Vorstellung, dass wir immer nur auf physikalische oder chemische Reize aus unserer Umwelt – wozu in engerem Sinn auch der körperliche Organismus zählt – reagieren, das heißt, außengesteuert sind. Die Verkündung einer globalen Bedrohung durch einen nie dagewesenen Krankheitserreger und die darauf folgenden Maßnahmen haben diese Sichtweise in grotesker Weise ad absurdum geführt. Denn siehe da: Wir verhalten uns in der Tat wie Reiz-Reaktions-Maschinen.

 Genau dieses Bild, dieses gruselige Schauspiel, ließ mit zurückschrecken. Vor mir lagen die Trümmer einer Lüge, einer Weltanschauung, die Würde und Freiheit des Menschen verneint. Nun, da ich durch das Läuterungsfeuer der Einweihungsflamme gehe, frage ich, was mich innerlich bewegt, mich aufzurichten, mich über meine reine Kreatürlichkeit zu erheben. Als Antwort bringt sich mir das allererste Aufrichten des Kleinkindes in Erinnerung. Nach endlosen, beharrlich durchgeführten Versuchen gelingt es ihm schließlich sich aufzurichten. Sein Gesicht hellt sich auf, die Augen werden groß, und man sieht seine Freude darüber, in der Welt des Menschen angekommen zu sein. Es ist ein folgenschwerer Schritt, eine Befreiungstat von nicht nur symbolischer Bedeutung. Und dann kommt das Wort.

Fast zur gleichen Zeit, da wir uns aufrichten, beginnen wir auch zu sprechen. Das lässt mich vermuten, dass es das Wort ist, welches sich in uns aufrichtet, dass da etwas ist, was durch uns zu Wort kommen will.

Mich spricht die Vorstellung an, dass wir als Neugeborene, ja schon vorgeburtlich, in Kommunikation mit der geistigen Welt stehen, im Gespräch mit unserem Engel. Die jüdische Überlieferung, die Kabbala, erzählt davon. Während wir heranwachsen, gerät das vom Engel Offenbarte in Vergessenheit. Jeder von uns lernt, sich dieser Dimension zu verschließen. Im gleichen Zeitraum schließt sich auch unsere Fontanelle. Ich verstehe diesen äußerlichen Verschluss als Möglichkeit und Aufforderung zugleich, mich innerlich für das Geistige zu öffnen. Das junge Kind scheint diese Aufforderung zu fühlen. Als würde es tief im Innern wissen, dass es die verlorene Offenheit nicht eher wiederfindet, als es lernt in sich hineinzuhorchen, fängt es an, sich aufzurichten. Akustische Reize kann ich wohl in jeder „Lage“ hören, aber um in mich hineinzuhorchen, muss ich mich aufrichten. Nichts anderes sagen sämtliche Mediationsschulen.

Wir haben also alle, könnte man sagen, eine mystische Veranlagung, die Sehnsucht nach einer unerklärlichen Realität jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren, dem Verborgenen in uns.

Der senkrechte Stand ermöglicht es, in sich hineinzuhorchen. Man erhebt sich sozusagen über das weltliche Gerede, um auf das Wort aufmerksam zu werden. Wenn es gelingt, „steht“ eine Verbindung zum Himmel und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick. Indem ich also aufstehe, trete ich in Beziehung zu einer Welt, die in der Horizontalen nicht erscheint. Ich strecke mich und mein Blick geht in die Ferne, von Horizont zu Horizont, und es könnte leicht passieren, dass ich mich in dieser Weite verliere, wenn ich nicht zugleich in mich hineinhorchen würde. Hörend bleibe ich bei mir, stehe zu mir.

Weil sie nur von der Außenseite des Seins, vom Erscheinenden ausgeht, nenne ich die Geschichte unserer mangelnden Selbststeuerung eine Lüge. Zwar gehören wir im kreatürlichen Sinne zu den Säugetieren und unterliegen insofern den Gesetzen der Natur. Wir atmen, essen, verdauen, berühren und vermehren uns. Wir altern, werden hinfällig und sterben. Unsere Körper haben Bedürfnisse, die nicht ignoriert werden können. Sie haben auch eine ganz erstaunliche Intelligenz, die sich beispielsweise in unserem Immunsystem zeigt, das ein offenes, interaktives und lernendes System ist. Trotzdem greift es zu kurz, den ganzen Menschen und alles Menschliche und Kulturelle einzig aus dem Körper heraus erklären zu wollen. Wesentlich sind wir viel mehr als der Organismus, den wir bewohnen. Zwar stehe ich noch ganz am Anfang meiner Einweihung, aber ich ahne bereits die Realität einer Welt, die weder materiell erscheint noch kausal erklärt werden kann. Ich habe erfahren, und es waren zarte, intime Erfahrungen, dass ich von dort her belebt, beraten, inspiriert und umsichtig gelenkt werde.

Die Mächtigen dieser Welt versuchen mit rigider Gewalt unser Verhalten zu steuern. Neurobiologen zeigen sich überzeugt, dass das Gehirn all unsere Handlungen steuert. Psychoanalytiker hingegen sehen uns primär durch animalische Triebe bedrängt und vorangetrieben. Sie alle tragen mehr oder weniger zum Bild eines hilflosen, unfreien, zwanghaft egozentrischen, isolierten und hoffnungslos verblendeten Menschen bei. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit, eine Außenansicht, die nebenbei natürlich auch etwas über den jeweiligen Betrachter aussagt. Man kann von der Wucht dieser Darstellung niedergedrückt werden. Bedauerlicherweise sehe ich das in meinem Umfeld immer wieder, wo mir Zynismus, Resignation, Verzweiflung oder Aggression begegnet.

Warum also nicht den Weg des Mystikers beschreiten? Mir scheint das das Gebot der Stunde.

Geht man einen Schritt in diese Richtung, wird man sich unweigerlich einer Art Innensteuerung bewusst, für die ich jetzt noch keine nähere Bezeichnung verwenden möchte. Ich spüre aber eine Dringlichkeit, sie ernst zu nehmen und näher zu erforschen. Dabei ist diese „innere Beratungsstelle“ so delikat, dass sie mir nicht nur die Freiheit lässt, jederzeit selbst zu entscheiden, sondern auch leicht unbemerkt bleibt. Sie spricht mit der leisen „Stimme“ einer Souffleuse, gibt flüchtige Hinweise, Assoziationen, Erinnerungen, Ahnungen, Einfälle, Begegnungen, Impulse, Träume. Man kann darauf aufmerksam werden, allerdings nur, wenn man glaubt, dass es dort überhaupt etwas gibt, was der Beachtung verdient. Für mich waren die Zeichen schließlich so deutlich und sinnig, dass ich gar nicht umhin konnte, die Existenz einer weisen und wohlwollenden inneren Instanz anzuerkennen. Gleichwohl ist es unmöglich, ihr Vorhandensein zu beweisen. Untersuchte man mein Gehirn mit Hilfe eines Magnetresonanztomographen, würde man sie nicht finden. Man kann sie nicht kennen, so wie man einen Gegenstand oder einen physischen Körper kennt, aber man kann sie lieben lernen.

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