Licht aus dem Abgrund

Karmas Ende

Wir betrachten Karma, denn davon ist hier natürlich die Rede, als das Gesetz von Ursache und Wirkung, als Kausalitätsprinzip. Was du säest, wirst du ernten, heißt es, und wer wollte diese Folgerichtigkeit in Frage stellen? In der erscheinenden Welt sehen wir solche ursächlichen Verbindungen naturgemäß überall. Führe ich meinem Körper Nahrung zu, so wird er Ausscheidungen produzieren. Gehe ich im Regen ohne Schirm und Jacke spazieren, werde ich nass werden. Die Zusammenhänge sind klar. Doch wir neigen dazu, dieses Erfahrungswissen unzulässigerweise zu generalisieren. Wenn ich viel esse, werde ich dick? Da wird es schon schwieriger mit der Kausalität. Wir wissen, dass die Rechnung nicht immer aufgeht. Und wie ist es mit meiner Befürchtung, mittellos zu werden, zu verelenden, wenn ich das, was ich habe, verschenke? Steht dem nicht das biblische Versprechen entgegen, dass jenem gegeben wird, der selbstlos gibt? Überraschungen sind nicht ausgeschlossen. Auch die Erwartung, krank zu werden, sobald ich mit einem Krankheitserreger in Berührung komme, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Glaubenssatz, die bloße Annahme einer Kausalität, wo es eine solche nicht gibt. Schließlich kann der menschliche Organismus jahrelang mit Krankheitserregern in friedlicher Koexistenz leben, ohne dass er die geringsten Symptome entwickelt.

Als Gesetz von Ursache und Wirkung ist Karma ein Naturgesetz, ähnlich der Schwerkraft. Wenn wir uns durch die Erfahrung von seinem Wirken überzeugt haben und sich diese Überzeugung bei uns festigt, wird sie zu einem Glaubenssatz.

Mit ihm haben wir, könnte man sagen, das Gesetz verinnerlicht. Was bedeutet das? Es heißt, dass wir nunmehr unsere Tagesrealität mit einer Erwartungshaltung betrachten. Wir sitzen am Spielplatzrand, sehen, wie ein Kind ein anderes schlägt und erwarten, dass nun das andere zurückschlägt, sich rächt, wenn nicht sofort, dann gewiss später einmal. Auge um Auge, Zahn um Zahn, heißt es doch schon im Alten Testament. Dann würde die Welt wieder stimmen, die Gleichung Aktion = Reaktion ginge auf. Daran glaubt auch der notorische Raucher, der befürchtet, irgendwann, zwangsläufig könnte man sagen, Lungenkrebs zu bekommen. Er rechnet damit, so wie einer damit rechnet, dass eine gesunde Lebensführung seine Lebensdauer verlängern würde. Am Ende muss die Bilanz ausgeglichen sein. Wenn ich immer ausgesprochen freundlich zu einer bestimmten Person bin, erwarte ich, dass sie es mir gegenüber ebenfalls ist. Meine Saat soll schließlich aufgehen.

Wir können Naturgesetze nicht ändern oder gar aufheben, unsere Glaubenssätze dagegen schon. Meine tief verwurzelten und mir oft gar nicht bewussten Überzeugungen schieben sich zwischen mir und dem Karma-Gesetz. Dieses besagt: Du bekommst, was dir zukommt. Mein Glaubenssatz aber ist die feste Überzeugung, dass ich verdient habe, was ich bekomme. Selber schuld, salopp gesagt. Für mich und für alle anderen lautet die Karma-Kausalität nicht „Was du tust, wird dir getan“, sondern „Was du glaubst, wird dir zur Wirklichkeit“. Wenn ich also glaube, dass ich zu erleben und erleiden habe, was „meine“ Seele, ihrem „Plan“ entsprechend, für mich arrangiert hat, nehme ich meine Wirklichkeit so wahr, dass sie meine Überzeugung bestätigt. Ich sehe das, was meinem Glaubenssatz entspricht: Egal was mir geschieht, egal wie es mir damit geht, der Plan meiner Seele muss erfüllt werden. Einst ward er festgelegt, jetzt ist er einzuhalten.

Verstehe ich Karma dergestalt als das eherne Gesetz von Ursache und Wirkung, engt mich seine Unausweichlichkeit sehr stark ein. Seine Macht scheint erdrückend, und da es kein Entkommen gibt, könnte ich leicht mutlos oder gar fatalistisch werden. Deshalb ist es gut, zu bedenken, dass jedes Gesetz ihren Gültigkeitsbereich hat. Für das Gesetz der Kausalität gilt, dass es nur in der linearen Zeit denkbar ist. Das sprichwörtliche „Was du säest, wirst du ernten“ lässt sich zwar umdrehen – samenfestes Saatgut vorausgesetzt – aber die lineare Zeit mit ihrem Vorher und Nachher bleibt auch dann grundlegend. Das gilt für jede Erfahrung, die ich hier im Außendienst mache. Erst kommt der Ruf, dann das Echo. Erst steigt die Sonne empor, dann wird es allmählich wärmer. Erst fällt der Krug, dann zerbricht er.

Das aber, was bei mir verborgen und unbewusst ist, mein Seelisch-Geistiges, ist mir deshalb so fremd, so ganz anders, weil es in einer Sphäre jenseits der raumzeitlichen Welt existiert. In der Dimension der höheren Seele gibt es kein Vorher und Nachher.

Für meinen Verstand ist das unvorstellbar, so dass sich mein Verständnis von Karma hier totläuft. Im Jenseits ist alles gleichzeitig, die Saat und die Ernte, Jugend und Alter, der Schlag und der Rückschlag, Schuld und Sühne. Für meinen Verstand ist diese Aussage wie ein Koan. Sie sprengt die Rationalität und warnt mich davor, mir mit Hilfe meines diesseitigen Denkens das Jenseitige vorzustellen. Aber zugleich geht mit ihr eine Ahnung von grenzenloser Freiheit einher.

Das ganz andere ist das Unvorstellbare. Vielleicht kommt daher Geistes Rat, sich von Gott kein Bild machen zu wollen. Man kann es nicht. Das Innere lässt sich nicht veräußerlichen. Wo wir versuchen, das Ewige in das Zeitliche zu pressen, verstümmeln wir es zwangsläufig. Liebe gerät dann unter die Knute der Kausalität: Wenn du lieb zu mir bist, bin ich es auch zu dir. Oder: Weil du untreu bist, liebe ich dich nicht mehr. Liebe wird zum Geschäft: Ich bleibe bei dir, solange es sich für mich rechnet. So ist es nur folgerichtig, dass wir uns, wenn wir ein Paar bilden, gegenseitig als „Partner“ bezeichnen, so als wären wir tatsächlich Geschäftspartner.

Wo das Gesetz von Ursache und Wirkung unser Denken beherrscht, gibt es keine Freiheit. Und wo wir unfrei sind, können wir nicht lieben.

Die Liebe steht über dem irdenschweren Karma-Gesetz, sie erhebt sich mit der Leichtigkeit und Eleganz eines Adlers, der die Schwerkraft überwindet. Liebe ist per se bedingungslos. Jeder möchte geliebt werden als den, der ich ist, nicht weil er die Liebe irgendwie „verdient“ hat. Sie ist ein überraschendes Geschenk, das was man in religiöser Sprache die Gnade Gottes nennt. Nicht weil ich fleißig meditiere, bete oder Bhajans singe, nicht weil ich strebsam bin und etwas Besonderes leiste, wird mir diese Gnade zuteil. Wenn ich aber aufhöre, ungnädig zu denken, lade ich sie ein – ohne Erwartung.

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