Licht aus dem Abgrund

Raum der Liebe

Und da kommen die Kinder ins Spiel. Erstaunlich, dass von ihnen bislang kaum die Rede war, immerhin habe ich jahrzehntelang täglich mit ihnen gearbeitet, gelacht, gelernt, gerungen, gesungen. Diese Erfahrungen haben mich und mein Denken geprägt. Insofern kann ich wohl behaupten, dass sie beim bisher Gedachten stets irgendwie mitgedacht waren. Aber wahr ist auch, dass die Nähe des Abgrunds, der Einbruch des Ungeheuren in mein Dasein mich mit Wucht auf mich selbst zurückgeworfen hat. Und als mir nicht nur die Welt, sondern auch das, was ich selbst in ihr zu sein glaubte, plötzlich mehr als fragwürdig erschien, da war ich vollauf mir selbst beschäftigt. Mein Eigendünkel war erschüttert und die Täuschung, insbesondere die Selbsttäuschung, wurde zur Enttäuschung.

Dennoch hatte ich nach meinem Absprung aus der Schule nie das Gefühl, meine Schüler im Stich gelassen zu haben. Ich weiß, sie haben alle, jedes einzelne dieser Kinder, mehr Kraft als ich und die meisten wahrscheinlich auch mehr Schneid. Es steht natürlich zu befürchten, dass die Institution Schule ihnen diesen Schneid abkauft, ihnen die Kraft nimmt und sie mit Gefühlen der Minderwertigkeit, der Unsicherheit und mit allerhand Sorgen impft. Das ist offenbar eines der versteckten Aufgaben heutiger Bildungseinrichtungen. Trotzdem können diese Kinder, so wie sie jetzt sind, es mit jedem Schicksal aufnehmen. Weder sie noch ich sind zufällig in diese Lage geraten. Das gilt es demütig zu akzeptieren.

Nach einer Phase des Schrecks, der inneren Auseinandersetzung, Selbstforschung und Zweifel ist es nun Zeit, beherzt eine Brücke über den Abgrund zu schlagen, voranzugehen und zu erkennen, dass meine Hilfe anderswo gebraucht wird. Ich rede hier nicht von den Kindern, die sich mehr oder weniger freiwillig den Zwängen der Gesellschaft mit ihrer institutionalisierten Erziehung unterwerfen, die lernen sich anzupassen und zu funktionieren. Natürlich gibt es davon viele, doch sie brauchen mich nicht und es gibt auch nichts, was ich für sie tun könnte. Anders ist es bei denen, die sich ihre Kraft und ihren Schneid bewahren und vom System schließlich als unverdaulich ausgespuckt oder die krank werden, weil sie sich innerlich weigern, sich zu verbiegen. „Anpassungsstörung“ heißt das in der Systematik der psychischen Erkrankungen.

Diesen Kindern geht es ähnlich wie mir, und ich weiß, sie brauchen Lehrer, Begleiter, Helfer, die ihre Not sehen. Ich könnte einer davon sein und frage mich, worauf kommt es an. Wie begegnet man einem Kind als Mystiker?

Kinder sind immer wieder da, wenn wir, die Desillusionierten, die der Lügen Überdrüssigen, uns treffen. Ich erlebe sie, vielleicht zum ersten Mal, nicht primär als Schüler, als Zielgruppe meiner Bildungsarbeit. Sie verhalten sich auch gar nicht wie Schüler, treiben sich stundenlang in den Weiten des großen alten Hauses oder draußen herum, erfinden Spiele, tanzen, lachen, streiten und versöhnen sich wieder. Wir schauen auf sie, wir wenden uns ihnen zu, wenn sie aufgeregt hereinstürmen, wir trösten und nähren sie. Nichts erscheint uns naheliegender und konkreter als ihre radikale Lebendigkeit. Und auch ihre Not ist uns gegenwärtig. Sie sind das Neue, die zarten und doch in ihrem Lebenswillen so kraftvollen Boten einer lichteren Zeit. Sie brauchen uns, unseren Schutz, denn die zu Ideologien erstarrten Konzepte eines längst diskreditierten, unglaubwürdig gewordenen Bildungssystems hindern sie in ihrer Entfaltung.

Das klingt politisch, so als würde ich einem Systemwandel das Wort reden. Doch obwohl ich große Missstände in vielen gesellschaftlichen Institutionen sehe, teils unerträgliche Fehlentwicklungen, die ursächlich mit der Verteilung und dem Einsatz von Macht und Geld zusammenhängen und also politisch sind, verspreche ich mir von neuen Gesetzen keine wesentliche Besserung, nicht den so notwendigen Wandel in unserer Beziehung zur Welt und uns selbst. Eine politische Neuerung, die ihren Niederschlag immer in Gesetzesänderungen finden wird, kann gewiss den Alltag der Kinder beeinflussen und einige Erleichterungen herbeiführen. Aber die Gefahr bleibt, dass wir am Ende nur die eine Ideologie durch eine andere ersetzen, die Gefahr also, dass das Neue, von dem das Kind mit seinem Erscheinen in der Welt kündet, künftig bloß anderen Verhältnissen und Umständen untergeordnet wird.

Schauen wir also mit dem Auge des Mystikers! Das Neue, das ich meine, das ganz Andersartige, liegt im Verborgenen und ist auch für das Kind selbst verborgen, wie ein Samen, der erst im Verlauf seines Lebens aufgehen wird.

Können wir als Eltern oder Lehrer jenen inneren Samen sehen, dieses wesentliche aber unbewusste Potenzial des Kindes erkennen oder wenigstens erahnen? Das kommt darauf an. Zum einen müssen die Umstände so sein, dass es sich zeigen kann. Zum anderen aber, und das ist noch wichtiger, muss ich in der Lage sein, solche Zeichen zu lesen. Das ist eine Kunst und sie bedarf wie jeder Kunst Fertigkeit und Feingefühl.

Mit Rationalität kommt man hier nicht weit. Wenn wir ein Kind zum Beispiel danach fragen, was es will, was aus ihm werden will, in der Hoffnung, es könne uns das Neue verkünden, zwingen wir es, intellektuell zu reagieren und etwas zu erklären, was es mit seinen Verstandeskräften noch gar nicht zu fassen vermag. Das führt leicht dazu, dass es uns zuliebe irgendetwas von sich gibt und dann selbst daran glaubt, sich also mit einer Vorstellung von sich identifiziert, die nicht seiner Wirklichkeit entspricht. Leider gibt es hier viele Missverständnisse. Oft wird zu früh und zu viel mit Kindern diskutiert in der irrigen Annahme, das gehöre zu einem modernen, aufgeklärten und demokratischen Erziehungsstil. Es führt aber nur dazu, dass Kinder frühzeitig gezwungen werden, nach außen zu gehen, sich zu äußern, zu veräußerlichen, ja im Grunde gar zu veräußern, genauso wie sie wenig später in den sozialen Medien lernen, sich gut zu verkaufen. Damit verlieren sie das Gespür für sich selbst, für ihr inneres Geheimnis. Davor müssen wir sie schützen und das erfordert Achtsamkeit.

Wie macht sich das Unbewusste, das Seelisch-Geistige, die verborgene Seite des Kindes bemerkbar? Welche Zeichen gilt es zu bemerken? Vielleicht sind die Anzeichen einer Unstimmigkeit am leichtesten zu erkennen. Kinder reagieren oft unmittelbar, wenn ihnen etwas nicht guttut, bekommen Bauchweh, Kopfschmerzen, klagen über Appetitlosigkeit oder sind verstimmt, traurig, gereizt. Sie bemerken aber oft nicht, woher diese Reaktionen kommen. Was hilft ihnen? Wie kann ich sie in diesem Lernprozess unterstützen? Ich kann es erst, wenn ich vorher, wie man in der Schule sagt, meine Hausaufgaben gemacht habe. Das heißt, ich muss erst einmal auf meine eigenen Reaktionen und Impulse aufmerksam werden, damit ich bei mir selbst die Zeichen zu deuten wisse. Manche Begegnungen machen mich traurig, nehmen mir die Zuversicht. Warum, was ist passiert? Andere Begegnungen beflügeln mich, stimmen mich euphorisch. Wieso? Ich treffe mich mit verschiedenen Freunden, es wird einen halben Tag lang sehr lebhaft über dies und das geredet und am nächsten Tag wache ich mit Kreuzschmerzen auf. Worauf wollen sie mich hinweisen? Es gibt Situationen, in denen ich überraschend redselig, andere in denen ich auffallend schweigsam bin. Woher kommen diese Impulse?

Je klarer ich die Hinter- und Beweggründe meiner selbst erkenne, umso eher kann ich auch bemerken, was im Kind vor sich geht.

Aber halt! Ist das wirklich so? Kann ich einfach so von mir auf irgendein Kind, überhaupt einen anderen Menschen schließen? Wäre das nicht eine Projektion, eine unerwünschte Verzerrung meiner Wahrnehmung, entstanden dadurch, dass ich im Gegenüber nur mich selbst sehe? Das ist eine verständliche, aber unnötige Sorge, denn gerade das Gegenteil ist der Fall. Die Gefahr solcher Übertragungen wird geringer. Schließlich projiziere ich nur das auf andere, was ich bei mir selbst nicht bemerke, nicht erkenne, vielleicht auch gar nicht erkennen will. Je mehr ich dagegen meine eigenen Reaktionen und Impulse verstehe, umso weniger bin ich versucht, unliebsame Eigenschaften oder Stimmungen auf andere zu projizieren. Vielmehr werde ich auf die verschiedenartigen Einflüsse aufmerksam, die auf jeden Menschen einwirken, nicht nur die sichtbaren wie Wetter, Nahrung, Gesagtes und Getanes, sondern auch die unsichtbaren wie Stimmungen, Bauchgefühle, Eingebungen. Es geht darum, Zusammenhänge zu erahnen, zu erfühlen und schließlich zu erkennen, jenes feine Beziehungsgeflecht, das jeden von uns sowohl mit der Außen- wie der Innenwelt verbindet.

Oftmals spüren Kinder solche Beziehungen unmittelbarer als wir Erwachsene. Das kommt daher, dass sie spontaner sind und ihre Wahrnehmung weniger durch Logik und Denkgewohnheiten einschränken. Wir Erwachsene sind verständig geworden, gemacht worden, muss man sagen. Uns wurde beigebracht und wir haben uns selbst darin trainiert, kausal zu denken. Mit den Jahren wurde es uns zur Gewohnheit, immer etwas als Ursache für etwas anderes zu sehen: Das kommt daher und dieses wird jenes bewirken. So zu denken ist im Kontext weltlicher Dinge hilfreich, ansonsten aber doch sehr begrenzt. Denn die Zusammenhänge, in denen jeder von uns steht, sind viel mehr als Kausalitäten.

Gerade jetzt, da wir in ein Neuland vorangehen und das Neuartige unserer Kinder in Freiheit erblühen lassen wollen, müssen wir uns mit unserer Denkweise befassen und sowohl die Gültigkeit als auch die Beschränktheit kausalen Denkens erkennen.

Unser Denken zu erforschen, mag auf den ersten Blick abstrakt und akademisch anmuten. Und doch geht es dabei um eine sehr konkrete Beschäftigung.

Schließlich führen unsere Gedanken zu Beurteilungen oder Einschätzungen und diese schließlich zu Handlungen. Wenn ich schlussfolgere, dass mein Kind nur deshalb Bauchschmerzen hat, weil es nicht in die Schule gehen will, habe ich kausal gedacht. Vielleicht beurteile ich die Situation so, dass mein Kind simuliert und schicke es trotzdem in die Schule, weil ich in die Arbeit muss und nicht daheim bleiben kann. Oder ich sage mir, meinem Kind ist unwohl, weil seine Lehrerin keinen Draht zu ihm hat, und nehme mir vor, sie um ein Gespräch zu bitten. Unser gewöhnliches Verstandesdenken ist ganz vernarrt in Kausalitäten. All seine Erklärungen beruhen darauf. Dieses geschieht, weil vorher jenes geschehen ist. Damit b eintritt, muss ich a tun. Das geht so weit, dass wir Phänomene, die wir nicht erklären können, gar nicht erst wahrnehmen. Wir filtern sie heraus, um unsere Ratio nicht zu irritieren, um zu vermeiden, dass unser Weltbild erschüttert wird.

Doch wissen wir wirklich, woher Krankheit, Unpässlichkeit oder Traurigkeit kommen? Wir verstehen vielleicht, dass die Ursachen dafür nicht nur physisch oder biochemisch sind. Und wir spüren auch, dass wir einem anderen Menschen unrecht tun, wenn wir ihm Kalkül unterstellen. Wir machen es vielleicht dennoch, weil wir selbst berechnend sind. Wir wollen das Unbehagen erklären, um es auf Abstand zu halten, um sagen zu können, dass es nichts mit uns zu tun hat. Aber was auf uns zukommt, kommt uns zu, gehört zu unserem Leben. An einem Tag wacht mein Kind munter und zuversichtlich auf, an einem anderen bedrückt und mutlos. Woher kommt das? Was ist in der Nacht geschehen? Kann es sein, dass die Änderungen in seinem Körper und Gemüt mit einem weiten Geflecht innerer, gefühlter, träumend erlebter Beziehungen im Zusammenhang stehen? Ich bin doch Teil dieses Geflechts. Wo leben denn in mir die Zuversicht, die Mutlosigkeit, die Euphorie oder die Melancholie?

Das Gesetz von Ursache und Wirkung, das dürfen wir nicht vergessen, hat ihre Gültigkeit nur in der linearen Zeit, die wir aus Verstandesperspektive als unvermeidliches Begleitphänomen der materiellen Welt erfahren. Es braucht immer ein Vorher und Nachher. In klassischer Weise lässt sich das am Billardspiel veranschaulichen. Man gibt einer ruhenden Kugel an einem bestimmten Punkt, mit einer genau dosierten Kraft einen Stoß. Diese Ursache bleibt nicht ohne Wirkung; die Kugel setzt sich erwartungsgemäß in Bewegung, trifft unter einem vorhergesehenen Winkel auf eine weitere ruhende Kugel, die nun ebenfalls ins Rollen gerät, allerdings in eine etwas andere Richtung, so dass sie auf eine Bande stößt, von dort zurückprallt, die Richtung ändert, auf eine weitere Bande trifft, erneut die Richtung wechselt und schließlich in ein Loch hineinkullert. Das alles ist Gesetz, Mechanik, und damit vollständig berechenbar, auch wenn es eines erheblichen Geschicks bedarf, um die Kugel mit einem einzigen Stoß über mehrere Bande in genau die vorgesehene Position zu bringen. Aber selbst wenn man es dabei zur Meisterschaft brächte – das Leben ist kein Billardtisch und Menschen sind keine Billardkugeln.

Wer würde dem widersprechen? Billardkugeln? Von wegen! Und doch wurden wir durch die Welt, in der wir aufgewachsen sind, durch ihre Vorurteile und Glaubenssätze, dahin gebracht, uns als willenlose Kugeln zu betrachten, schwerfällige Körper, hin und her gestoßen von blinden inneren oder äußeren Naturkräften, bis wir schließlich in ein dunkles Loch fallen und das Spiel endgültig aus ist. Natürlich glaubt heute kaum noch jemand, dass wir ausschließlich oder auch nur vorwiegend mechanisch bewegt werden, obwohl das im wörtlichen Sinne tatsächlich oft der Fall ist. Doch der durchschnittliche auto- oder zugfahrende Bildungsbürger weiß etwas von elektromagnetischen und biochemischen Einflüssen, von Botenstoffen, Endorphinen, Proteinen. Anders als noch vor wenigen Generationen der französische Philosoph Descartes betrachten die reduktionistischen Neurowissenschaftler unserer Zeit den Menschen nicht mehr als ein mechanisches Uhrwerk. Heute bevorzugt man, unser Gehirn mit einem Computer zu vergleichen. Am Grundsatz unserer Gegenständlichkeit hat sich allerdings nichts geändert: Der Mensch eine komplexe Maschine, die von zufällig auftretenden Faktoren gesteuert wird; Gefühle, Gedanken, Stimmungen, Bewusstsein – alles eine Frage der bioelektrischen Verschaltungen, der Genetik und Körperchemie. Das ist die Ansicht, die weltweit in Schulen und Universitäten gelehrt wird.  

Heute ist jeder Erwachsene, und erst recht jeder akademisch gebildeter, auf diese Weise indoktriniert worden. Das führte dazu, dass wir uns selbst fremd wurden und unseren seelisch-geistigen Ursprung verleugneten. Wir verloren unser Selbstvertrauen und verlegten uns mehr oder weniger aggressiv oder fatalistisch auf Leistung und Fortschritt in der Außenwelt. Dabei setzten wir alles auf eine Karte: die Karte des rationalen, kausalen Denkens. Wäre die Förderung des Kindes als leiblich-seelisch-geistige Einheit, das Offenhalten seiner Fragen, eine Wissenschaft, könnten wir diesen Trumpf wohl ausspielen. Aber es geht hier um eine Kunst und da ist Rationalität ein viel zu stumpfes Werkzeug.

Was also tun, wenn ich Kindern helfen will? Bei näherer Betrachtung ist das Tun – und das erleichtert mich, denn ich tue doch schon so viel – eher ein Zulassen. Ich spüre in mir das Wirken einer verborgenen, unbewussten, unsichtbaren Weisheit, einer kreativen, lebensbejahenden Güte, der ich mich anvertrauen kann. Aber gelingt es mir, mich dem anheimzugeben?

In puncto Vertrauen kann ich einiges von Kindern lernen. Im Grunde leben sie tagein, tagaus im Modus der Hingabe.

Sie lassen sich vertrauensvoll in die Obhut eines Erwachsenen fallen, suchen bei ihm Geborgenheit, glauben an dessen Güte und Wohlwollen. Und ich? Kann ich mich mit der gleichen Hingabe in die Obhut Gottes fallen lassen, mich der Weisheit der gottgleichen Seele überlassen?

Kinder sehnen sich danach, von uns gesehen zu werden. Sie wissen nichts von Hormonen und Synapsen oder vom Reiz-Reaktions-Schema, möchten sich auch gar nicht auf ihre Körperfunktionen reduziert sehen. Sie wollen lieben und geliebt werden. Solange wir sie und uns selbst jedoch als Geschöpfe betrachten, die unter dem Diktat der Naturgesetze stehen, gibt es keine Liebe, nur Hunger, Angst und Egozentrik. Wenn wir unsere Kinder auf ihrem Weg in eine liebevollere Welt unterstützen wollen, müssen wir lernen, uns selbst zu lieben. Das geht aber nur, indem wir uns von rein materialistischen Vorstellungen verabschieden. Solange wir unseren Ursprung in materiellen Bausteinen, in Molekülen oder Chromosomen sehen, werden wir uns selbst nicht gerecht. Wir ahnen nicht, was wir wesentlich sein könnten, sperren uns ein und verletzten uns selbst. Öffnen wir uns dagegen für die Welt jenseits des Körperlichen, spüren wir eine Weite und Liebe, die die Fesseln unserer Kreatürlichkeit zu sprengen vermögen. Diese Offenheit erlaubt uns auch, tiefer in das Wesen des Kindes zu schauen. Sie lädt es ein, etwas von dem, was in ihm verborgen ist, zu offenbaren.

Es sind die Kinder, die uns vor Augen führen, was sie brauchen, einen Raum der Liebe. Dort herrscht nicht das Naturgesetz mit seiner kalten Berechenbarkeit, sondern das Geschenk der Barmherzigkeit, nicht die gnadenlose Konsequenz von Karma und Schuld, sondern Mitgefühl und Vergebung.

Diesen Raum in mir selbst zu schaffen, einen Ort, an dem ich sein und sein lassen kann, darauf kommt es an.

Sofern es um diesen Innenraum geht, sind wir alle aufgefordert, unseren Pioniergeist zu wecken. Das ist nicht der Geist eines Konquistadors, der Drang eines habgierigen Eroberers. Dieser Pionier ist gleichsam kühn und bescheiden, denn die Annäherung an die Liebe erfordert einen sehr intimen, vertrauensvollen Umgang mit der seelisch-geistigen Dimension unseres Seins.

Und so wie der Raum der Liebe keine Ausdehnung im physikalischen Sinne hat, so ist auch die Zeit, in der die Liebe lebt, ohne Dimension. Liebe hebt das zwanghafte Bemessen und Berechnen der Zeit auf. Wer liebt, schaut nicht auf die Uhr; er hat Zeit, denkt nicht an Nutzen oder Profit, fürchtet nicht, seine Zeit zu vergeuden. Unsere Lebenszeit ist begrenzt, aber wir geben sie gerne her für das, was wir lieben. All das dagegen, was wir nicht lieben, interessiert uns nicht, langweilt uns. Dann schleppt sich die Zeit dahin und wir sind in Gedanken oft woanders. Der starke Gegenwartsbezug des Kindes, insbesondere des jungen Kindes, zeigt uns an, dass sich der Raum der Liebe einzig im Hier und Jetzt ausdehnt. Es ist tragisch, dass unsere Gesellschaft so strukturiert ist, dass wir immer wieder feststellen müssen, keine Zeit zu haben. Wir würden erschrecken, wenn wir sähen, was das bedeutet und stattdessen sagen müssten: Ich habe keine Liebe.

Um im gegenwärtigen Moment verweilen zu können, muss ich entspannt sein. Das kann ich nicht, wenn ich Angst habe, denn sie zwingt mich in das Gesetz meiner Kreatürlichkeit hinein, drängt mich zur Vorsorge und zum Selbstschutz, macht mich engherzig und kalkulierend. Auch das hat mich der Abgrund gelehrt, dieser Einbruch des Unfassbaren, der wie ein Schwert der Angst zwischen uns gefahren ist. Denn worunter habe ich in den vergangenen zwei Jahren noch mehr gelitten als unter den absurden Verordnungen und Maßnahmen? Es war immer die Unbarmherzigkeit, die Gefühlskälte, mit der die Einhaltung dieser Maßregeln gefordert und durchgesetzt wurde. Das zeigte mir mit erschreckender Klarheit, dass Menschlichkeit nicht länger existiert, wo die Gnadenlosigkeit des Gesetzes herrscht. Wenn ich gesetzliche Anordnungen wie nicht zu hinterfragende Befehle befolge, was schützt mich dann noch davor, gewissenlos dem Unrecht zu dienen? Was das Gewissen ist und worauf es dabei ankommt, werden wir uns noch näher anschauen müssen. Doch zunächst gilt es, sich der Ernst der Lage bewusst zu machen.

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