Der Schrecken der Situation
Ich glaubte schon, den Abgrund überwunden zu haben. Doch eine Freundin, in die Rolle des Advocatus Diaboli geschlüpft, führte mich erneut an den Rand des Schlundes, zwang mich hineinzuschauen. Sie meinte es nicht böse, wollte mir nur die Augen für eine Realität öffnen, die ich, wie sie meinte, zur Kenntnis nehmen sollte. Und diesmal gewahrte ich in der Tiefe kein Licht, nicht einen Schimmer. Vielmehr zeigte mir meine Begleiterin den scheinbar unaufhaltsamen Weg der Menschheit weiter hinab in die Tiefe, in eine düstere, leblose Unterwelt, aus der es keinen Ausweg gibt. Ich fühle mich an Dante erinnert. „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.“ Ihre Zukunftsvision, diese grauenvolle Prognose, griff mich an, warf mich zu Boden.
Was mir meine Führerin zeigte, war der Siegeszug einer totalen Technik, eine Science-Fiction, die ohne Natur und Natürlichkeit auskam, in der alles von Maschinen gemacht und gesteuert wurde, unsere Körperfunktionen, unsere Interessen und Vorlieben, was wir dachten und wollten, unsere Vergangenheit, unsere Zukunft, unsere Nachkommen – alles. Unnachgiebig wies sie mich auf dieses seelenlose Dasein der vielen hin, die sich schließlich, perfektionierten Biorobotern gleich, der Erde entledigen würden, um auf einem anderen Planeten ihre zerstörerische Arbeit fortzusetzen.
Das also war die neue Hölle, ein reines Diesseits, die unumkehrbare Verbannung in die materielle Dinglichkeit. Es war eine Welt, in der sich die Menschen nicht länger nach dem Bilde Gottes, sondern nach dem Bilde einer Maschine erschaffen sahen.
Für diese Verfluchten gab es nichts Verborgenes mehr, keine innere Zwiesprache, kein Gewissen, keine geistige Führung, keine Seele. Und wie Maschinen waren sie zur endlosen Wiederholung des Immergleichen verdammt, zum mechanischen Wechsel ihrer Modi: funktionieren, konsumieren, amüsieren, regenerieren, funktionieren, konsumieren, amüsieren, regenerieren und so weiter und so fort. Es gab keine Not, denn nur die materielle Not zählte noch und die war abgestellt. Es gab keine Sehnsucht, denn nur die Bedürfnisse des Körpergerätes hatten noch Geltung, und für deren Befriedigung wurde gesorgt. Freiheit und Liebe waren endgültig als vorwissenschaftliche, romantische Illusionen entlarvt.
Traf Dante in der Hölle noch Seelen an, die von Leidenschaften verzehrt wurden, von Ingrimm, Selbstgerechtigkeit, Hass, Pein und Verzweiflung, so waren es immerhin Seelen. Doch das finstere Reich, in das mich meine Kassandra hinabzuschauen zwang, kannte solche Qualen nicht. Die Heerscharen dieser Hölle litten nicht darunter, dass das, was sie hatten, nicht ihrem Sein, ihr kreatürliches Dasein nicht der kreativen Kraft ihrer gottgegebenen Seele entsprach. Sie fühlten dieses Spannungsverhältnis nicht, da die eine Seite dieser Dualität abgeschafft worden war. Sie lebten also nicht im Spannungsfeld zwischen Körper und Geist und erst recht nicht in der harmonischen Einheit von Diesseits und Jenseits, im ewigen Jetzt erleuchteter Seelen, sondern liefen als reibungslos funktionierende Maschinen in einer monotonen Endlosigkeit. Es gab keine Störung, keine Unterbrechung, kein Leiden an Sinnlosigkeit. Mag sein, dass im Weltbild des Mittelalters der fehlgeleitete Mensch einer war, der seinen animalischen Trieben, dem Drängen seines Lebensleibes oder Triebseele erlag. In der Zukunftsvision meiner Führerin sah ich anstatt triebhaften oder tiergleichen Menschen nur mehr digital gesteuerte und mechanisch angetriebene Techno-Organismen.
Das mir von der selbsternannten Realistin gezeigte Bild einer baldigen Zukunft, verstörte mich so sehr, dass ich kaum etwas erwidern konnte. Erst später fand ich Worte, die ich gerne entgegnet hätte. Die höhere Seele, diese uns vom Geist eingehauchte würde doch nicht verschwinden, nichts könne sie zerstören, ganz gleich mit welcher Begründung Ideologen sie für abgeschafft erklären würden. Und weiter erklärte ich mir selbst, denn es war niemand da, mich zu hören, dass es allerdings möglich wäre, unseren göttlichen Ursprung, das also, woher wir beseelt werden, vollständig zu vergessen. Wir konnten sogar leugnen, dass es diese Quelle unseres Seins gab. Ohne Erinnerung, die immer ein Innewerden jenes Seins ist, wurden wir doch einseitig, verloren uns in dieser Einseitigkeit. Mit solchen Behauptungen suchte ich mir die Macht der düsteren Dystopie verständlich zu machen und sie zugleich zu relativieren. Schließlich wiederholte ich, als wollte ich mich selbst beruhigen, dass es ein Jenseits gab, eine Dimension des Seins, in dem die Gesetze der Materie ohne Bedeutung waren, dass es eine göttlich-geistige Führung gab, dass die höhere Seele unsterblich wäre.
Ich merkte, mich drängte die Konfrontation mit der scheinbaren Unausweichlichkeit einer vollständig technisierten Realität zu diesem leidenschaftlichen Glaubensbekenntnis. „Das wird kommen!“, beschwor meine Höllenführerin, und ich geriet fast in Panik, suchte Zuflucht zu dem, was ich mir unter einer göttlichen Seele vorstelle. Das zeigte mir zweierlei. Zum einen erfuhr ich, wie sehr ich bislang bei meinen Idealen Halt gesucht hatte, zum anderen, dass dieser Halt illusorisch war. Man führte mir die ganze Macht des Gesetzes, der gesetzmäßigen, unaufhaltsam voranschreitenden Entwicklung vor Augen und schon war in dieser Welt für meine Ideale kein Platz mehr. Sie waren sowohl wörtlich als auch in übertragenem Sinne unhaltbar geworden.
Warum war das so? Ließen sich meine Vorstellungen bloß von der größeren Realisierbarkeit anderer Vorstellungen verdrängen? Genügte es, dass die mich konfrontierende Realistin auf die größere Wahrscheinlichkeit ihrer Zukunftsvision verweisen konnte? Zerschellten, mit anderen Worten, meine Ideale an den schroffen Klippen einer felsenfesten Realität? In gewissem Sinne schon, aber anders, als es die Unheilsbotin meinte, denn meine Ideale hielten der Konfrontation mit meiner eigenen Realität nicht stand. Es gab im Grunde nur eine Realität, die Realität des Jetzt und die konnte ich immer nur als meine momentane Situation erfahren. Alles andere waren intellektuelle Konzepte, die entweder dadurch entstanden, dass ich bestimmte Fäden der derzeitigen Entwicklung weiterspann oder dadurch, dass ich bewusst ein Gegenmodell entwarf. Solche Konzepte hatten mit der Realität des Hier und Jetzt nichts zu tun. Wenn mich die Prophezeiung jener eifrigen Kassandra von einem auf den nächsten Moment derart dramatisch zu schwächen vermochte, führte mir das vor Augen, dass meine Ideale substanzlos waren. Ich konnte aus ihnen keine Kraft schöpfen. Ich meine hier keine physische Kraft, keine Muskelkraft oder Vitalität.
Mir geht es um eine innere Stärke. Sie stellt sich nicht wie ein Panzer oder eine Trutzburg dar, ist doch gerade eine harte und starre Abschottung vielmehr ein Zeichen der Schwäche.
Die innere Stärke erlaubt es mir, auch unter unangenehmen oder bedrohlichen Umständen gelassen zu bleiben, das heißt, ohne Verteidigung, ohne Fluchtreaktion dem Schrecken der Situation zu begegnen. Ideale, Vorstellungen von dem, was schön und wünschenswert wäre, entführen naturgemäß aus der Realität des Jetzt. Dasselbe gilt auch für jegliche Schreckensvision einer seelenlosen Zukunft. Nur in der unmittelbaren Erfahrung des Momentes zeigt sich, wie es um mich steht, wie viel Kraft ich tatsächlich habe, wie viel ich ungerührt tragen und ertragen kann. Die Konfrontation mit dem Jetzt ist insofern immer eine Konfrontation mit mir selbst. Dabei bringt sich mir etwas in Erinnerung, dass ich immer wieder vergesse, solange ich mich in Ideale gehen lasse.
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