Licht aus dem Abgrund

Liebe an vorderster Front

Was in meinem Leben auf mich zukommt, kann ich nur insofern erahnen, als ich mich meiner selbst erinnere, meiner geistigen Führung innewerde. Doch wer ist es, der sich erinnert? Welt- und selbstanschaulich läuft alles immer wieder auf die gleiche Frage hinaus: Bin ich wesentlich ein Kind Gottes oder bloß ein Kind des Menschen, ein Erzeugnis meiner Eltern? Betrachte ich mich selbst ausschließlich als eine Kreatur der Erde oder zugleich als Offenbarung des Geistes? Es ist die Frage, welcher Realität ich Glauben schenke. Wer oder was ist also dieses Ich, diese denkende Instanz, die sich der Welt gegenübersieht? Offenbar bin „ich“ nicht dasselbe wie jene mir von Gott eingehauchte Seele, die in dieser Welt der natürlichen Entwicklung verborgen bleibt. Wenn sie das inwendig Göttliche ist, wie verhält sie sich dann zu mir, der ich als Mensch aus Fleisch und Blut, als biografisch geprägte Person in Erscheinung trete? Welche Bedeutung habe ich für sie? Bin ich überhaupt von Bedeutung oder bloß eine flüchtige Erscheinung, eine ihrer zahllosen Inkarnationen, nicht mehr als eine Schimäre, eine Traumgestalt?

Man kann dieser Frage ausweichen, indem man das Ich tatsächlich für unwirklich erklärt, genauso illusionär wie das Leben in der irdischen 3-D-Fiktion. Das ist, vereinfacht gesagt, die traditionell asiatische Position. Doch wenn die ganze Welt hier Maya wäre, ein Netz der Täuschung, wozu dann das Ganze? Warum sollte Gott uns hinters Licht führen, uns im Glauben lassen wollen, all die Bäume und Berge, die Sterne und Flüsse seien real, nur um uns am Ende – ätsch, bätsch – zu zeigen, dass alles nur eine ausgefeilte Täuschung war? Warum sollte Gott mich mit einer Denk- und Urteilsfähigkeit sowie einem Ich-Gefühl ausstatten und zugleich von mir erwarten, all das so schnell wie möglich zu entsagen?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott oder der universelle Geist ein Spielchen mit mir treiben, eine göttlich amüsante Komödie. Das wäre doch lieblos, am Ende gar grausam.

Wie ist es dann, dieses Verhältnis von Ich und Seele? Gibt es überhaupt diese Dualität? Ist nicht alles eins? Bin denn ich nicht ein Schöpfer, ein multidimensionaler Weltbaumeister, zwar etwas verschlafen noch, aber potenziell allmächtig? Die Vorstellung ist verlockend, aber auch problematisch, denn was als Möglichkeit in mir schlummert, ist noch lange nicht meine Wirklichkeit. Ich glaube wohl, dass das Himmelreich in mir ist, aber ich habe es mit Sicherheit noch nicht realisiert. Ich glaube wohl, dass der Mensch prinzipiell erleuchtet sein kann, aber ich bin es nicht. Was mein momentanes Dasein, meine konkrete Realität hier und jetzt betrifft, ist das Gott-in-mir nur ein gedankliches Konzept, ein reines Potenzial, nicht mehr. Halte ich diese grundsätzliche Möglichkeit bereits für meine Wirklichkeit und sage mir, ich sei Schöpfer, ich sei Gott, versteigt sich mein Ich leicht zum egozentrischen Größenwahn. Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter bezeichnete das als Gotteskomplex. Interessanterweise findet man solche Allmachtsfantasien auch bei radikalen Materialisten wie der israelische Historiker Yuval Harari, der vom Homo Deus schwärmt. Ich verstehe das als Mahnung und Aufruf zur Bescheidenheit.

Eine gewisse Beliebtheit, zumindest in meinem Umfeld, genießt eine andere Ansicht. Die Ich-Person, so wird behauptet, sei bloß ein Werkzeug der erhabenen Seele, ein Mittel zum Zweck der Erfahrung. Und nicht nur das! Der Seele sei es auch egal, wie es mir gehe, sie wolle nur ihre Erfahrungen machen. Sie unterscheide dabei nicht zwischen Gut und Böse, Freude und Leid, denn das seien lediglich weltliche, diesseitige Kategorien. Sie teile nicht meine Moralvorstellungen, sei wesentlich genauso amoralisch wie geschlechtslos.

Wenn die Seele beispielweise erfahren wolle, wie es ist, in den Krieg zu ziehen, in einer geschlossenen Psychiatrie zu vegetieren, andere zu betrügen oder mit einem Flugzeug abzustürzen, dann hätte „ich“ mich dem zu fügen.

Darauf muss ich etwas näher eingehen.

Vorausgesetzt, wir könnten tatsächlich auf diese Weise zwischen der Seele und dem Ich, der strengen Herrin jenseits und dem tumben Knecht diesseits, unterscheiden, stellt sich die Frage, wer denn von diesen beiden tatsächlich in der Welt der Erfahrungen steht. Als ausführendes Organ wäre ich es doch, der die Erfahrungen machte, nicht jene mächtige, irgendwie übergeordnete Seele, die aus der sicheren Entfernung ihrer astralen Heimat bloß die Strippen zöge. Ich stehe an vorderster Front, hinabgestiegen in den Schützengraben der materiellen Welt. Ich bin es, der dem Angriff des Bösen, den Feinden des freien Geistes ausgesetzt ist. Ich bin es, der die Verletzungen einzustecken hat, welche Lüge und Verleumdung mir zufügen. Ich bin es, der Momente der Verzweiflung, der Hoffnung, der Rührung erlebt. Ich lache und weine, genieße und leide, kämpfe und resigniere, siege und unterliege. Mag sein, dass die Seele mir dabei zusieht, vielleicht auch Anteil nimmt, Erfahrungen aber macht sie keine.

Die Behauptung, die Seele wolle bloß ihre Erfahrungen machen, überzeugt mich also nicht. Denn die Seele kann das gar nicht selbst und schickt mich stattdessen her. Schwerwiegender aber als diese logische Unstimmigkeit ist eine andere. Denn mit der Herrin-Knecht-Metapher wird der Seele nicht nur Macht über mich, sondern auch eine ausgesprochene Gleichgültigkeit, am Ende gar Gnadenlosigkeit unterstellt. Ohne Rücksicht auf Verluste zieht sie ihr Programm, ihren sogenannten „Seelenplan“ durch. Und in diesem „Plan“ bin ich bloß eine Schachfigur, die keine Ahnung davon hat, was hier gespielt wird, ja nicht einmal ahnt, dass sie eine Schachfigur ist und als solche hin- und hergeschoben wird.

Derartiges nehme ich aber nicht wahr, wenn ich mich in die verborgene Seite meines Seins hineinfühle. Wie sollte das auch zugehen? Das hieße doch, dass ich bloß Mittel zum Zweck wäre, Gott also über meine Empfindungen und Gefühle, meine Traurigkeit, meine Angst und meinen Schmerz ungerührt hinwegginge. Sie wären ihm egal, er wäre ohne Mitgefühl. Zumindest würde sich sein Mitgefühl nicht bis in die Tiefen der materiellen Ebene seiner Schöpfung erstrecken.

Es ist schon so, dass das Ego sich gern wichtig nimmt. Dann verhärtet es sich, erhebt sich über andere, wird intolerant und rücksichtslos. Als eigensinniger Einzelkämpfer ist ein derart hartes, unflexibles Scheuklappen-Ego nicht in Beziehung, weder zu anderen Lebewesen noch zur Welt insgesamt, denn es fürchtet die Liebe. Weil es nicht in Beziehung ist, vernimmt es keine Weisung aus dem Innern, taub für die Stimme des Gewissens. Die Macht und Kontrolle dieses sich auftrumpfenden Besserwissers ist in der Tat eine Illusion. Und dennoch bin ich wichtig, wichtig für die Seele, wichtig für Gott. Das überhebliche Ego denkt gern hierarchisch, aber Liebe und Wahrheit kennen keine Hierarchie. Die Vorstellung, dass Gott seine „Favoriten“ hat, manche seiner Geschöpfe mehr liebt als andere, ist ein Beispiel für die verzerrte Wahrnehmung des isolierten Ego. Genauso wie jeder andere Mensch bin ich wichtig, insofern als ich die Möglichkeit verkörpere, unter erschwerten Bedingungen zu lieben.

In den Momenten, in denen ich die Lieblosigkeit des starren Ego überwinde, erkenne ich mit Freude, dass Liebe wahr ist. Ich spüre, dass ich in Beziehung bin und öffne mich für meine Verantwortung, dienstbar aber nicht unterwürfig. Demut überkommt mich, als ich der enormen Wichtigkeit meines Daseins innewerde. Die Welt meines täglichen Lebens scheint mir nicht nur wichtig, sondern gerade in seelisch-geistiger Hinsicht von zentraler Bedeutung zu sein.

Hier wird entschieden. Hier stehen wir vor dem Ungeheuren, sehen uns mit Gewalt und Zwang konfrontiert und müssen einen Entschluss fassen. Wie reagieren? Kämpfen? Fliehen? Erstarren? Ausgerechnet diese unsichere, von Ängsten und Hunger geplagte Kreatur Mensch wird an den Abgrund geführt. Ihr Auge ist trüb, sie sieht nicht viel. Was vergangen ist, hat sie vergessen, was auf sie zukommt, liegt im Dunkeln. Ihr fehlt die göttliche Perspektive der höheren Seele, die über die Grenzen von Zeit und Raum hinauszuschauen vermag. Natürlich, wer das Geschehen derart vollkommen erfasst, wie sie es zu tun vermag, der muss sich gar nicht entscheiden. Denn mit dem Sehen ist alles klar.

Die göttliche Seele sieht, was zu tun und zu lassen, was zu sagen und wo zu schweigen wäre. Aber eben nur „wäre“. Für sie muss alles Handeln im Konjunktiv formuliert werden, als eine abstrakte Möglichkeit. Fürs konkrete Tun bin ich zuständig, ich muss zur Tat schreiten.

Insofern kann man dem schlauen Faust zustimmen, als er Johannes paraphrasierte und behauptete: Im Anfang war die Tat. Der Mensch ist wesentlich ein Täter, denn die Welt, in die er sich hineingestellt sieht, ist eine Welt des Tuns. Und als Kreatur kann er nicht anders als tätig zu werden. Das trifft schon für seinen Anfang zu, denn bereits seine Geburt ist eine gewaltige, bahnbrechende Tat.

In der materiellen Welt kann die Seele nichts tun. Dort bin ich ihr Vertreter im Außendienst. Und da ich ein vergesslicher Mitarbeiter bin, bemüht sie sich, so gut es die Umstände zulassen, meine Erinnerung zu wecken. Das liegt ihr, denn der Innendienst ist ihr Metier. Ich tue also gut daran, mit ihr in Funkkontakt zu bleiben, wenn ich vermeiden will, Entscheidungen zu treffen, die mir mehr schaden als mich auf meinem Weg zu Liebe und Wahrheit zu fördern. Was aber schadet mir, was fördert mich? Schadet mir eine schmerzhafte Erkenntnis, Trennung, Ablehnung? Fördert mich beruflicher Erfolg, Anerkennung, Reichtum?

Ich spüre, dass sich diese Frage nicht einseitig aus meiner Außendienst-Perspektive beantworten lässt. Hier in der Welt der Nöte und Zwänge werden die Kriterien zur Beurteilung des Erstrebenswerten doch häufig genug von den Gesetzen des Verstandes diktiert. Er spricht die Sprache der Realisten, der harten Fakten. Wer unten ist, erfährt Unterdrückung, hat nichts zu melden. Wer oben ist, hat Leute unter sich, kann über sie bestimmen, auf sie herabschauen. Und wer ganz oben ist, legt fest, was für alle als Wahrheit zu gelten hat. In einem Land, das sich seiner Aufgeklärtheit rühmt, wird die Grausamkeit dieser Gesetze mit medial verbreiteten Floskeln wie Gerechtigkeit oder Chancengleichheit verbrämt. Das mag die Bildungsbürger genauso beruhigen und einlullen, wie es die Verlierer verbittern und resignieren lässt. So oder so, wenn ich das für mich Förderliche rein weltlich, diesseitig verstehe, komme ich nicht darum herum, nach Macht, Einfluss und Status zu streben. Denn wie diese Welt mir glauben macht, kann ich damit nicht nur meine Gier befriedigen, sondern auch meine Angst in Schach halten.

Die Seele aber funkt mir dazwischen. Sie lässt mich anderer Werte innewerden, Menschlichkeit zum Beispiel, Mitgefühl oder Barmherzigkeit.

Ich merke, dass mir der Kontakt guttut, ich atme auf, entspanne mich und in klaren Momenten erkenne ich, dass die Welt der Schützengräben mich täuscht, nicht die natürliche Welt selbst, die Wälder und Wiesen, Berge und Seen, sondern jene, die ich mir meinen Glaubenssätzen entsprechend gestaltet habe. Herrschaft und Kontrolle, so lernte ich zu glauben, seien unumgänglich, Besitz und Ansehen würden mich glücklich machen. Im Licht der Seelenerinnerung erkenne ich das als eine Lüge.

Ich erfahre, dass die vom Geist der Liebe und Wahrheit inspirierte Seele tatsächlich keine Hierarchie kennt, kein Machtgefälle, kein Höher oder Tiefer, nicht einmal eine Reihenfolge, wie sie in unserer Welt der Entwicklung überall sichtbar wird: Erst musst du dich unterordnen, später kannst du herrschen, erst die Arbeit im Schweiße deines Angesichts, dann das Vergnügen. Jetzt bist du noch eine junge Seele, später eine reife, noch später eine alte. Ich fühle, wie deprimierend diese Vorstellung ist und unwillkürlich kommt mir die Frage, wozu das alles gut sein soll. Wozu sich hocharbeiten, besser werden, schlauer werden? Es geht mir doch nicht gut, wenn ich mich über andere erhebe. Ich merke, dass sich mir dabei die Liebe entzieht. Stattdessen entwickle ich einen im Grunde lächerlichen Standesdünkel, werde hart und selbstgerecht. Folglich wird meine Furcht, abzustürzen und alles Erworbene zu verlieren umso größer, je höher ich komme. Ich fürchte die Verachtung und Missbilligung, mit der Meinesgleichen – und auch ich selbst – auf die da unten schauen, die Dummen und Verlierer. Und doch lehrt mich meine Seele, dass es mir nicht gut geht, wenn ich viel besitze. Je mehr ich ergattere, ich erkenne es mit Abscheu, umso mehr will ich haben.

Ich bin reich, sage ich – bist du glücklich?, fragt die Seele.

Ich bin arm, sage ich – bist du glücklich?, fragt die Seele.

Ich habe es weit gebracht, behaupte ich – kannst du loslassen? fragt die Seele.

Ich habe nichts erreicht, behaupte ich – kannst du loslassen?, fragt die Seele.

Ich bin gescheit, erkläre ich – kannst du lieben?, fragt die Seele.

Ich bin dumm, erkläre ich – kannst du lieben?, fragt die Seele.

Unermüdlich erinnert mich die geistgeborene Seele an das, was über mein begrenztes Dasein hinausweist, Werte, die mich mit dem Ewigen verbinden.

Stört mich das? Ärgert es mich, gefragt zu werden, ob ich glücklich bin? Fühle ich mich bedroht, wenn meine weltlichen Erfolgskriterien derart in Frage gestellt werden? Ich beobachte mich, ich beobachte andere und sehe, wie schnell wir anfangen, der Frage auszuweichen, sie zu relativieren: Wer ist schon glücklich?, frage ich. Was heißt das überhaupt? Ich habe genug damit zu tun, einigermaßen unbeschadet durch diese verrückte Zeit zu kommen. Lass mich bloß in Ruhe mit solchen Fragen! Wenn ich so reagiere, verschließe ich mich vor dem, was inwendig in mir lebt. Ich breche den Kontakt zur Seele ab. Sie ist weiterhin da und sucht auch weiterhin, mich in meinem Schützengraben zu erreichen. Aber da ich mich stumm stelle, greift sie zu gröberen Mitteln und gestaltet ihre Unterbrechungen dramatischer, damit ich sie schließlich doch zur Kenntnis nehme. Dann schlägt vielleicht eine Granate in meiner unmittelbaren Nähe ein, das Schlachtfeld bebt, die Splitter fliegen mir um die Ohren, oder mich ereilt eine Krankheit, ein Unfall oder sonst eine Widrigkeit, die mich zum Innehalten und Innewerden nötigt. Doch warum funkt mir die Seele überhaupt dazwischen? Kann sie mich nicht einfach in Frieden lassen? Wozu belästigt sie mich mit allerhand Aufgaben und Prüfungen, die ich, wie es scheint, in meiner eh viel zu kurzen Lebensspanne irgendwie zu bewältigen habe. Steuert sie mich, ihren Vertreter im Außendienst, etwa gezielt in Schwierigkeiten und leidvolle Situationen hinein. Zumindest scheint sie nicht gewillt, sie mir zu ersparen. Wieso nicht?  Ist es, wie meine spirituellen Freunde erklären, weil sie noch Schuld „abzuarbeiten“, Fehler wiedergutzumachen hat?

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