Licht aus dem Abgrund

Gewissen – das unerklärliche „Trotzdem“

Der bedingungslose Schutz der Kinder kennzeichnet eine Kultur des Mitgefühls und der Barmherzigkeit. Dieser Schutz ist immer konkret und unmittelbar. Er ist entweder hier und jetzt, oder er ist gar nicht. Man sieht die Bedrohung des Kindes, man spürt seinen Schmerz – und handelt. Wer beobachtet, dass ein Kind von einem wütigen Hund angegriffen wird, geht sofort dazwischen, lässt sich nicht von der Angst vor Bissen und Schmerzen davon abhalten. Weint ein Kind, ist es traurig oder verzweifelt, so tröste ich es und frage nicht danach, ob sein Rotz mich beschmutzen oder krank machen könnte.

Traditionell galt das Kindeswohl bei uns immer viel; es war ein hohes, schützenswertes Gut. Dementsprechend wird die Misshandlung von Schutzbefohlenen nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern vom Gesetzgeber auch besonders hart geahndet.

Aber am Rande des Abgrunds blieb vom Kindeswohl nicht viel mehr übrig als ein abstraktes Konzept, wohlfeiles Gerede, das konkret wenig bedeutete. Im Umgang mit den Kindern ließen es Heerscharen von Eltern und Lehrern an Güte und Mitgefühl fehlen.

Plötzlich war unser Weltbild von Lieblosigkeit geprägt. Wir nahmen die Verletzung von Kindern achselzuckend zur Kenntnis, zwangen sie gar aggressiv zu einem selbstschädigenden Verhalten, um uns vor einer mutmaßlichen, abstrakten, hypothetischen Gefahr zu schützen? Wie konnte es so weit kommen? Ließ unser kühl und sachlich analysierende Intellekt unser Herz erkalten? Oder war unsere Vernunft ein so theoretisches Gebilde, dass sie in der Praxis kläglich versagte und unter dem Ansturm irrationaler Ängste komplett zusammenbrach?

Je länger der Wirbel dieser kreisenden Krise andauerte, umso klarer sah ich, dass ein einseitig nach außen gerichtetes Verstandesdenken für diesen Mangel an Güte verantwortlich war. Damit waren wir an den Abgrund geraten und standen vor dem Nichts. Ich sah wohl die skrupellosen Verschwörer, den mächtigen digital-pharmazeutisch-finanziellen Komplex. Aber ich erkannte darin vor allem ausgeprägte Vertreter einer durch und durch materialistischen Denkweise, die naturgemäß weder Gewissen noch Gnade noch Liebe kennt. Jene Strippenzieher zeigten mir besonders deutlich, wohin ein solches Denken zwangsläufig führt. Solange wir davon überzeugt waren, ein gesundes, glückliches und langes Leben sei technisch „machbar“, sämtliche Lebensprozesse maschinell steuerbar, dachten wir nicht grundsätzlich anders. Schätzten wir denn selbst nicht auch das Tun und die Kontrolle höher als das Sein und die Hingabe?

Es war ein trostloser Ausblick, den mir das in seiner Kreatürlichkeit isolierte Ego bot. In seinem mechanistischen Weltbild gab es nichts Verborgenes, von der erscheinenden Welt Unberührtes, nichts Jenseitiges, das spontan und im wörtlichen Sinne un-bedingt hervortrat, kein Mitgefühl, keine Barmherzigkeit. Mir wurde klar vor Augen geführt, dass die materialistische Weltanschauung per se ungnädig ist. Sie macht uns alle zu berechnenden Egoisten: Wie stelle ich mich selbst in ein gutes Licht? Welchen Vorteil bringt es mir, mich mit diesem oder jenem Menschen gut zu stellen? Und wenn es meiner Karriere nutzt, wegzuschauen oder mich unterzuordnen, so tue ich das eben. Gefangen in den Denkzwängen des kalkulierenden Verstandes, kann man sich so etwas nutzloses, unprofitables wie Liebe nicht vorstellen, die bloße Freude daran, einen anderen Menschen glücklich zu sehen.

Und ich? Wie war es um mich bestellt? In atemberaubendem Tempo war ich durch die erste Stufe meiner Einweihung geschleudert worden. Die Zerstörung so vieler Illusionen hatte mich kopfüber in eine tiefgreifende Enttäuschung gestürzt. Kaum hatte ich mich davon erholt, stand ich im feurigen Licht eines unerbittlichen Türstehers. Ich sah, dass dieser Schwellenhüter mich nicht eher in die Welt der Mystik einlassen würde, als ich mich einer eingehenden Selbstprüfung unterzogen hatte. Was hatte ich vorzuweisen? Was davon konnte im Licht der Wahrheit bestehen? Wer war ich überhaupt? Und während meine außenweltlichen Hüllen, meine persönlichen Panzer, dahinschmolzen, näherte ich mich der dritten Stufe meiner Einweihung. Und ich sah mich mit der Frage konfrontiert, welches Wollen mich innerlich bewegte.

Mir ging das Schicksal der Kinder zu Herzen, immer schon.

Das meinte ich aufrichtig sagen zu können. Aber warum war das so? Woher kam meine Motivation, ihnen zu helfen. Waren konventionelle Moralvorstellungen im Spiel? Trieb mich gar der Ehrgeiz oder die Selbstgefälligkeit? War es die Angst vor Untätigkeit, vor einem Dasein ohne Bedeutung? Wollte ich also helfen, damit es mir besser ging, weil ich irgendwie nützlich machte? Irgendetwas muss man ja schließlich tun.

Vielleicht ließ sich die Frage meiner Motivation nur klären, wenn ich eine zweite hinzuzog: Wozu oder wohin sollte meine Hilfe führen? Als Pädagoge hatte ich früh gelernt, dass sie immer eine Hilfe zur Selbsthilfe sein sollte. Jede andere Unterstützung machte abhängig, unselbstständig. Als junger Idealist und angehender Lehrer, stark beeindruckt von Krishnamurtis Gedanken zur Erziehung, hatte ich nichts Geringeres als die Freiheit des Kindes im Sinn gehabt. Damit hatte ich mir ein Ideal erkoren, dem ich lange Zeit nicht gewachsen gewesen war, viel zu sehr verstrickt in Leidenschaften, viel zu überzeugt von meiner eigenen Wichtigkeit. Dennoch, je mehr ich menschlich reifte und als Lehrer an Erfahrung gewann, umso klarer erschien mir die Freiheit des Kindes von zentraler Bedeutung. Dabei war mir von Anfang an klar, dass es nicht darum ginge, gesellschaftliche Schranken zu durchbrechen und Konventionen zu überwinden. Ich sah sehr wohl die Hindernisse, Schwächen und Konditionierungen in mir selbst und ebenso in meinen Schülern. Folglich war meine erzieherische Arbeit im Grunde ein gemeinsames Ringen um ein tieferes Selbstverständnis. Für mich war das der Kern meiner Lehrtätigkeit, doch mit dieser Auffassung stand ich zumeist allein. Und so überrascht es nicht, dass ich mit Widerständen konfrontiert wurde. Mal hieß es, ich würde die Kinder überfordern, mal wurde befürchtet, ich hielte den amtlichen Lehrplan nicht ein, und ganz subtil wiesen die Kolleginnen mich darauf hin, ich möge doch nicht zu sehr aus der Reihe tanzen.

Was also motivierte mich, die innere Freiheit, meine und die meiner Schüler, derart ernst zu nehmen? Formal war das ja gar nicht meine Aufgabe. Die Lehrpläne meines Bundeslandes formulieren zwar staatliche Erziehungsziele wie Verantwortung, Mündigkeit, Selbstbeherrschung, aber natürlich geht es keinem Staat jemals um die Freiheit seiner Bürger. Ich kritisierte das nicht, zumindest nie im Unterricht, aber ich lud meine Schüler dazu ein, in sich hineinzuhorchen und zu erforschen, was sie wirklich selbst wollten. Leicht machte ich es mir damit nicht. Auch konnte ich nicht mit viel Verständnis, Zuspruch oder gar Sympathien rechnen. Warum also tat ich nicht einfach meinen „Job“ und ließ es dabei bewenden?

Ich war vielleicht vierzehn, als ich einmal einen ganzen Tag lang die Schule schwänzte. Meine Klasse würde an dem Tag eine Mathearbeit zurückbekommen und ich wusste nicht nur, dass ich einmal mehr schlecht abgeschnitten, sondern auch, dass ich erneut den Tadel und Spott meines Mathelehrers zu erwarten hatte. Dem wollte ich mich nicht aussetzen. Ich radelte also nicht in die nächste Provinzstadt, in der sich meine Schule befand, sondern in ein nahegelegenes Wäldchen und kletterte auf einen Baum. Stundenlang saß ich dort oben und dachte nach.

Mein jugendlicher Freiheitsdrang regte sich und ich konnte nicht verstehen, mit welchem Recht, andere mich zwingen durften, meine Zeit in einer Institution zu verbringen, in der ich nicht sein wollte.

Diese grundsätzliche Frage ist mir immer gegenwärtig geblieben, auch als ich längst selbst Lehrer und damit Vertreter einer Zwangsinstitution geworden war. Für mich war das eine fast schizophrene Situation, die mit einer ständigen inneren Spannung einherging. Äußerlich waren meine Schüler genauso unfrei wie ich. Das Gesetz schrieb ihnen vor, die Schule zu besuchen. Und ich hatte mich vertraglich verpflichtet, sie dort im Sinne des Staates zu unterrichten. Früh erkannte ich, spürte vielmehr, dass diese äußeren Zwänge nur dadurch gerechtfertigt werden konnten, dass ich die innere Freiheit meiner Schüler zum wesentlichen Ziel meiner Lehrtätigkeit machte.

Diesem Auftrag fühlte ich mich verpflichtet. Das war keine von außen auferlegte Pflicht, sondern eine, die mir von innen her erwuchs. Von woher genau? Die Antwort taucht unmittelbar auf, ist auch eindeutig und doch scheue ich mich vor diesem Wort, vor seinem Pathos und seinem Machtanspruch. Die Rede ist vom Gewissen. Ist das Wort nicht zu groß, zu bedeutungsschwer, zu abgegriffen auch? Kann man überhaupt darüber sprechen, ohne es zu banalisieren? Der Gewissensimpuls ist doch eine sehr feine innere Regung, etwas Intimes, Individuelles. Besser also, sich nicht mit großer Geste darauf beziehen, keine Demonstration einer angeblich moralischen Überlegenheit. Hier stehe ich, ich kann nicht anders? Lieber nicht!

Und doch ist das Gewissen bedeutend, eine machtvolle innere Stimme, mächtig insofern, als sie nicht korrumpierbar ist, von Hause aus unfähig, sich auf faule Kompromisse einzulassen. Das Gewissen stellt sich meiner kreatürlichen Angst und Gier entgegen und kann im Klartext auf durchaus unbequeme, lästige oder störende Weise in mein wohl geordnetes, gemächlich dahinfließendes Leben einbrechen. Daher braucht es mich nicht zu wundern, dass ich zuweilen versucht bin, es beiseitezuschieben, seine Impulse als unsinnig, unredlich oder unpraktikabel abzuwerten. Mein Verstand, Egos beliebteste und allzeit geschärfte Werkzeug, produziert bereitwillig und sehr geschickt Begründungen für die Abwertung und Diffamierung noch des geringsten Gewissensimpulses. Motivationsprüfung ist im Grunde immer Gewissensprüfung. Ich muss mich selbst hinterfragen und dass ist tatsächlich eine mühsame, unbequeme Angelegenheit.

Aber die Alternative? Könnte ich es mir leisten, gewissenlos zu sein? Offenbar schon. So wie die Gesellschaft momentan beschaffen ist, würde ich als solcher gar nicht erst auffallen.

Gleich den anderen braven Bürgern wäre ich gesetzestreu, würde alle Vorschriften beachten, alle von der Obrigkeit erlassenen Verordnungen umsetzen und in vorbildlicher Weise auch noch andere dazu anhalten, das Gleiche zu tun. Ich könnte mich betroffen zeigen, wo es mir gut zu Gesicht stünde, und mich unter Freunden in dosiertem Maße über jene Egoisten ärgern, die sich nicht an die Regeln halten, die sich den „Luxus“ leisten, vom Gewissen zu reden. Und so stünden auch meine Prioritäten in der Erziehung fest. Zuvorderst sollten Kinder lernen, sich anzupassen, Obrigkeiten zu respektieren, Gesetze zu befolgen und das Wissen staatlich anerkannter Autoritäten nicht in Frage zu stellen.

Habe ich ein Gewissen? Gibt es in mir ein Leuchten, ein kleines und schwaches vielleicht bloß, das aller Finsternis zum Trotz nicht erlöscht? Es scheint so. Von daher kommt mir doch ein Wollen, das größer ist als die Bedürfnisse, Ängste und Zwänge des Ego. Es gilt den Kindern, genauer gesagt der sich in ihnen offenbarenden Möglichkeit, frei zu sein. Die Lebensweise der Kinder, ihren radikalen Gegenwartsbezug, ihre Freude und Hingabe sind wertvoll. Wir haben nicht das Recht, ihnen all das Gute zu nehmen. Und dennoch tun wir es immer wieder. Hier begegnet uns ein Widerspruch, den wir alle sehr wohl kennen. Unsere Gesellschaft scheint Kinder nicht sein lassen zu können.

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