Licht aus dem Abgrund

tema con variatione

Je mehr es mir gelingt, so zu handeln und zu reden, dass ich in Übereinstimmung mit dem bleibe, was bei mir im Verborgenen, was wesentlich in mir ist, umso eher, so meine Hoffnung, sind andere bereit, sich davon berühren oder inspirieren zu lassen. Für die anderen gilt das umgekehrt natürlich genauso. Es wird in dieser Umbruchs- und Aufbruchszeit unglaublich viel geredet und gewollt. Die Internetplattforen sind voll davon. Unsere alte Welt liegt in Scherben und die Herausforderung, eine neue zu erschaffen, weckt einen so starken Tatendrang, dass wir oft nicht merken, dass wir gar nicht alles sagen und erst recht nicht alles wollen können. Bevor wir also aufbrechen, um Neuland zu erschließen, müssen wir unterscheiden, das heißt hören lernen, wo wir mit dem, was wir sagen und wollen, im Einklang mit dem bleiben, wer wir sind. Diese Stimmigkeit ist die Grundlage gelingender Zusammenarbeit.

In den letzten Jahren fand ich mich mit sehr unterschiedlichen Menschen zusammen. Das was uns verband, war die gemeinsam empfundene Zäsur, der Schreck und das Entsetzen über das ungeheure Ausmaß der Lüge. Wir freuten uns über jeden Gleichgesinnten, bestätigten und stärkten uns gegenseitig den Rücken: Ja, die Lüge des Bösen ist tatsächlich so gewaltig. Ja, die Masse scheint ihr erlegen zu sein. Schön, dass die Angst dich nicht zu hypnotisieren vermochte! Gratuliere zu deinem Mut, hinzusehen und dich mit den Tatsachen zu konfrontieren! Wir, die Erschrockenen, wollten neue Wege gehen, Neuland betreten, ein neues Zuhause bauen.

Wohin wollen wir, wohin genau? Die Antwort auf diese Frage allein eröffnet uns noch keinen gangbaren Weg. Denn dazu muss auch die andere Frage gestellt und erforscht werden: Woher kommen wir?

Das heißt: Wer sind wir, was bewegt uns? Als wir, die Aufbruchswilligen, uns anschickten, den gähnenden Abgrund zu überbrücken, und uns nicht länger vom Ungeheuren lähmen lassen wollten, stellte sich die Frage der kreativen Gestaltung. Gewiss brauchten wir eine gemeinsame Grundlage, einen Boden, auf dem wir alle stehen konnten. Aber wie sah es mit dem geteilten Überbau aus, dem ideellen Dach, unter dem wir uns alle versammeln würden?

Als Sinnbild für die neue Unterkunft unserer Ideen bot sich die Jurte an. Bezeichnenderweise ist dieses kreisrunde Nomadenzelt oben offen. Natürlich, so erklärt der Verstand, muss das so sein, damit der Rauch des Herdes oder der offenen Feuerstelle abziehen kann. Die Öffnung hat also einen Zweck. Frage ich aber nach ihrem Sinn, so scheint es mir eher darum zu gehen, dass die Gedankenwelt der Bewohner nicht abgeschlossen wird, dass die vom Rund gehüteten Erzählungen kein in sich geschlossenes System bilden. Nur das offene ist lernfähig. Es lässt den Weiten des Himmels Raum, dem Fremden, dem Unbewussten, und so kann Neues einfallen, jeder zu gegebener Zeit auf andere Gedanken kommen. Schließlich ist auch das Himmelszelt, dieses größte aller Sinnbilder, offen.

Im gleichen Sinne brauchen wir für unsere Zusammenarbeit kein geschlossenes Narrativ, das lückenlos die Welt erklärt und auf alles eine Antwort hat, keinen ausufernden Überbau, der uns alle mit der Wucht einer späten Mahlersymphonie überwölbt und erdrückt. Die Zeit intellektueller Großkonzepte und Ideologien ist vorbei. Und so finde ich eher im Variieren eines musikalischen Grundthemas, tema con variatione, ein geeignetes Sinnbild für die Zusammenarbeit am Neuen.

Der Grundgedanke ist gegeben, aber schon die Tonart kann verändert werden.

Solange dieser einvernehmlich verstandene Gedanke die Grundlage der Zusammenarbeit bleibt, sprengen weder die Kreativität des Einzelnen noch seine Überlegungen den gemeinsamen Rahmen. Mehr braucht es nicht.

Ist das bloß eine schöne Metapher, sozialreformerisches Wunschdenken, die eitle Hoffnung eines Idealisten? Entscheidend ist wohl die Frage, woher dieser Grundstein-Grundgedanke, jenes für alle verbindliche Grundthema, kommt? Geht es um etwas, das man sich am Schreibtisch sitzend ausdenkt. Ist es die Quintessenz aus dem Studium vieler schlauer Bücher? Jahrelang habe ich genau das geglaubt und in den Steinbrüchen der Philosophie, Psychologie und Pädagogik Wissen wie Bruchstücke gesammelt, sie als Bausteine zusammenzufügen gesucht, eifrig Querverbindungen hergestellt, ein Gerüst hochgezogen, Pfeiler errichtet, Balken und Streben befestigt, bemüht einen Dom der Gelehrsamkeit zu bauen. Die bloße Gestalt dieser Kathedrale müsste, so nahm ich an, jeden von der unwiderlegbaren Macht und Gültigkeit des ihr zugrunde liegenden Wissens überzeugen.

Doch ich blieb allein in meinem Dom, der eher ein Domgerippe war. Keiner wollte das mühevoll konstruierte Gebäude betreten. Mehr noch, kaum einer nahm es zur Kenntnis. Das ehrgeizige, himmelstrebende Gebilde vermochte nicht zu überzeugen, stand nutzlos in der Gegend herum. Gekränkt ob dieser Nichtbeachtung, unterstellte ich den Ignoranten, es würde ihnen an Intelligenz und Gedankentiefe fehlen. Mein Hochmut wuchs und machte die Sache nicht besser. Dabei war die Reaktion der anderen unvermeidlich. Sie lehnten den Machtanspruch des angelesenen Wissens ab, spürten die Geisterhaftigkeit meiner Konstruktionen, die ins Ätherische reichenden Gewölbe, aber auch die Strebsamkeit des Baumeisters. Sie wollten sich nicht der Macht einer akademischen Autorität beugen, einer Macht, die sie mit Logik und Kausalität unter ein intellektuelles Dach zu zwingen versuchte. Heute verstehe ich, dass Zusammenarbeit, die auf Zwang beruht, und sei dieser noch so subtil, zum Scheitern verurteilt ist. So geht es nicht. Damit ein Grundgedanke wirklich tragfähig ist, muss er aus gemeinsamer Anschauung und geteilter Einsicht hervorgehen. Er bleibt also nah am Konkreten.

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