Licht aus dem Abgrund

Kopernikanische Wende 2.0

Es hat eine Weile gedauert, bis das geozentrische Weltbild überwunden war. Die ersten Verkünder der neuen Sichtweise wurden verspottet und diffamiert. Die Erde, so lehrten sie, steht nicht im Zentrum der Schöpfung. Das war zu viel. Heute weiß jedes Kind, dass Geo, die Erde, kein Kinosessel ist, an denen die Himmelskörper wie auf einer Riesenleinwand vorbeiziehen. Im Gegenteil, wir ziehen vorbei! Diese neue Perspektive haben wir schließlich alle akzeptiert, weil man sie uns erklärt hat. Dennoch scheint unsere unmittelbare Erfahrung die althergebrachte Geozentrik nach wie vor zu bestätigen. Wir sagen immer noch Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, obwohl es heliozentrisch zutreffender wäre von Sonnenhinwendung und Sonnenabwendung zu sprechen. Das zeigt bereits, dass der historische Perspektivenwechsel, die so genannte „kopernikanische Wende“, ein Sieg des Intellekts über Leibes Erfahrung war. Aber wie ein Meister der Aufklärung einmal feststellte, ist jeder Begriff ohne Anschauung blind. Und da wir nicht sehen, dass wir uns um die Sonne drehen, müssen wir an die Sichtweise, die man uns lehrt, glauben und zugleich davon ausgehen, dass uns die Sinneserfahrung täuscht.

So ist es auch mit der Egozentrik. Unsere Erfahrungen sind grundsätzlich Ego-Erfahrungen. Kein Wunder also, dass sie die Egozentrik genauso wie die Geozentrik bestätigen.

Und doch lebt etwas in mir, in der verborgenen Dimension meines Seins, das anderes glaubt, das mir erlaubt, mich in eine außeregoistische Perspektive hineinzufühlen. Das ist ein Anfang. Es bräuchte eine himmlische Position, um die Stelle Geos im Ganzen unmittelbar zu erfahren. In ähnlicher Weise bedürfte es ein kosmisches Bewusstsein, um Egos Stellenwert für die Ganzheit, die ich bin, erkennen zu können.

Dazu muss ich nicht ins All fliegen, zumindest nicht körperlich. Wenn ich mich für das Innere öffne, mich also diesem inwendigen Himmelreich zuwende, fühle ich, dass hinter dem Eigenwillen meiner ängstlichen, zwanghaften, profitorientierten Person genannt Ego ein anderes, größeres, weitsichtigeres Wollen steht. Ich ahne, dass dort der wahre „Gebieter“ herrscht, ein Geist der Güte, der mein Leben von innen beleuchtet und Sinn erkennbar werden lässt. Wo immer sein Licht durchscheint, verleiht es meinen Erfahrungen in der materiellen Welt eine Bedeutung, die über Zweck und Nutzen hinausweist. Dann spüre ich, dass Außen und Innen ein stimmiges Ganzes bilden könnten.

Doch solange ich ausschließlich in der Sinneserfahrung lebe, bin ich im egozentrischen Weltbild gefangen. Dann beherrscht das krankhafte, von einem irren Kontrollzwang gesteuerte Ego wie ein eifersüchtiger Diktator mein Dasein so lange, bis ich an den Lügen seines Starrsinns verzweifle. Unentwegt sucht es mich von seiner Sicht der Wirklichkeit zu überzeugen. Auf allen Kanälen, über alle ihm zur Verfügung stehenden Sinne, verkündigt es die immergleiche Propagandabotschaft der Angst und weckt in mir zugleich die Gier nach mehr, mehr Sicherheit, mehr Besitz, mehr Anerkennung, mehr Rausch. So macht es mir mein Leben zur Hölle. Lügenhaft ist sein Weltbild, weil es ohne Erinnerung ist. Es macht mich glauben, dass ich keinen Ursprung im Geiste habe, dass es keine Liebe gibt, aus dem alles Leben erwächst. Es hämmert mir ein, dass ich hilflos bin, dass so etwas wie eine seelisch-geistige Führung oder innere Weisheit nicht existieren und ich ständig von einer feindseligen Natur und der Unberechenbarkeit der anderen bedroht werde. Vor dem Hintergrund dieser unerträglichen Gefahrenlage spielt es sich zum alleinigen Retter auf, zum Garant für Sicherheit und Stabilität. Es bietet mir den Kinosessel an und präsentiert mir seine Welt auf einer raumfüllenden Leinwand.

Wie innen, so außen! Die Welt, in der wir leben, hält uns einen Spiegel vor. In der aktuellen Krisenzeit zeigt sie uns die Totalität dieser Ego-Diktatur in einem globalen Maßstab.

Wir sehen einen übelwollenden Usurpator, eine selbstherrliche Machtelite, die wie ein despotisches Weltenego in Erscheinung tritt. Dessen Herrschaft ist so grotesk, dass sie, obwohl durchaus furchterregend, ins Jämmerliche, ja sogar Lächerliche hineinreicht. Auch dieser Thronräuber sucht uns mit missionarischem Eifer von unserer Hilflosigkeit zu überzeugen. Er zwingt uns, einander als Feind zu sehen und zerstört jede Form von Geselligkeit. Unbarmherzig bekämpft er alles, was seine Herrschaft in Frage stellt, die Selbstheilungskräfte der lebendigen Natur, die Freiheit des Geistes und das Wunder der Liebe. Er beherrscht unsere Sinne. Die Fernsehbilder, die er uns zeigt, die Berichte, die wir im Radio hören, die Teststäbchen, mit denen wir unsere Schleimhäute berühren, der Geruch medizinischer Masken und der Geschmack der Angst – alle Sinneseindrücke sind durchtränkt von seiner Propaganda, deren einziger Zweck es ist, zu verhindern, dass wir sein Weltbild in Frage stellen. So ist Ego.

Wir sehen hier in verblüffender Deutlichkeit die zweite Stufe unserer globalen Einweihung: die schonungslose Konfrontation mit der inneren Lage, in der wir uns befinden. Das Machtgebaren des äußeren Weltenego spiegelt uns vollkommen bis ins Detail das Machtgebaren des inneren Ego. Dem weltweit sich anbahnenden Totalitarismus steht ein innerer Totalitarismus gegenüber, der äußeren Tyrannei eine innere Tyrannei. Und wenn wir an jener verzweifeln, so zeigt das, wie sehr wir als seelisch-geistige Wesen unter der Herrschaft des eigenen Ego leide. Tat twam asi, das bist du! Wir sind offensichtlich so konditioniert, dass wir eher nach außen als nach innen schauen. Unbestreitbar haben wir in unserer Geschichte, insbesondere seit der kopernikanischen Wende, der Welterkenntnis den Vorrang vor der Selbsterkenntnis gegeben. Deshalb erkennen wir uns selbst leichter über das, was uns in der Welt begegnet. Vielleicht ist das der wahre Grund für das schaurige Schmierenstück, das uns auf der Weltbühne präsentiert wird. Wie es scheint, blicken wir auf eine riesengroße Projektion dessen, was wir in uns selbst nicht anschauen können oder wollen. 

Draußen in der Welt sehen wir ein Superego in Form einer größenwahnsinnigen Machtelite und wir empören uns über seinen totalitären, undemokratischen Machtanspruch, seine dreisten Manipulationen und Lügen. Das ist verständlich und doch ist diese Erkenntnis so lange einseitig, bis wir sie auf unseren eigenen Zustand ausdehnen. Denn die Alleinherrschaft und die lebensfeindlichen Glaubenssätze des individuellen Ego sind genauso zerstörerisch und führen genauso unweigerlich zu Hass und Verzweiflung, wie jene der globalen Herrscher. Wer dem Ego-Herrn dient, das zeigt sich jetzt unmissverständlich, kann nicht glücklich sein. Erschrocken darüber, wie lückenlos die Täuschung um uns herum, wie umfassend der Betrug ist, suchen wir nach Wahrheit. Doch wir finden sie nicht in der vom Ego kreierten Welt. Dort scheint es nur noch Lug und Trug zu geben. Was ist wahr, diese Nachricht, jene Nachricht? Was gibt mir Halt am Abgrund, wo finde ich Schutz vor dem Irrsinn?

Schließlich, von den vielen Enttäuschungen zermürbt, kehre ich fragend und suchend zu mir selbst zurück. Die Welt der öffentlichen Meinung, der Angststarre und Scheuklappenperspektive, der verlogenen, furchtbar pathetischen Gefühlsäußerungen und aggressiven Intoleranz stößt mich ab und hinein in die Selbstforschung. Durch die Einsicht in die Perfektion des Betrugs sensibilisiert, sehe ich mich jetzt gezwungen, hinter die erstarrte Fassade meiner eigenen Lügen zu schauen, scheint doch meine Selbsttäuschung ähnlich perfekt organisiert zu sein. Das Ego in mir steht dem Ego der Welt in nichts nach. Da bleibt mir jeder Aufschrei der Empörung im Halse stecken. Ich habe keine Wahl und zugleich empfinde ich das Glück einer einzigartigen Gelegenheit. Ich muss und kann jetzt das Weltbild, das mir Angst und Gier ständig präsentiert haben, vollständig revidieren. Mit kosmetischen Maßnahmen ist es nicht getan. Wie sollte das auch gehen, sich mit Lügen zu arrangieren? Oberflächliche Änderungen liefen doch nur auf einen weiteren Selbstbetrug hinaus.

Aber was dann? Soll ich mich etwa mit Selbstvorwürfen überhäufen, mir selbst die Schuld daran geben, dass mir Grundrechte nach Gutsherrenart gewährt oder genommen werden, dass ich diffamiert und denunziert werde? Nein, keine Vorwürfe, keine Schuldzuweisungen, keine Abwertungen! Derlei Aggressionen wären doch nur weitere Versuche des Ego, Herr der Lage zu bleiben. Ich kann mein Weltbild nur insoweit revidieren, als ich mich von diesem inneren Macher distanziere, denn seine beschränkte Weltsicht hält mich unglücklich und unfrei. Mit den widerrechtlichen Machthabern draußen in der Welt, das ist klar, will ich mich nicht identifizieren; ich bin nicht bereit, mich ihrem Diktat zu unterwerfen und ihnen dabei auch noch zu applaudieren. Allerdings scheint es mir nicht ratsam, vielleicht auch gar nicht möglich, mich mit ihnen anzulegen; ich kann sie nicht bezwingen und entmachten. Es wäre ein Kampf, den ich verlieren, über den ich mich selbst verlieren würde. Schon jetzt hat sich mir gezeigt, dass mein Ego umso härter und selbstgerechter wird, je mehr es sich über das Unrechtsregime des Weltenego empört. Wie außen, so innen.

Es bleibt mir nur eins und es ist das, was seit eh und je Bestandteil einer jeden Einweihung ist, nämlich die diktatorischen Machtansprüche des falschen Herrn in mir selbst zurückzuweisen und klar zu erkennen: Du bist nicht mein Gebieter. Obwohl die Sinneserfahrung für dein Weltbild spricht, obwohl deine Argumente und Prognosen realistisch erscheinen, so fühle ich doch, dass die Welt in Wahrheit anders ist. Ich erlaube dir nicht, mich in einer trügerischen Sichtweise festzuhalten, mich zu knechten und mein Leben zu vergiften.

Im Laufe meiner „Einweihung“ wurde mir zugetragen, dass sich meine Kollegen über mich unterhielten und überzeugt seien, ich hätte mich verändert, sei komisch geworden, schwierig, abseitig und unberechenbar, nicht mehr der Alte, fast so als wäre ich in den Wechseljahren und hätte die Hormonumstellung nicht verkraftet. Zunächst war ich überzeugt, dass sie irrten, hatten sie sich aus meiner Sicht doch vielmehr selbst verändert, waren über Nacht unkritisch, unpolitisch und erstaunlich folgsam, ja gar obrigkeitshörig geworden. Sie, die ihre pädagogischen Prinzipien früher stets hochhielten und verteidigten, hatten diese mit einem Federstrich für verzichtbar erklärt. Und was mich besonders erschreckte: Sie merkten es nicht einmal. Dann aber musste ich feststellen, dass sie im gewissen Sinne doch recht hatten. Die Begegnung mit der ungeheuren Macht des Bösen hatte mich verändert. Wenn du lange in den Abgrund blickst, schrieb Nietzsche einmal, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Die üblen Machenschaften, die Intrigen und Verschwörungen der Macht- und Profitgierigen wurden mir zum Spiegel. So fiel mein Auge auf das Falsche und Verlogene, das ich wie Kleider und Schmuck angesammelt hatte, um die Nacktheit meiner Person zu verdecken, um wichtig, interessant und gescheit zu erscheinen. Was ich sah, erschreckte und ernüchterte mich. Seitdem gefalle ich mir nicht mehr in dieser Rolle, schaue auf diese Person wie auf einen Fremden. Doch nicht nur das! Ich will gar keine Rolle mehr spielen und tatsächlich spiele ich auch keine mehr. Für meine Kollegen und für die Welt, in der sie leben, bin ich nunmehr bedeutungslos. Ich trage nicht mehr zur Aufrechterhaltung ihres Weltbildes bei, habe ihrem Glaubenssystem den Rücken gekehrt. Natürlich heißt das nicht, dass meine persönliche Geschichte, die Chronik einer Selbsttäuschung, nun ausgelöscht ist. Sie ist da und wird immer da sein. Aber ich betrachte sie jetzt als eine Geschichte, an der ich nicht mehr weiterschreibe.

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