Licht aus dem Abgrund

Sieg den Schneeglöckchen!

Der Himmel hilft. Was wie der fromme Wunsch eines Bedrängten klingt, die letzte Hoffnung, ein verzweifeltes Flehen „Gott, hilf!“, ist in Wirklichkeit der Glaube an eine große Liebe. Ein jenseitiges Universum, nicht jene endlose Leere, die wir mit Radioteleskopen zu erforschen suchen, sondern ein belebtes und durchgeistigtes All, das sich unseren Augen genauso wie unserem Verständnis entzieht, begleitet jeden meiner Schritte auf dieser Erde. Was mich draußen umkreist, lebt auch in mir. Hier wird das Sinnbild vom Himmelreich in euch sehr konkret. Das im Außenraum Kreisende, Messbare, Berechenbare und Quantitative ist in mir als Gefühlsqualität erfahrbar. Ähnlich scheint die Grundannahme der Astrologie zu sein. Was mich umkreist, richtet sich in mir auf. Ich kann mich selbst insofern verstehen, als ich aufrecht zur Welt in Beziehung stehe. Was die Himmelskörper draußen bewegt, bewegt auch mich im Innern. Ich sage also nicht, dass die Sterne uns Menschen hier auf Erde bewegen, denn damit wäre das Universum bloß ein Uhrwerk, wären unsere Schritte im Voraus berechenbar. Ich spüre, dass das Verhältnis viel subtiler ist.

Wir reagieren auf das Wirken der kosmischen Mächte, dessen materielle und berechenbare Seite wir am Sternenhimmel beobachten können. Aber diese geistigen Mächte reagieren auch auf uns. Mensch und Himmel stehen in einer Wechselwirkung.

Wenn uns also der Himmel hilft, dann bedeutet das, dass wir auch dem Himmel helfen. Dieses Verhältnis erinnert mich an den Philosophen Hegel, der sinngemäß sagt, dass Gott im Menschen zu sich kommt. Dieses Zu-sich-kommen wird erst dann zur Wirklichkeit, wenn ich mich als geistgeboren erkenne. Da liegt ein Weg vor mir und ich habe, wie mir scheint, noch viele Schritte zu gehen. Der Himmel kommt mir helfend entgegen, indem er mir die Richtung weist, in die ich gehen soll. Mit der weltweiten und zugleich persönlichen Vertrauenskrise, die wie ein Schwert auf uns niedergegangen war, brachte sich mir das Innerste in Erinnerung, ein geistiges, höheres Selbst, das absolut vertrauenswürdig ist. Damit ist die Erinnerung, könnte man sagen, ein Weg in die Einweihung, gelebte Mystik.

Wir wissen schon lange, dass unsere Augen und Ohren nur ein kleines Spektrum aller Schwingungsfrequenzen erfassen, dass unsere Wahrnehmung also auf einen schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit beschränkt ist. Im Verlauf der Geschichte, irgendwann am Anfang der Neuzeit, haben wir Europäer uns dafür entschieden, die Reichweite unserer äußeren Sinne, insbesondere des Sehsinnes, mit Hilfe von technischen Geräten zu vergrößern. Wir lernten das weit Entfernte ebenso in den Blick zu nehmen wie das winzig Kleine. Das half uns, die Weltmeere zu durchkreuzen und die Erdoberfläche zu erkunden. Optische Instrumente versetzten uns in die Lage, die Materie bis ins Kleinste zu analysieren, sie uns nutzbar zu machen, neue Werkstoffe zu erfinden. All diese technischen Neuerungen ermöglichten uns aber auch, Kriege zu gewinnen, ferne Länder zu erobern und fremde Völker zu unterjochen.

Heute ist nicht zu übersehen, dass wir uns auf diesem Weg immer mehr von uns selbst entfernt haben, von dem, was bei uns im Innern lebt. Unzweifelhaft sind technische Hilfsmittel nützlich, aber offensichtlich verführen sie uns auch dazu, berauscht von den neuen Möglichkeiten, so weit in die Welt der Erscheinungen einzudringen, dass wir uns schließlich darin verlieren, nicht mehr zu uns zurückfinden. Die moderne Unterhaltungs- und Kommunikationstechnik zeigt das in aller Deutlichkeit. Sie scheint dazu angetan, uns ununterbrochen von der Selbstwahrnehmung im Hier und Jetzt abzulenken. Man sagt doch auch, dass ein Mensch außer sich ist, wenn er sich nicht mehr zu fassen weiß. Ich finde es bezeichnend, dass wir uns mit riesigen Radioteleskopen, ähnlich überdimensionierter Hörgeräte, dem Weltall zuwenden, in der Hoffnung aus fernen Galaxien Lebenszeichen aufzufangen.

Wir suchen Leben dort draußen. Aber suchen wir es auch in uns drinnen, nicht in körperlichen Reizen, sondern im Unbewussten, im verborgenen Reich des Seelisch-Geistigen?

Wenn ich mich daran erinnere, merke ich, dass es auch so etwas wie innere Sinne gibt. Die Sprache weiß doch davon. Wir gewinnen Ansichten im Äußeren, Einsichten im Innern, hören, was draußen ist, und vernehmen die Stimme des Herzens. Wir haben ein Gespür für Schwingungen, die sich bei uns als Stimmungen bemerkbar machen. Und für die Qualität von Orten scheinen wir ebenfalls einen inneren Sinn zu haben, den wir behelfsmäßig als Bauchgefühl bezeichnen. Vielleicht sitzt dort auch der innere Sinn für die Verfassung unseres Körpers, der uns das unmittelbare, nicht-rationale Wissen um die eigene Gesundheit beschert. Es ist symptomatisch für unsere Zeit der radikalen Veräußerlichung, der aggressiven Behauptung des nur dieses, dass uns gerade diese Fähigkeit abgesprochen wird. Eine materialistische Medizin, die manche treffend Maschinenmedizin nennen, muss die inneren Sinne leugnen. Aus ihrer Sicht können wir unserem Gespür nicht trauen, nur Geräte und Laborwerte seien in der Lage uns zuverlässig über den Zustand unseres Körpers Aufschluss zu geben. Man solle sich regelmäßig untersuchen lassen, vorbeugend, versteht sich, denn man könne nie wissen, welches Übel gerade dabei ist, den Körper zu befallen.

Der Himmel hilft, indem er unsere Erinnerung weckt, wachruft und belebt, was als Samen lange Zeit unbeachtet in kalter Erde lag. Zumindest, so scheint mir, trifft das für einige von uns zu. Aufgerüttelt durch das, was wir mit Entsetzen beobachten, die scheinbar unaufhaltsame Verwandlung der vielen in sorgsam programmierte und zuverlässig funktionierende Maschinen, fühlen wir – und fühlen es erst recht, muss man sagen –, wie sich in uns etwas Seelisch-Geistiges regt. Denn uns beflügelt der Ruf nach Frieden und Freiheit, den wir als Parole auf die Straße tragen. Das Verlangen nach Frieden drückt die Sehnsucht der Seele aus, der Appell zur Freiheit die geistige Herkunft unseres inneren Ich. Aber warum muss der Himmel uns aufrütteln? Doch wohl nur weil wir geschlafen haben, vielleicht immer noch schlafen.

Wir rufen den anderen zu: Wacht auf! Aber was meinen wir damit? Eindringlich bitten wir, dass sie – endlich! – die Fakten zur Kenntnis nehmen, aber daraus wird nichts. Vielmehr halten sie uns andere Fakten, ihre Fakten, entgegen. Früher oder später verstehen wir, des vergeblichen Rechtens müde, dass dieses Aufwachen nicht intellektuell oder kommunikativ zu bewerkstelligen ist. Aber wieso nicht? Geht es denn nicht darum, die anderen aufzuklären? Offenkundig nicht. Aufzuwachen ist etwas anderes als Bescheid zu wissen, die Machenschaften der Mächtigen, ihre perfiden Intrigen, zu durchschauen.

Natürlich kann uns die eine oder andere Nachrichtenquelle die Augen öffnen. Aber öffnet sie uns auch die Augen für uns selbst? Öffnet sie uns das innere Ohr, zu vernehmen, was sich in uns aus der Verborgenheit des Seins meldet?

Wach auf! Heißt das nicht vielmehr, erinnere dich deiner Menschlichkeit? Erinnere dich daran, dass es in dir eine Autorität gibt, die bedeutender und glaubwürdiger ist als jede weltliche Macht oder Moral. Wozu sonst sollte uns der Himmel derart heftig aufrütteln? Doch nicht, damit wir anfangen, die „richtigen“ Informationsquellen zu nutzen. Werde deiner selbst inne, ruft er uns zu, vernimm die Stimme des Gewissens und erkenne in ihr deine einzig wahre Führerin! Denn die Menschlichkeit ist in Gefahr, das ist nicht zu leugnen. Rechthaberei wird die Gefahr aber nicht bannen. Wenn es um meine Menschlichkeit geht, wenn ich sie bewahren will, darf ich weder anderen gehorchen noch über sie herrschen wollen. Beides würde mich fesseln und mit meiner Freiheit wäre es vorbei. Doch das genügt nicht. Ich spüre, dass es Hingabe braucht, Mitgefühl, denn die Menschlichkeit muss sich im Miteinander bewähren. In ihr finden Frieden und Freiheit zusammen.

Bedarf es zu solcher Erkenntnis der Not? Sollte die als Himmel bezeichnete geistige Welt dieses ungeheure irdische Drama, die Konfrontation mit der Macht des Bösen, nur inszeniert haben, damit wir bei uns selbst, in der bergenden Verborgenheit unserer Seele Zuflucht suchen? Erinnere dich, sonst bist du verloren! Ist es wirklich so, dass sich mein Gewissen erst angesichts einer tödlichen Bedrohung regt? Die Behauptung, der Mensch lerne nur in der Bedrängnis und sei bloß dann zur Veränderung bereit, wenn die Umstände ihn dazu zwingen, mutet archaisch an, wie der Glaubenssatz einer düsteren Vergangenheit. Ich würde sie gern widerlegen, kann es aber nicht. Schon eine erste Selbstprüfung raubt meinen Gegenargumenten den Boden. Ich muss einräumen, dass die Realität, meine Realität, anders ist, als ich sie gerne hätte. Denn wäre ich bereit gewesen, meinen Selbstbetrug aufzudecken, wenn ich mich nicht mit dem weltweiten Betrug der Macher und Mächtigen konfrontiert gesehen hätte? Wäre ich ohne der schmerzlichen Erkenntnis, dass so vieles in der Welt durch und durch faul ist, jemals meiner eigenen faulen Kompromisse überdrüssig geworden? Hätte ich mir eingestanden, wie weitgehend ich mich von Erfolg und Anerkennung korrumpieren ließ, wenn mir nicht die gnadenlose Effektivität von Käuflichkeit und Erpressung dort draußen gezeigt worden wäre?

Aber dort draußen ist auch mein Garten, der zurzeit voller Schneeglöckchen ist. Die Fußgänger auf der Straße bleiben stehen und staunen über die kleinen Frühlingsboten, die hier in einer schier unglaublichen Fülle hervortreten. Das Bild dieser kühnen Pioniere inspiriert mich. Wie aus dem Nichts tauchen sie auf, mitten im Winter, zart, fast poetisch, und zugleich erstaunlich robust. Was bewegt sie, jene Pflänzchen, die der Botaniker Galanthus nennt, ausgerechnet in dieser wenig verlockenden Jahreszeit zu erscheinen? Bedürfen sie der Kälte, des Schnees oder eisigen Windes, um wachsen zu können? Warten sie ihren Moment ab, eine astronomische und meteorologische Zeitqualität, die es ihnen erlaubt, ihrem inneren Antrieb zu gehorchen? Oder – ganz kindlich gefragt – sind sie es selbst, die die Welt bewegen und diesen Moment hervorbringen? Sind sie es, mit anderen Worten, die den Winter besiegen? Muss der sich geschlagen geben, weil sie es geschafft haben, aus der kalten, erstarrten Erde hervorzubrechen? Darf ich so fragen? Warum nicht? Wenn mich mein Verstand schon zwingt, kausal zu denken, dann könnte ich doch wenigstens hin und wieder mal die Kausalitätsrichtung ändern.

Der Winter muss weichen, weil es die Schneeglöckchen geschafft haben, den harten Boden zu durchbrechen. Aus dem Inneren der Erde taucht etwas auf und ändert die Geschicke der äußeren Welt.

Das ist traumhaft oder mythisch gedacht und die Vorstellung gefällt mir. Wahrscheinlich haben unsere Ahnen in einer vorrationalen Zeit ähnlich empfunden. Natürlich ist das „unwissenschaftlich“, aber das kümmert die Schneeglöckchen nicht und mich, ehrlich gesagt, auch nicht. Vielleicht sollten wir öfter mal „animistisch“ denken und uns, wie im Traum, die Welt als beseelt vorstellen. Wir werden schon nicht gleich in die Barbarei zurückfallen. Im Gegenteil, haben wir nicht mit dem groß angelegten Entseelungsprojekt der Moderne gerade der Barbarei Vorschub geleistet?

In der Not lernt man das Beten, sagt der Volksmund. Ich erinnere mich, diesen Satz in seiner niederländischen Variante als Kind öfter von meiner Mutter gehört zu haben. Er klang für mich damals vage bedrohlich. Wehe, wenn die Not kommt! Du wirst schon sehen! Die Redewendung indes kann man so oder so verstehen. Äußerlich betrachtet, sieht man, wie widrige Umstände Anlass und ursächlich verantwortlich für das Beten sind. Man ist so verzweifelt, sieht keinen Ausweg und weil einem nichts anderes mehr einfällt, fängt man eben an zu beten. Kann ja nicht schaden!

Aber könnte es nicht auch sein, dass sich angesichts einer Notlage das Gebet bei mir meldet, dass ich mich spontan nach innen wende, weil ich spüre, von dort kommt die Wende? Ich erinnere mich. Natürlich hätte ich das gleich am Anfang tun können, als meine Lage noch nicht so desaströs war. Aber da glaubte der Macher in mir noch, er müsse und könne die Probleme allein bewältigen. Ich brauchte also eine Weile, bis ich merkte, dass dieser Macher zwar zuverlässig Probleme kreieren, sie aber nicht so gut lösen kann. Streckt er dann die Waffen, räumt seine Unfähigkeit ein und flüstert ein hingebungsvolles Dein Wille geschehe!, tritt sogleich eine Entspannung ein. Schon wenn es mir gelänge, für kurze Zeit in mir zu ruhen, würde sich meine Situation nicht mehr ganz so bedrückend anfühlen. Aber die Anerkennung, dass die mich bedrängenden materiellen Umstände nur mit Hilfe der seelisch-geistigen Dimension meiner Realität verändert werden können, bewirkt noch mehr. Sie setzt in mir kreative Kräfte frei, die es mir nicht nur ermöglichen, anders zu schauen, sondern auch, anders zu verstehen und zu handeln.

Weil sich die Welt ändert, ändert sich auch mein Leben. Das klingt wie eine Banalität, können wir doch täglich erfahren, dass die Feststellung zutrifft, oder besser: zuzutreffen scheint. Dort draußen taucht eine Bedrohung auf und ich gerate in Not. Aber dieser Hergang zeigt nur die eine Seite der Realität. Das Erscheinende, lehrt das nicht auch die Erfahrung?, kommt aus dem nicht Erscheinenden, das Dasein aus dem Sein, das Schneeglöckchen aus dem undurchschaubaren, meinen Blicken verborgenen Erdreich. Das gilt auch für mich. Ich bin nicht bloß Geschöpf. In mir ist auch der Schöpfer, eine schöpferische, kreative Kraft. Von dort her gestaltet sich mein Leben.

Deshalb ist das Umgekehrte gleichfalls wahr: Die Welt ändert sich, wenn ich mich ändere, wenn das Schöpferische durch mich zum Ausdruck kommt.

Es ist keine quantitative und messbare, eher eine qualitative Änderung, so als würde sich die Farbe, der Klang oder Duft ändern. Eine andere Stimmung, eine andere Einstellung ist möglich. Und darauf kommt es an, für jeden von uns. Es sind viele Schneeglöckchen, die den Dark Winter besiegen. Und so wie sie mit ihrem Erscheinen den Winter bedeuten, dass seine Zeit vorbei ist, so zeigen wir mit dem Erscheinen unserer Schöpferkraft dem Himmel, dass eine neue Zeit naht.

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