Licht aus dem Abgrund

Was dem Wort Wert verleiht

Naturgemäß wird meine Lebensgeschichte immer auch ein Ego-Roman sein, eine stetig wachsende Sammlung alltäglicher Eindrücke, Worte, Handlungen. Sofern ich sehe und höre, Kälte und Wärme empfinde, Nässe und Trockenheit, sofern ich Lust und Schmerz erfahre und die Dinge des Alltags mit Verstand handhabe, werde ich immer im Zentrum meiner Welt stehen. Fühlend kann ich mich wohl in die Lage eines anderen hineinversetzen, in der Vorstellung vielleicht sogar die Dinge aus seiner Perspektive betrachten. Aber wörtlich, das heißt physisch mit den Augen eines anderen zu sehen, vermag ich natürlich nicht. Insofern als ich auf die Sinne meines Körpers und damit auch auf das Ego angewiesen bin, sehe ich mich naturgemäß isoliert. Das muss ich hinnehmen, es ist schlichtweg die Conditio humana. Ego beschreibt mir, was ich erfahre. Es repräsentiert, könnte man sagen, meine Isolation.

So weit, so normal. Der Ärger und die Verwirrung fangen damit an, dass Ego nicht nur die Signale meiner Sinne in verständliche Eindrücke übersetzt, so dass ich überhaupt etwas damit anfangen kann. Eigentlich könnte und sollte dieser Nachrichtensprecher des Sinnesapparates es dabei bewenden lassen. Aber nein, er interpretiert die Eindrücke auch noch, ordnet sie in einen Kontext ein. Er betreibt also das, was ich aus der Nachrichtenwelt draußen ebenfalls kenne: Framing und Wording. Ego sagt mir also nicht nur: Draußen ist es kalt, sondern auch, du könntest dich erkälten, wenn du keine Jacke anziehst. Dann wird es dir schlecht gehen. Es teilt mir nicht bloß mit: Dieses Auto ist groß und glänzend, sondern auch: Wenn du es kaufst, wirst du andere damit beeindrucken können. Dann wirst du dich gut fühlen. Das ist übergriffig. Es ist nicht die Aufgabe des Nachrichtensprechers, mir zu erklären, welchen Wert die Nachricht für mich hat, wie ich sie verstehen, welche Schlüsse ich daraus ziehen soll. Ego macht das gleichwohl ständig und skrupellos. So hat es seinen Roman mit Charakteren bevölkert, die allesamt Kreaturen seiner Wünsche und Befürchtungen sind.

Nun also kündige ich an, vielleicht etwas großspurig, aber immerhin entschieden, an meiner bisherigen persönlichen Geschichte nicht weiterzuschreiben. Geht das überhaupt? Ich will’s versuchen. Ich möchte mich nicht länger mit den Charakteren des Ego-Romans identifizieren. Denn diese Kreaturen sind mir allesamt unglaubwürdig geworden, schal und nichtssagend. Bloß ein neues Kapitel anzufangen, würde mir nicht helfen, der Wahrheit meiner selbst näherzukommen. Mein Alltagsleben lediglich anders zu inszenieren, reicht nicht. Der Gedanke, mich selbst neu in Szene setzen, mir eine neue Rolle zuzulegen, ist mir zuwider. Schluss mit dem Theater!

Kaum war die Entscheidung getroffen, fiel es mir zu, ein Pionier, ein Brückenbauer zu sein, einer, der vorangeht und neues Terrain erkundet, ein Vorreiter.

Ich spürte, es ging hier um etwas, das zu mir gehörte, wie eine besondere Aufgabe. Aber woher kam sie, wer hatte sie mir erteilt? Ich musste wachsam sein; es war so leicht, mir selbst etwas vorzumachen. Dieser Schwindel passierte gewohnheitsmäßig, fast automatisch. Es war Egos bevorzugte Strategie, mir zu versichern, dass ich etwas Besonderes wäre, aber vielleicht empfand sich jeder, der die Nachrichten der „Egosschau“ kritisch prüfte, als ein Pionier, weil er einen Ausweg aus dem Sumpf seiner Lügen suchte. Nichts Ungewöhnliches also, bloß ein nächster Schritt, kein Grund, sich gehen zu lassen. Eine Aufgabe ist keine Auszeichnung, sondern eine Verantwortung, die völlig unpathetisch, mit größtmöglicher Gelassenheit zu übernehmen ist. Jeder Anflug von Ehrgeiz oder Geltungssucht würde mich in die Intrigen des Ego-Romans zurückversetzen. Ich war also gewarnt.

Gerade hatte ich, und das nicht zum ersten Mal, hinter mir eine Brücke eingerissen, endgültig mit einer Vergangenheit gebrochen. Nein, nicht gebrochen hatte ich damit, das ist falsch, eher abgeschlossen, denn sie war noch da, die Vergangenheit, gehörte zu mir, zum Gemälde, das mein Leben ist. Ich will auch gar nicht sagen, dass sie hinter mir liegt, dass mich die einst gemachten Erfahrungen von hinten irgendwie anschieben, antreiben, so als käme die Motivation, mein Beweggrund, von dort. Wir sind ja gewohnt zu denken: Weil mir damals das geschah, tue ich jetzt dieses. Nein, weil ich bin, der ich bin, tue ich mal so, mal so, gehe dahin und dorthin. Was auf mich zukommt, was mir zufällt, zeigt mir, wer ich bin.

Seit diesem Entschluss gab es für mich kein Zurück in die Schule. Der Ort, die Institution und das Unter-Vertrag-stehen entsprachen mir nicht mehr, meine Aufgabe dort war erfüllt. Einen ähnlichen Abschluss und Absprung erlebte ich, als ich mein Geburtsland hinter mir ließ. Im Grunde gab es bereits an diesem 1. Juli 1989, als ich im Amsterdamer Hauptbahnhof in den Zug stieg, kein Zurück mehr in die Niederlande, in das einstige Leben. Seitdem bin ich der alten Heimat ein Fremder, vielleicht sogar ein Abtrünniger, und der neuen ein Zugereister. Ist das also, was ein Pionier ausmacht? Bin ich vielleicht wesentlich entwurzelt, heimatlos, einer, der nirgendwo richtig dazugehört? Vielleicht muss es so sein. Wer wäre schließlich besser vorbereitet, geeignet und willig, Neuland zu betreten?

Wo ist das Neuland? Darauf kann es heute nur eine Antwort geben: Wir tragen es in uns. Ein Mystiker weiß, dass alles Sichtbare aus dem Unsichtbaren, alles Erscheinende aus dem Verborgenen hervorgeht.

Der Schweizer Tiefenpsychologe C.G. Jung verglich einmal das Prinzip Archetypus mit einem Kristallgitter. Dieses kann man nicht sehen, aber als formgebende Struktur liegt es der Gestalt des Kristalls zugrunde. Ähnlich betrachte ich den Geist als eine formgebende Struktur, die selbst nicht in Erscheinung tritt. Das Neuland entsteht aus dem, was in uns verborgen ist. Genau genommen kennt ein Pionier den Weg nicht, aber es ist bereit, sich führen zu lassen.

Das klingt nach Besinnlichkeit und Kontemplation, geduldiges Prüfen der Zeichen, die mir die Richtung weisen, in die ich meine Schritte lenken soll. Aber in meinem Umfeld nehme ich etwas ganz anderes wahr, nicht dieses meditative Schauen und Horchen, sondern ein mächtiges Drängen zur Tat. Man will etwas tun, etwas unternehmen, die Dinge ändern, neu anfangen. Ich verstehe dieses Bedürfnis, denn es kommt aus einer akuten Notlage. Viele Eltern haben voller Entsetzen mit ansehen müssen, wie ihre Kinder in staatlichen oder auch privat geführten Institutionen misshandelt wurden. Und nicht nur das! Wenn sie sich schützend vor ihre Kinder stellten, wurden sie kritisiert, diffamiert oder gar mit Bußgeldern belegt. Ihr Vertrauen in derlei Institutionen und vor allem in den Staat und seine Behörden ist nachhaltig beschädigt.

Auch ich wollte etwas tun, eine Alternative zu den in Misskredit geratenen Schulen schaffen. Es bestand schließlich dringender Handlungsbedarf. Aber alle Bemühungen, etwas Neues aufzubauen, stießen immer wieder auf schier unüberwindliche Hürden. Meine Mitstreiter und ich sahen uns mit dem vollen Ausmaß staatlicher Restriktionen konfrontiert. Und dieser Staat war offensichtlich auch bereit, mit Gewalt für die Einhaltung seiner Gesetze und Erlasse zu sorgen. Mir war klar, dass eine direkte Konfrontation mit der Obrigkeit kein weg war, um Neues zu realisieren. Es brauchte Kreativität – und die konnte nur aus dem Innern kommen.

Ich spürte, vor mir lag eine Prüfung, denn von mir wurde Führung erwartet. Das ist eine diffizile Angelegenheit, wie jeder Einsatz von Einfluss und Autorität mit Gefahren und Risiken verbunden. Wir alle wissen sehr wohl, dass damit in der Vergangenheit oft großes Unheil angerichtet worden ist. Vor dem Hintergrund der langen Geschichte von Machtmissbrauch und Manipulation verspürte ich den Impuls, meine Führungsaufgabe zurückzuweisen. Sollte sich doch jeder selbst führen! Aber so einfach konnte ich mich meiner Verantwortung nicht entledigen. Die Prüfung war da und wollte bestanden werden. Ich merkte es an den anderen, an der Aufmerksamkeit, die sie mir zuteilwerden ließen, wenn ich sprach, erklärte, beriet. Ich musste meine Worte wägen, denn jedes Wort, das aufhorchen ließ, entfaltete eine Wirkung, konnte Wegweiser, Weckruf oder Warnung sein, beeinflusste so oder so die Zuhörer. Jeder, dem es zufällt, zu führen, sollte wissen, wovon er spricht; das versteht sich von selbst. Was ihn innerlich anspricht, muss er sorgsam prüfen, bevor er es ausspricht, um zu vermeiden, dass sein Gerede in die Irre führt und Verwirrung stiftet. Was das anbelangt, war für mich stilles Horchen und Schreiben in einsamen Stunden stets eine Hilfe.

Mir scheint, dass viele Menschen in diesen Zeiten der Verwirrung, da die alten weltlichen Wege unwegsam geworden sind, Führung brauchen und suchen. Wird das nicht auch daran ersichtlich, dass wir uns an überirdische, kosmische Wesen wenden, von deren Weisheit wir uns Orientierung für unsere Lebensführung versprechen? Genau besehen räumen wir diesen geistigen Führern Macht über uns ein, machen sie zu Autoritäten, denen wir Gehör schenken, die uns belehren, unser Denken lenken. Aber das genügt offenbar nicht. Wie die Seefahrer vergangener Jahrhunderte können wir unseren Kurs an den Sternen ausrichten, aber wir brauchen Steuermänner oder Steuerfrauen, die imstande sind, himmlische Konstellationen in irdische Bewegung umzusetzen.

Wir glauben schon, was der Himmel verkündet, wir vertrauen auf die Unverrückbarkeit der Fixsterne, aber wir suchen Rat beim Menschen, wenn es darum geht, die himmlische Botschaft in konkrete Schritte umzusetzen.

„Wie geht es weiter?“, fragt man mich und ich zögere. Kann ich den Aufbruchswilligen eine Richtung weisen, einen gangbaren, vielleicht sogar verheißungsvollen Weg zeigen? Weiß ich denn selbst, wohin die Reise geht? Ich habe doch nur meinen inneren Kompass und kann mich bloß bemühen, gewissenhaft Kurs zu halten. Ich sehe, dass es nicht entscheidend ist, was ich tue oder wohin ich gehe, sondern wer ich dabei bin. Meine Versuchung besteht darin, etwas zu tun, etwas zu wollen, was nicht meinem Sein entspricht. Und wie erkenne ich das? Hier zeigt sich mir die Schwertqualität des Wortes, seine strikte Unterscheidung. Ich kann nicht alles sagen und dabei glaubwürdig bleiben. Spreche ich Worte, deren Wert ich nicht verkörpern kann, werde ich unglaubwürdig, da ich mich selbst belüge. Wenn ich tue, was ich sage, gemäß dem amerikanischen Motto „Walk your talk!“, bin ich gewiss zuverlässig, aber nicht auch schon glaubwürdig.

Ob andere mir abnehmen, was ich sage, ist ebenso wenig eine Frage ritualisierter oder institutionalisierter Autorität. Status, Prestige, Expertenwissen sind hier fehl am Platz. Die Attitüde, dass der Lehrer per se recht hat, ist ein Herrschaftsanspruch, der jegliches Lernen im Keim erstickt. Macht überwältigt, Macht schüchtert ein und unterdrückt. Sie lässt weder Raum für eigene Gedanken, noch berührt sie das Herz. Glaubwürdigkeit ist auch keine Frage der Vernunft, der Stringenz und Beredsamkeit. Meine Argumentation mag in sich stimmig sein, während ich gleichzeitig menschlich nicht zu überzeugen vermag. Meine Ziele mögen fantastisch, meine Verkündigungen großartig sein, und doch spürt man, hier nimmt einer den Mund zu voll.

Glaubwürdig bin ich doch erst, wenn das Gesagte auf mein Gegenüber als ein Durchlebtes, unter Umständen auch Durchlittenes wirkt. Es hat mich geprägt, vielleicht gezeichnet, Spuren hinterlassen, und ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Das Motto hier heißt: Sei, was du sagst!“ Dann steht das Wort in mir und meine Stimme überschlägt sich nicht, sondern verleiht dem Gesagten den natürlichen Klang des Seins.

Je mehr ich den Wert das Wortes fühle und höre, umso deutlicher erkenne ich, dass ich nicht alles sagen kann. Und das, was ich nicht vom Sein getragen sagen kann, kann ich nicht wollen.

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