Licht aus dem Abgrund

Wie ein Dieb in der Nacht

Wir sind zu viele, viel zu viele, und bekommen unsere Gier nicht in den Griff. Unsere Zivilisation steuert auf ihren Untergang zu. Der, der das sagt, ist ein ruhiger, gebildeter Mann in fortgeschrittenem Alter, ein engagierter Lehrer, wie ich einer war. Er sitzt mir gegenüber und schaut mich aus ernsten Augen an. Ich sehe die Sorge und Qual, die ihm seine Analyse bereitet. Er verweist auf wissenschaftliche Studien und Schlussfolgerungen, die bereits vor vierzig Jahren veröffentlicht wurden. Seitdem sei nichts geschehen, beklagt er, nicht genug auf jeden Fall. Für so etwas wie Nachhaltigkeit sei es bereits zu spät. Wir hätten uns als unfähig zur Kursänderung erwiesen. Er könne verstehen, dass sich Menschen Gedanken machen, wie der Kollaps noch zu verhindern wäre, Menschen mit Macht und Einfluss. Dem ungebremsten Bevölkerungswachstum müsse doch Einhalt geboten werden.

So zu denken, ist mir nicht fremd. Im Gegenteil! Jahrelang war ich der gleichen Überzeugung und berief mich dabei auf dieselben wissenschaftlichen Studien. Aber die Konfrontation mit dem Ungeheuren, mit abgrundtiefen Lügen, vor allem aber die spürbare Nähe des Lichtes hat mich anders zu denken gelehrt. Sensibilisiert für das Mystische, für innere Beweggründe, für eine Weisheit jenseits rationaler Erwägungen, verstehe ich, dass die Vermehrung unserer Spezies keineswegs ungezügelt geschieht.

Wir sind viel mehr als Primaten mit einem egozentrischen Verstand. Wir kommen nicht zufällig ins Leben, wir sind geistgeboren.

Von außen betrachtet sieht das natürlich nicht so aus. Die Erfahrung scheint uns lehren, dass die Ursache unseres Daseins in der Verschmelzung eines männlichen Samens mit einer weiblichen Eizelle liegt, also einem biologischen, technischen, materiellen Vorgang. Diese Ursache zieht unweigerlich ihre Wirkung nach sich: Ein neues Menschenwesen entsteht. Wenn man die Wirkung nicht haben will, muss man die Ursache verhindern. Das funktioniert und so halten wir diesen Zusammenhang, den wir aus der Perspektive der erscheinenden Welt betrachten, für erwiesen, wirklich und wahr, eine Tatsache. Bleibt man dabei stehen, ist alles erklärt. Der Mensch ist eine Sache, nämlich ein komplexer Organismus, mit einer Ursache, nämlich der Verbindung zweier Komponenten, und dieser Organismus ist wiederum Ursache für unterschiedliche Phänomene, Wachstum, Stoffwechsel, auch Triebe, Emotionen und schließlich so etwas wie Bewusstsein.

So stellt sich das Leben als etwas Machbares dar. Wir „machen“ Liebe, wir „machen“ Leben. Und weil wir es machen, können wir es auch ungeschehen machen. So einfach – aber eben auch so einseitig! Wir erfassen lediglich das, was hier in Erscheinung tritt und das ist nun einmal nur das Physische. Wir sehen, wie unser Körper in die Welt kommt und suchen, gewohnt, kausal zu denken, dafür nach einer Ursache und hinter dieser Ursache nach einer weiter zurückliegenden Ursache und dahinter, unfähig zu verstehen, dass es so etwas in der linearen Zeit gar nicht geben kann, nach der ersten Ursache. Immer tiefer tauchen wir ein in die kleinsten Bausteine der Materie, Gene, Proteine, Nukleotide – und finden doch nicht zum Geistigen. Teuflisch schlau analysiert Goethes Mephisto die Lage:

Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,

sucht erst den Geist herauszutreiben.

Dann hat er die Teile in seiner Hand,

fehlt, leider! nur das geistige Band.

Erst im Lichte des Geistes fügen sich alle Einzelteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Das gilt für die vielen biographischen Ereignisse meiner Ich-Welt wie auch für die historischen Ereignisse in der Wir-Welt. Ohne dieses Licht können wir Lebendiges nicht erfassen, es nur mechanistisch erklären. Im Geist erkenne ich den Ursprung meines Seins und Daseins. Der Ursprung ist keine Ursache, steht nicht in der endlosen Kette von Ursachen und Wirkung. Der Ursprung ist die Quelle des Lebens, unerschöpflich, unveränderlich. Er ist da, manifestiert sich aber weder im Raum noch in der Zeit. Man sucht diese Urquelle vergebens in fernster Vergangenheit oder in den Weiten des Universums. Dennoch ist unser Dasein ohne sie nicht denkbar. Aus dem Ursprung leben wir. Aus ihm heraus kommt der Anstoß zu jeder Gestaltwerdung, auch zu meinem In-Erscheinung-treten. Und obwohl die Formwerdung in der Natur spontan und scheinbar unkontrolliert vonstattengeht, so geschieht sie doch niemals zufällig, egal wie sehr das aus diesseitiger Perspektive der Fall zu sein scheint. Wenn ich unbefangen die Gesamtheit unterschiedlicher Lebensformen in der Natur betrachte, spüre ich das wirken einer inneren Weisheit, die nach Harmonie und Schönheit strebt. Ich erkenne, wie wenig die Vielfalt des Lebens mit einem Überlebenskampf zu tun hat, mit rücksichtsloser gegenseitiger Verdrängung, Selektion und Zufall. Derlei Erklärungsmuster verstehe ich als das, was sie sind: Projektionen eines von Angst und Gier bedrängten Verstandes. Unversehens wird mir jede Lebensform zu einem Ausdruck der Liebe.

Kein Mensch kommt in die Welt ohne die Entscheidung seiner Seele im Lichte des Geistes. Kein Mensch tritt grundlos ins Leben.

Sein Dasein ist stets Ausdruck eines Sinnes, mag dieser auch, von den überwältigenden Erfahrungen des Leibes überlagert, schon bald in Vergessenheit geraten. Ich spreche nicht von einem Recht auf Leben oder einer unantastbaren Würde, denn das sind ethische Postulate, die uns vor der Gnadenlosigkeit unseres eigenen materialistischen Denkens schützen sollen. Wir spüren, dass wir uns selbst verbieten müssen, von „lebensunwertem Leben“ oder „nutzlosen Essern“ zu reden. Uns ist sehr wohl bewusst, wie nahe und groß die Gefahr ist, ins Unmenschliche abzurutschen, solange wir nur kausal und mechanistisch denken, solange wir nicht erkennen, dass alles Erscheinende Ausdruck einer umfassenden Liebe ist. Es ist dieses Denken, das müssen wir verstehen, ein Denken, das Sinn mit Zweck verwechselt, Wert mit Nutzen und Ursprung mit Ursache, welches unser Leben bedroht.

Das rapide Wachstum der Weltbevölkerung ist kein sinnloses Treiben. Unsere Angst vor Mangel, Chaos und Vernichtung ist, auch das gilt es klar zu erkennen, die Begleiterscheinung unseres Denkens und Vorstellens. Für die meisten von uns Mitteleuropäern gehört die Schreckenskulisse des Weltuntergangsdramas nicht zur täglichen Erfahrungswelt. Dennoch drückt sie als düsteres Bild mehr oder weniger stark auf unser Gemüt. Damit will ich nicht behaupten, dass die menschheitlichen Probleme bloß imaginär und gar nicht real sind. Aber es stellt sich mir die Frage, warum uns über zahlreiche Nachrichtenkanäle ständig Negatives, Furchterregendes entgegengehalten wird: Hass, Gewalt, Zerstörung, Egoismus, Ausweglosigkeit. Jeder kann für sich selbst prüfen, inwiefern eine derartig einseitige Berichterstattung sein Denken und Fühlen beeinflusst. Mir hilft sie nicht, die Welt oder die Menschen zu lieben, die Schönheit zu sehen und an das Gute zu glauben. Vielmehr löst ein konstanter Informationsfluss voller Hiobsbotschaften, Bedrohungen und Untergangsszenarien in mir Angst, Sorge und ein schlechtes Gewissen aus. Manche Propheten des Zerfalls verkünden ganz offen, dass sie genau das erreichen wollen. Damit erhält der Glaube an das Verderben fanatische Züge und wo immer Fanatismus ins Spiel kommt, ist das Ergebnis Spaltung. So auch hier. Die Junge Generation überhäuft die ältere mit Vorwürfen. Die Verursacher des Übels werden gesucht, gefunden und angeklagt. Ich bezweifle, ob man damit der Weltlage und erst recht dem Menschen gerecht wird.

Die fortdauernde Konfrontation mit den Botschaften, Bildern und Befürchtungen einer bevorstehenden Klimakatastrophe, Hungersnot oder eines unausweichlichen Krieges geht zu Lasten meiner Offenheit, Kreativität, Entdeckerfreude und Kritikfähigkeit.

Innerlich erstarrt, blicke ich ständig in die Richtung, die mir gezeigt wird. Ich reagiere wie eine altmodische Jukebox; jemand wirft eine Münze ein, drückt ein paar Tasten und schon singe ich das gewünschte Lied. Erst wenn ich diesen Automatismus durchbreche, bemerke ich, wie sehr er meine Weltsicht verengt und verfestigt. Vor allem aber beeinträchtigen die unaufhörlichen Negativnachrichten meine Fähigkeit, Freude zu erleben, in der Unmittelbarkeit des Moments zu sein. Nicht nur lenken sie mein Denken in die vorgefertigten Bahnen des Bösen, unterschwellig vermitteln sie mir zudem, dass es unverantwortlich, naiv, geschmacklos, ja sogar dekadent wäre, mich angesichts einer solch desaströsen Weltlage noch zu freuen, entspannt zu sein, zu lieben.

Die Welt geht vor die Hunde, erklärt man mir, und du bist mit schuld! Du sollst endlich etwas tun, deine Gewohnheiten ändern. Die Rettung der Welt ist machbar, helfe mit, pack die Probleme an! Machbar. Erneut begegnet mir der Glaube an Machbarkeit, der sich mitunter wie ein Machbarkeitswahn gebärdet. Und wieder fühle ich mich an Goethe erinnert: Wer Gutes tun will, der sei erst gut. Glauben wir im Ernst, einen Wandel dadurch zu bewirken, dass wir von Kuhmilch auf Haferdrink, vom Auto aufs Fahrrad umsteigen? Was nützt mir und der Welt meine biozertifizierte Kleidung, wenn ich innerlich voller Angst und Aggressionen bin? Was nützt mir meine Co2-freie Mobilität, wenn ich zornig, gar hasserfüllt auf SUV-Fahrer herabblicke? Ich ernähre mich schon seit meiner Jugend vegetarisch und viele Jahre lang meinte ich insgeheim, ich sei deswegen ein besserer Mensch. Mein Gott, wie beschämend! Diese Spaltung zwischen vermeintlich guten und mutmaßlich schlechten Menschen, zwischen Umweltheilern und Umweltsündern – wie sollte sie den gefürchteten Untergang verhindern können?

Machen und tun – wir lieben es. Natürlich, in der Tätigkeit behauptet sich unser Ich. Wir sind ganz versessen darauf, Wirkungen zu zeitigen, Verursacher zu sein, einen Unterschied zu machen. Taucht ein Problem auf, sofort heißt es: Da muss man was machen. Das sollte man ändern. Oder es heißt umgekehrt, wenn wir eher lethargisch sind, mutlos, resigniert: Da kann man nichts machen. Was kann ich schon tun? Nie aber hört man das andere: Da sollten wir in uns gehen. Lasst uns erst einmal innehalten, still sitzen bleiben, schauen, lauschen! Der Ursprung bricht in den steten Verlauf von Ursachen und Wirkungen ein, durchbricht in einem Moment die vom Verstand aufrechterhaltene Kausalkette. Er ist das Unerwartete, der wie ein Dieb in der Nacht in unser mechanisches Denken eindringt, eine Tür öffnet, wo sich bislang Ursachen und Wirkungen lückenlos aneinanderreihten. Er berührt mich und geht mich an. Mein Verstand will sachlich bleiben, Informationen auf ihre Sachlichkeit prüfen, argumentieren, schlussfolgern. Bringt sich der Ursprung in Erinnerung, sehe ich mich für den Moment aus diesem endlosen Strom herausgehoben. Ich erkenne meine Person, diese geprägte Form, als Glied in einer Kette von Ursachen und Wirkungen und ahne, dass Erneuerung nur von woanders herkommen kann.

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