Licht aus dem Abgrund

Selbsterinnerung

Von vielen Seiten in meiner Umgebung wird die Bedeutung des Bewusstseins und der Bewusstseinserweiterung betont. Man solle die Schwingung erhöhen und in höhere Dimensionen aufsteigen. Dass ich ein beseelter, vom Geist inspirierter Mensch bin, kann mir tatsächlich unbewusst bleiben. Dann merke ich nichts davon und hege Vorstellungen, die mein Selbstverständnis stark beschränken. Identifiziert mit meinem Körper und meinem Verstand vergesse ich, wo ich herkomme. Um mir dessen Gewahr zu werden, wer ich wesentlich bin, muss ich mich also meines Ursprungs erinnern. Anders gesagt, es geht darum, sich seiner selbst zu erinnern. Erst dann gelangt der verlorene Sohn zur Umkehr, kehrt er zum Vater, zum geistigen Ursprung zurück.

Aber was verstehe ich eigentlich unter Erinnerung, einem Wort, das uns so geläufig ist, dass wir es mehr oder weniger automatisch benutzen? Wir gehen ja nicht immer bewusst mit der Sprache um, achten häufig stärker auf das, was wir sagen wollen, und weniger darauf, wie wir es sagen. Wir unterscheiden nicht genau und so benutzen wir beispielsweise Wörter, die Ähnliches zu bedeuten scheinen, als gegenseitig austauschbare Synonyme – auch wenn es sich um ganz verschiedene Wörter handelt. Im Falle der Erinnerung ist das scheinbare Synonym Gedächtnis. Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich die Begriffe allerdings beträchtlich voneinander. Gedächtnis kommt von Gedachtem, Erinnerung dagegen von wieder Innewerden. Wie gelangt etwas in mein Gedächtnis? Es kommt von außen und wird von mir hereingenommen. Die Erinnerung dagegen kommt, wie das Wort schon sagt, aus dem Innern. Aber läuft das am Ende nicht auf das gleiche hinaus? Ist nicht auch das Gedachte irgendwie innen in mir?

Erkennen oder hören wir den grundlegenden Unterschied zwischen Erinnerung und Gedächtnis nicht mehr, so ist das wohl auch eine Folge der weltweiten Dominanz der englischen Sprache vor allem im Bereich der Wissenschaft und Technik, in denen es von Anglizismen ja nur so wimmelt. Die englische Sprache hält für beides, Gedächtnis und Erinnerung, dasselbe Wort bereit, nämlich memory. Da dieses Wort außerdem den Arbeitsspeicher eines Computers bezeichnet und es sich genauso wie das verwandte Wort remembrance vom lateinischen memoria ableitet unddamit auf eine Gedächtnisleistung verweist – man denke an das Memorisieren! –, scheint das Englische kein geeignetes Wort für das Innewerden im Moment der Erinnerung zu haben.

Wenn wir nun beide Begriffe im täglichen Gebrauch einander gleichsetzen, so führt das nicht nur zu mangelnder Differenzierung und einem Verlust an Bedeutungstiefe, es sagt auch einiges über unsere Beziehung zu uns selbst aus. Diese sollte uns doch wichtig genug sein, sie zu erforschen. Bin ich überzeugt, dass mir nur einfallen kann, was ich vorher einmal in meinem Gehirn „abgespeichert“ habe? Oder glaube ich, dass solche Einfälle unabhängig von meiner bewussten Denktätigkeit geschehen, dass in mir also ein Unbewusstes, Verborgenes ist, das mehr oder weniger autonom agiert? Man kann es noch zugespitzter formulieren: Das Konzept Gedächtnis macht mich zu einer Daten verarbeitenden Maschine, angewiesen einzig und allein auf einen Informationsfluss von außen, anfällig für Manipulationen jeglicher Art. Demgegenüber erlebe ich mich in der Erinnerung als unmittelbar kreativ, fähig, das Gegebene immer wieder neu zu sehen und zu verstehen.

Auf der Grundlage der hier angedeuteten Glaubenssätze lassen sich also mit den beiden Begriffen Gedächtnis und Erinnerung zwei Weltanschauungen assoziieren: eine materialistische, technische und eine geistige, spirituelle.

Versuchen wir es konkret zu denken! Ich kann einen anderen auf etwas aufmerksam machen, was er gerade nicht bedenkt, ihm zum Beispiel einen vergessenen Termin ins Gedächtnis rufen. Etwas anderes ist es aber, wenn ich ihn an etwas erinnere, denn damit löse ich in ihm einen Prozess aus. Es kann ein Wort sein, ein Blick oder eine Handlung, Äußerungen, mit denen ich, ohne es zu beabsichtigen, im Menschen mir gegenüber eine Erinnerung wecke. Mit anderen Worten: Erinnern ist stets ein sich Erinnern; niemand kann das für uns tun. Es ist, weil wir diesen Unterschied zwischen Gedächtnis und Erinnerung nicht mehr sehen und erleben, dass wir die Begriffe verwirren. Dann sagen wir Sätze wie: „Ich möchte dich daran erinnern, dass du morgen um 14:00 Uhr einen Zahnarzttermin hast.“ Wir erfahren nicht mehr dieses Innewerden des Seins, alles ist nur noch draußen, wie Daten auf einer Festplatte.

Erinnerung ist nicht steuerbar, nicht planbar. Sie taucht aus der Verborgenheit meines Unbewussten auf. Wenn ich mich beispielsweise über die Unaufrichtigkeit einer Kollegin ärgere und mich über sie erhebe, sich im nächsten Moment aber die gleiche Charakterschwäche bei mir selbst bemerkbar macht, noch bis in meine Mimik und Gestik hinein, ich mein Gegenüber also in mir erlebe, werde ich mir plötzlich meiner eigenen Unaufrichtigkeit inne. Meine Umgebung merkt das gar nicht; ich bin mit dieser Erkenntnis allein. Das ist etwas wesentlich anderes, als wenn mir jemand einen Spiegel vorhält. So etwas beschämt mich vielleicht, greift mich an und macht mich aggressiv, wonach ich mir derlei Belehrung verbitte.

Die Erinnerung aber lässt mich still und betroffen werden. Ich sehe und fühle mich auf intime Weise mit mir selbst konfrontiert.

Auch wenn Erinnerung nicht machbar ist, würde ich doch gern für sie empfänglicher sein. Wie kann ich aber dieses Innewerden des Seins, diese Seelenerinnerung, fördern? Wie könnte ich zum Beispiel Kinder dabei unterstützen, mit sich selbst in Beziehung zu treten? Ja, was glaube ich denn? Ich kann überhaupt nichts, sofern ich nicht mit mir selbst in Beziehung bin. Ich würde mich arg täuschen, zu meinen, es ginge hier um eine Technik, so etwas wie eine Didaktik des Erinnerns. Oh, dazu würde mir schon einiges einfallen, Lektion 1, Lektion 2 … und bald wäre es fertig, das Konzept zum neuen Unterrichtsfach „Innewerden“. Aber so geht das nicht. Bei einer Demonstration für die Rechte der Kinder sagte ich einmal in einer kurzen Ansprache: Der Mensch bildet sich am Menschen. Ich hätte auch sagen können: Wache Menschen bilden sich an wachen Menschen. Das geschieht aber nicht dadurch, dass sie aufrüttelnde Dinge tun oder sagen, sondern indem sie so sind, wie sie sind.

Als ich noch im Schuldienst war, kurz vor meinem Ausstieg, unterstellte mir die Schulleitung politische Agitation im Klassenzimmer. Das hat mich damals irritiert; die Vorstellung war grotesk, da ich doch gar nie mit meinen Schülern über politische Themen sprach. Im Gegenteil, ich achtete stets genau darauf, keine Meinungsmache zu betreiben. Das verlangte mir einiges an Disziplin ab, sah ich doch, dass sich Politik und Medien ihrerseits keineswegs scheuten, mit dreister Dauerpropaganda massiv in die Meinungsbildung meiner Schüler und ihrer Eltern einzugreifen. Da blieb mir nur noch die Möglichkeit, die Heranwachsenden zum selbstständigen Denken anzuregen. Das ist noch keine Selbsterinnerung. Aber das bewusste Hinterfragen dessen, was man hört und sieht, führt schließlich zu einer Selbstbesinnung, die für Impulse aus dem Verborgenen sensibilisiert. Und während ich meine Schüler dazu animierte, selbst zu denken, tat ich natürlich mein Möglichstes, jede Art von Manipulation zu vermeiden. Deshalb verstand ich den Vorwurf nicht. Meine Frau machte mich dann aber darauf aufmerksam, dass ich als der, der ich bin, auf die Schulleitung bereits beunruhigend wirke. Ohne konkret etwas tun oder sagen zu müssen, war ich als Mensch zum Unruheherd, zum Störfaktor geworden. Das leuchtete mir ein. Und so tröste ich mich damit, als ein solcher Störenfried in guter Gesellschaft zu sein, wurde doch bereits Sokrates vorgeworfen, die Jugend zu verderben und Gedanken zu verbreiten, die jede staatliche Ordnung zersetzten.

Warum kommt mir hier ausgerechnet Sokrates in den Sinn? Richtig! Nach Aussage seines Schülers Plato habe er gelehrt, alles Lernen sei ein Sich-erinnern.

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