Licht aus dem Abgrund

Licht aus der Tiefe

Ist damit alles Diesseitige nur ein Traum, die Erfahrung am Abgrund, die Begegnung mit dem Ungeheuren, die Aufregung, Angst, Enttäuschung? Meine ersten Schritte auf dem Weg des Mystikers waren schmerzhaft, aber unabdingbar. Sie stellten alles auf den Kopf. Zunächst zerfiel meine Weltanschauung und ich sah mich getäuscht, verraten und verlassen. Bald aber entpuppte sich auch mein Selbstbild als eine raffinierte Täuschung. Ich musste erkennen, dass ich wie eine Marionette durchs Leben gegangen war. Die Fäden hatten andere gezogen. Wer? Waren es Personen? Kräfte? Dämonen? Für Menschen mit einer kriminalistischen Ader wäre es sicher reizvoll, dieser Frage nachzugehen, gerade in der heutigen Krisenzeit mit ihren Lügen und Täuschungen. Doch dazu zähle ich nicht. Ob irgendwelche Gruppierungen mit dunklen Absichten, Meinungsmacher, Werbeagenturen oder andere Propagandisten über mein Tun und Meinen, mein Empören und Empfinden bestimmt haben, interessiert mich wenig.

Viel erschreckender ist für mich etwas anderes, der Umstand, dass ich mich bereitwillig fremdsteuern ließ, während ich mir zur gleichen Zeit einreden konnte, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Schock öffnete mich für eine andere Wahrnehmung.

Eines Abends war ich auf einer Demonstration. Eigentlich sollte es eine Mahnwache, eine Gedenkveranstaltung werden. Aber manche Teilnehmer waren offenbar nicht zu stillem Gedenken bereit. Immer wieder riefen sie die Losung „Freiheit“. Ich hörte die harten, teils heiseren Rufe, sah die verzerrten Gesichter, spürte die Aggression, die Lust am Tun. Und da war es wieder, dieses Wir-gegen-die, Freiheitskämpfer gegen Unterdrücker, Gerechte gegen Ungerechte. Ich spürte, dass man sich mit solcher Parteilichkeit nicht von den Fäden, an denen wir hängen, befreien kann. Vielmehr verstrickt man sich auf diese Weise noch tiefer in die Welt der Wirkungen. Wir müssen jetzt Gesicht zeigen, sagt man mir, auf die Straße gehen, Widerstand leisten, und ich fühle den Zwang, der von dieser Aufforderung ausgeht, eine Nötigung, die ihre Entsprechung in den Zwangsmaßnahmen des Staates hat. Ursache und Wirkung und jede Wirkung eine neue Ursache. Die letzten Jahre haben mir gezeigt, dass es kein Ende an den Auseinandersetzungen um Für und Wider, Richtig und Falsch gibt.

Wenn ich Partei ergreife, natürlich überzeugt, für das Rechte und Gerechte einzutreten, identifiziere ich mich mit einer Seite, einer Sicht der Dinge. Damit gerate ich automatisch in einen Konflikt. Als empörter Demonstrant, der seine Forderungen skandiert, stehen mir Gegendemonstranten oder Polizeibeamte gegenüber, die meine Ansprüche zurückweisen. Ich frage mich, ob es möglich ist, dort zu sein, auf dem Schauplatz des Konfliktes, ohne mich von der einen oder anderen Seite vereinnahmen zu lassen. An jenem Abend stellte sich spontan eine entsprechende Gemütslage bei mir ein, eine innere Ruhe, die mir erlaubte, wachsam zu bleiben. Ich ging inmitten der Demonstranten und gedachte der Opfer von Krankheit, medizinischer Fehlbehandlung, Indoktrination und staatlicher Willkür.

Ich wurde still und spürte die Kraft dieser Stille. Ganz natürlich kam mir das Mitgefühl mit den teils sehr jungen Polizisten, die das Schicksal auf ihre Seite des Schachbretts platziert hatte.

Aber vielleicht sind solche Bilder wie die von Marionetten und Schachfiguren bloß irreführend, ist in ihnen doch immer jener andere mit enthalten, der Puppenspieler, Einsatzleiter, Regisseur oder Verschwörer, der einen geheimen Plan hat und aus dem Hintergrund sämtliche Regungen und Bewegungen kontrolliert. Was auf einer Demonstration abläuft, ist, so scheint mir, eher ein Tanz, der sich wesentlich eigendynamisch entfaltet. Ihm liegt zwar eine rudimentäre Choreografie zugrunde, er enthält aber auch Elemente der Improvisation. Grundsätzlich hat er das Potenzial, Gegensätze zu versöhnen, indem er sie in einer gemeinsamen Bewegungsgestalt vereint. Welchen Verlauf der Tanz nimmt, scheint von der Gesamtheit der „Tänzer“ abzuhängen. Nichts ist ohne Bedeutung für das Ganze. Jeder Schritt, jede Handbewegung, jeder Gesichtsausdruck, aber auch jedes Wort, jeder Ton trägt zur Gesamtgestalt bei. Und während ich aufmerksam meinen Teil zur Gesamtchoreografie dazugebe, klingt der innere Konflikt ab. Ich ahne, dass ich nicht zufällig in diesem Moment dort bin.

Tanz, Traum, Traumtänzer? Die Wirklichkeit meines Lebens in der Welt, dieser Schauplatz so vieler Spannungen und Bestrebungen, mutet mich manchmal tatsächlich wie ein Traum an. Obwohl alles so real zu sein scheint, Lust und Last, Freud und Leid, empfinde ich am Ende des Tages doch diesen illusionären Charakter. Was bedeutet das? Ich glaube wohl, dass diese Welt existiert, die Straßen, die Demonstranten, die Polizisten, die Schreie, die Masken. Aber ich ahne, dass die Eigenmächtigkeit und der Eigenwille meiner Person, meiner Außenseite, dieses Darstellers auf der Tanzbühne, in Wirklichkeit Illusionen sind. Ich schaue auf einen von Angst und Hunger bewegten Menschen, der sich in einem Dasein wiederfindet, das er in Wahrheit weder zu machen noch zu kontrollieren vermag. Seine Gewissheit, die Choreografie seines Tanzes selbst zu bestimmen, – genau sie ist die Illusion.

Das Geschehen entfaltet sich vor meinem Auge. Wenn ich auf den Tag zurückblicke, auf den Lauf des Lebens, so sehe ich: Es war alles gerichtet, inszeniert, könnte man sagen: Situationen, Begegnungen, Schritte dahin und dorthin, Stand und Widerstand. Doch wer ist es, der zurückblickt? Wo steht dieses Ich? Immer befindet es sich mitten im Geschehen – und ist doch nicht Teil davon. Es betrachtet dessen Ablauf aus einer unparteiischen Beobachterposition. Das ist kein Ort in räumlichem Sinne, kein Schweben über den Dingen, eher eine innere Sammlung, ein „Raum“ ohne Ausdehnung, ein psychischer Regieraum. Ich sehe mich in dieser erscheinenden Welt, wo alles nur Außenseite ist, sehe Tanz und Tänzer, aber zugleich ziehe ich mich innerlich so weit zurück, dass es mir vorkommt, als würde sich dort ein Darsteller mit schlafwandlerischer Sicherheit wie in einem Kollektivtraum bewegen. Er scheint mir Teil des Traumes zu sein. Aber wer ist es, der träumt? Wer träumt diesen Tänzer, der sich hier als besinnlicher Demonstrant geriert?

Lebe deinen Traum!, raten mir die Missionare der Machbarkeit. Ich nenne sie so, weil sie offenbar überzeugt sind, Träume „machen“ oder „wahrmachen“ zu können, so wie man sich Wünsche erfüllen oder Ziele erreichen kann, eine Traumreise, ein Traumhaus, einen Traumjob. Wünsch dir was! Schicke den Wunsch ans Universum! Du kannst alles haben, du musst es nur wollen, deinen Willen laut kundtun, dir die Wunscherfüllung bis ins Detail vorstellen.

Mir scheint es ratsamer, zunächst zu erspüren, in mich hineinzuhorchen, was von dort her werden will, aus dem Unbewussten, dem Jenseitigen. Dort leuchtet ein Licht aus der Tiefe und leuchtet mir den Weg. Es verführt mich nicht, es blendet mich nicht. Die Zeichen des inneren Selbst sind zart, subtil, vorsichtig. Obwohl es klar sieht, klarer gewiss als mein weltzugewandtes Ich, wie sehr ich den Einflüssen der materiellen, kreatürlichen Welt ausgesetzt bin, greift es doch niemals zu Mitteln der Manipulation ähnlich der ihren. Die Sprache wird seinem Feingefühl gerecht, denn es verschafft sich kein Gehör, verlangt erst recht keinen Gehorsam. Nein, es lässt sich, sofern ich dazu bereit bin, vernehmen.

Ich werde geführt, aber nicht gezwungen. Aus der geistigen Welt erhalte ich Impulse, die von mir allerdings unbemerkt bleiben können. Dann verhärte ich mich zum eigenwilligen Ego, das gerade, weil es meint, es selbst bestimme sein Schicksal, der Kausalität der Welt gänzlich unterworfen ist. Niemand ist leichter zu manipulieren als dieser isolierte, sich selbst überschätzende und damit größenwahnsinnige Vorposten meiner selbst. Ein solcher Hasardeur, der meint, sich die Welt untertan zu machen und doch nur von ihr vereinnahmt wird, ist per se von marionettenhaftem Wesen. Ohne Ahnung vom Ursprung, taub für die Weisung innerer Weisheit, ständig auf der Flucht vor der scheinbaren Sinnlosigkeit des Daseins, irrlichtert er zwischen den von seinem Verstande proklamierten Fakten und Formeln hin und her. Nie zuvor war ich so sehr wie heute veranlasst, alles Wissen und Bewiesene, das die Welt an mich heranträgt, zu hinterfragen. Denn entlang solcher Fakten, das heißt des Gemachten, Zurechtgemachten, verläuft die Spaltung der Gesellschaft. Überwinden können wir sie nur, wie mir scheint, sofern wir uns auf unseren Ursprung besinnen. Das Seelisch-Geistige in unser Leben zu integrieren, erlaubt uns, mit größerer Gelassenheit auf Für und Wider, Anerkennung und Ablehnung, Waffengang und Waffenstillstand zu blicken. Denn im Licht der Liebe, die mir aus der geistigen Welt aufscheint, verblassen und schrumpfen Gier und Angst, die beiden großen Triebfedern des Ego, auf ein erträgliches Maß. Freiheit ist möglich.


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