Licht aus dem Abgrund

Welchem Herrn ich diene

Niemand kann zwei Herren dienen, heißt eine Botschaft aus der Ewigkeit, sondern man hängt entweder an dem einen und verachtet den anderen – oder umgekehrt. Dieses Entweder…oder höre ich nicht gern. Es klingt so gar nach der von mir doch ersehnten Einheit und Harmonie, der Versöhnung der Gegensätze. Viel lieber wäre mir ein Sowohl…als auch. Aber es ist schon so, sobald ich sage: „Mein Wille geschehe“, gibt es in mir keinen Raum mehr für das andere, das „Dein Wille geschehe“. Dann schließe ich die Herrschaft einer höheren geistigen Instanz, ob Gott oder Geistführer, aus und erkläre mich zum Alleinherrscher. Ich weiß, wie der Hase läuft, mir macht keiner was vor. Man muss sich behaupten, einen Platz im Leben erkämpfen. Nur der Tüchtige kann seine Vorstellungen realisieren. Die Welt ist so, da lasse ich mir nicht reinreden.

So spricht das Ego in seiner Egozentrik und seine Selbstbehauptung ist mir zugegebenermaßen nicht sehr sympathisch. Ich höre diesen „Herrn“ nicht gern so reden, sein Streben nach Geltung derart unbescheiden äußern, möchte lieber nicht in einem Atemzug mit ihm genannt werden. Deshalb drängt es mich, zu sagen, ich habe ein Ego, ähnlich wie man einen Hund hat, den man von der Leine lassen, aber auch bei Fuß halten oder in seinen Zwinger einsperren kann.

Doch das stimmt nicht. Ich habe kein Ego, ich bin es.

So bin Ego, müsste ich sagen. Mein Funktionieren im Alltag ist vor allem eine Ego-Leistung. Genau genommen zeichne Ego hier also ein Selbstgespräch auf. Dabei beanspruche Ego die erste Person für mich. Verwirrend, ja, aber nicht unzutreffend oder ungewöhnlich. Im Gegenteil, das Selbstgespräch gehört zu meinem Repertoire und ist natürlich Teil meiner Egozentrik. Ego kann mich selbst kritisieren, mich sogar schimpfen und nach allen Regeln der Kunst runtermachen, und doch festige Ego damit nur meine Herrschaft. Ego drehe mich im Kreis. Folglich ist mein Weltbild in sich geschlossen. Alles dreht sich um mich.

Und die Welt gibt mir recht. Denn hier herrschen Mangel und Vergänglichkeit. Geld, Nahrung, Wohnraum, Aufmerksamkeit, Erfolg – nie gibt es genug für alle. Wer sich nur vornehm zurückhält oder die Hände in den Schoß legt, geht leer aus. Als Körper bin Ego den Naturgesetzen unterworfen. Wo Ego sitze, kann kein anderer sitzen, was Ego esse, kann kein anderer essen, oder auch: wo mein Auto steht, kann kein anderer parken. Manchmal benutze Ego die Möglichkeit, das Universum anzurufen, mir eine neue Wohnung zu besorgen, denn Ego bin gleich pragmatisch wie zielorientiert. Damit verzichte Ego aber nicht auf meine Herrschaft; Ego nehme lediglich eine irgendwie geartete höhere Intelligenz für meine egoistischen Ziele in Dienst, knechte sie also im Grunde. Sie soll mir nutzen.

Ist das alles? Bin ich nur das? Nein, nicht nur. Zum Glück! Tatsächlich beherrscht dieser Pragmatiker meine Tage vom Moment des Aufwachens bis zum Einschlafen am Abend. Doch in der Nacht, müde vom ständigen Sorgen und Machen, schläft das Ego tief und fest. Dann ist seine Sicht der Dinge, sein Weltbild, für eine Weile ausgeschaltet. Tagsüber strahlt seine Sonne so hell, dass nichts daneben Platz hat, denn es ist der unumschränkte Sonnenkönig der sichtbaren Welt. Doch in der Nacht, wenn sein blendendes Licht hinter der Erde versunken ist, leuchtet der Sternenhimmel und es offenbart sich eine Weite und Vollkommenheit, die sich das Ego in seiner Großmannssucht gar nicht vorstellen kann. Kein Wunder, dass es lieber die Augen zuhält. Denn diese Welt jenseits seines Geltungsbereichs ist ihm unheimlich. Sein Bauchgefühl sagt ihm, dass sie seine Herrschaft in Frage stellt, es aus dem Zentrum verdrängt, so dass es zu einer Randfigur wird.

Im Weltbild des Ego ist die Nacht subversiv. Es kommt nichts Gutes aus dem Dunkel, das es umgibt, sobald es sich zur Ruhe legt. In diesem Moment, da es die Dinge nicht mehr im Blick hat, sät die Nacht den Samen der Revolution.

Mit Träumen und aufrüttelnden Botschaften weckt sie das Nächtliche, das Grenzenlose in dem, was ihm doch eigentlich als Herrschaftsbereich untertan ist. Wenn es am Morgen erwacht und wie gewohnt seinen Thron besteigt, gewahrt es eine bedrohliche Unruhe in seinem Reich. Da sind unerklärliche Stimmungen, die sich selbstständig gemacht haben, sonderbare Ideen, sinnlose Fragen, irritierende Zweifel. Es regt sich etwas, eine Sehnsucht, ein irrationales Verlangen nach Freiheit, nach Liebe. Gewohnt tatkräftig bemüht es sich, diese Geister der Nacht zu vertreiben. Aber es gelingt ihm nicht. Es kann sie nur überblenden, in den Schatten stellen. Dort aber, im Verborgenen, wirken sie weiter. Im Volk, das heißt im gesamten Körper, im Volkskörper, rumort es. Die Zellen und Organe sind sich der Weite und Freiheit ihres Wesens innegeworden. Bei ihnen verfängt das Ego-Narrativ immer weniger. Zwar hält der Despot, beratungsresistent, wie er ist, an seiner großen Erzählung fest, nach der es einen starken Mann brauche, um in einer feindseligen Welt siegreich zu sein, ein strenger Herrscher, der den Volkskörper züchtigt und keine Abweichler duldet. „Le corps, c’est moi“, behauptet der Sonnenkönig stolz. Doch in den Zellen lebt der Traum von „Wir sind das Volk“. Und der erhält jede Nacht neue Nahrung. Den Seinen gibt’s der Himmel im Schlaf. Offenbar weiß auch der mythische Psalmendichter, dass Schlafen hilft, die Egozentrik zu überwinden.

Die Nacht ignorierend und Träume vergessend, stellt sich Ego am Tage glanzvoll und mächtig dar. Es ist wie das goldene Kalb, das Anbetung fordert. Das Volk tanzt darum herum. Alles dreht sich um seine Herrlichkeit, die Wohlstand und Fortschritt aber auch Schutz und Sicherheit verspricht. Kalbes Leuchten lässt jede Erinnerung an den Traum von geistiger Führung verblassen. Die Bibel schildert das sehr eindringlich. Im zweiten Buch der Tora, das wir Exodus nennen, wird erzählt, dass der geistige Führer, dort in der archetypischen Gestalt des Moses, tatsächlich verschwunden ist. Der Himmelsgesandte ist hinaufgestiegen auf den Berg Sinai, dessen Gipfel in Wolken, in Nebel, gehüllt liegt. Dort, so heißt es, spricht er mit Gott, ist also im Austausch mit der geistigen Welt, erhält aus dieser Sphäre Offenbarungen. Lange Zeit bleibt er weg, scheinbar endlos. Das Volk – im Hebräischen das gleiche Wort wie das für Körper – kann ihn, den überirdisch Gewordenen, weder sehen noch hören, vergisst ihn mit der Zeit. Er wird zu einer sagenumwobenen Figur und man fragt sich immer öfter, ob es ihn wirklich jemals gegeben hat. Der Berg, der das Verborgene in sich birgt, hüllt sich in Schweigen. Unten im Tal, in den Niederungen des täglichen materiellen Lebens, kommt das Geistige, das Jenseitige, nicht vor, scheint keine Bedeutung zu haben. Das Volk ist führerlos.

Wie treffend ist dieses Sinnbild gewählt! Das goldene Kalb ist in der Form erstarrt. Es lebt nicht, es nährt nicht, es blendet. So auch das despotisch gewordene Ego.

Der grelle Glanz seines Goldes macht blind für die Realität jenseits des Materiellen, die Realität des Nebulösen, des Geistigen. Ego steht unten am Fuße des Berges, sieht den Gipfel in Nebel und denkt sich: Ich sehe nur Wolken, nichts Greifbares, nichts Handfestes oder Formbares. Egal, ob da oben etwas ist, es bleibt untätig, es bringt nichts, man kann sich nichts dafür kaufen. Die Welt hier unten ist die einzig reale. Nur hier kann man tun und machen, etwas erreichen. Der Berg ist nutzlos. Und so schließt Ego das Verborgene aus, beschränkt sich auf die Niederung, die vertraute Fläche seines Reiches, das Offensichtliche, Oberflächliche.

Doch irgendwann, müde geworden vom Tanzen, vom ständigen Antanzen beim herrschsüchtigen Ego, wächst auch in meinem Verborgenen das Gefühl verlassen zu sein. Etwas Namenloses unterhalb der Egoschwelle sehnt sich nach einem geistigen Führer, der das goldene Kalb zertrümmert, das Volk von Angst und Hunger, von der Zwangsherrschaft des Ego erlöst. Es erinnert sich an die Kunde vom gelobten Land, vom Frieden des ewigen Seins. Die Nacht hat ihre Spuren hinterlassen, denn ein innerer Sternenhimmel regt sich. In seinem Lichte wird ersichtlich, dass das Grüne-Weide-Glück-der-Herde, wie Nietzsche einmal spottete, in Wahrheit eine Illusion ist. Irgendwann wird jedes Gras verdorren, jedes Rind verenden. Und dann steht der Ego-Herr mit leeren Händen da.

Was nun? Kann Ego sich selbst die Gefolgschaft kündigen? Wohl kaum. Vielmehr wächst in seinem Reich heimlich eine neue Kraft heran, eine Art Revolutionärin, die geduldig und still daran arbeitet, den strengen, uneinsichtigen Alleinherrscher zu entmachten. Sie weiß, dass sie ihn nicht mit seinen eigenen Mitteln schlagen kann. In der Niederung des Tagesbewusstseins ist seine Macht total. Er sagt den Augen, was sie sehen, den Ohren, was sie hören, den Händen, was sie ertasten. Er ist ein Definierer und zugleich ein Meister des Tuns, ein rastloser Macher. Die Erde, so scheint es, ist ihm untertan. Die von der nächtlichen Anderwelt inspirierte Freiheitskämpferin fürchtet sich aber nicht, erkennt sie doch, dass Egos Macht zwar total, sein Machtbereich gleichwohl winzig klein ist.

Sie spürt, dass sein Wille im Grunde gewaltsam und starr ist, dass seine verstockte Eigenwilligkeit daher rührt, dass sein Gesichtsfeld stark eingeengt ist. So jemand kann nicht führen. Und deshalb wendet sie sich kühn und zuversichtlich dem Himmel zu und flüstert ergeben: Dein Wille geschehe.

Nun droht eine Zerreißprobe, ein Kampf um die erste Person. Wer spricht für wen?

Ego bekomme Wind vom Verrat dieser Umstürzlerin, denn Ego bin grundsätzlich misstrauisch und werfe der Träumerin, arrogant und ignorant wie es meiner Art entspricht, Untreue vor, auch Weltflucht, Nabelschau, Aberglaube. Wenn sie sich abspalte, schwäche sie mein Reich und es drohe eine Schizophrenie. Sie strebe nicht nur an, mich zu entmachten, sondern mich zum willenlosen Sklaven und Marionette irgendeines allmächtigen und rachsüchtigen Herrn zu machen, eines Gebieters, der gleichwohl keine Ahnung hat, wie man ein Hochbeet baut, eine Vereinssatzung schreibt oder Arbeitsplätze schafft.

Als himmelstreue, innere Revolutionärin mit Sinn fürs Verborgene spüre ich natürlich Egos Angst. Nicht abgelenkt von Äußerlichkeiten sehe ich mit absoluter Klarheit, dass dieser beschränkte, aber tyrannische Regionalfürst, eben weil er sich selbst so wichtig nimmt, dauernd Angriffe und Grenzverletzungen fürchten muss. Das ist zwanghaft bei ihm. Er kann den allwissenden Geist des ewigen Seins nicht anders als in Form einer Bedrohung sehen. Ich weiß, er hat keine Vorstellung von der Güte Gottes. Hätte er auch nur eine leise Ahnung von Liebe, so würde er verstehen, dass jeder Schöpfer seine Geschöpfe ehrt und respektiert, sie glücklich und freudig sehen will, insbesondere jene, die ihm gleichen. Wie sollte es anders sein? Und so versuche ich Ego auf andere Gedanken zu bringen, nicht zuletzt auch um seine Angst zu beschwichtigen. Ich greife zu Bildern und Gleichnissen, erprobten Mitteln der Ego-Erweichung.

„Romanautoren wissen“, so gebe ich ihm still zu bedenken, „dass sich die von ihnen kreierten Figuren im Laufe des Schaffungsprozesses emanzipieren und anfangen, ein Eigenleben zu führen. Sie tun gut daran, die Entscheidungen und Wege ihrer Geschöpfe zu respektieren. Gerade inspirierte Schreiber erleben immer wieder Momente der Ungewissheit, der Unvorhersehbarkeit, in denen sie sich fragen, was ihre Helden als nächstes tun, denken oder sagen werden. Diese gehören ihnen nicht, so wie Kinder nicht ihren Eltern gehören. Weil sie ihnen selbst gleichen, sind auch diese Geschöpfe mit einem Willen zur Kreativität und Freiheit ausgestattet. Nachdem eine deiner früheren Kolleginnen deinen neuesten Roman gelesen hatte, du Tüchtiger, schrieb sie dir, sie hätte dich auf jeder Seite des Buches wiedergefunden. Siehst du, sie erkannte den Schöpfer in seinen Geschöpfen. Dennoch warst du überrascht, denn die Romanfiguren verhielten sich ganz anders als du und gingen auch andere Wege.

Wenn schon ein Romanautor wie du das Eigenleben seiner Figuren ehrt, ihnen Raum lässt, sich zu entfalten, um wie viel mehr lässt dann nicht die göttliche Seele ihrem Geschöpf die Freiheit, eigene Wege zu gehen. Mag sein, dass du, liebes Ego, wie der verlorene Sohn Irrwege beschreitest, vom Ziel abkommst, aber sie würde dich doch niemals mit Gewalt davon abbringen. Deine Entscheidungsfreiheit ist ihr heilig und ich weiß auch warum. Es ist die Liebe, die ohne diese Freiheit nicht sein kann. Dem Vater ist klar, dass der verlorene Sohn schließlich Reue empfinden und umkehren, dass in ihm die Liebe zu seiner Bestimmung erwachen wird. Und wenn beide wieder vereint sind, sind alle Irr- und Umwege vergessen, aufgehoben in der Einheit von Schöpfer und Geschöpf. Menschen sind mit Entscheidungsfreiheit erschaffen, damit sie lieben können, denn wo Zwang herrscht, kann keine Liebe sein. Also bitte, entspanne dich! In allen Welten des Geistes, in denen Wahrheit und Liebe sind, ist es oberstes Gebot, keinen Zwang auszuüben. So wie der Schöpfer den von ihm nach seinem Bilde Erschaffenen frei lässt, so verzichtet die höhere Seele, deren Geschöpf du gewissermaßen bist, darauf, dir ihren Willen aufzuzwingen. Du gleichst ihr doch. Und so würde sich auch der Himmel niemals wie ein hartherziger, rechthaberischer Guru gebärden und deine Entscheidungen missachten, seien sie auch noch so unklug und stümperhaft. Vielmehr ist er ein einfühlsamer Souffleur, der dir die Liebe Gottes in Erinnerung bringen möchte. Wenn du die mit Weisheit und Liebe gesegnete Seele in dein Leben einlädst, sie bittest, dich zu führen und zu schützen, wird sie dich nicht wie ein gedanken- und willenloses Trancemedium behandeln, dich überschatten und beiseiteschieben, um ihre Pläne durchzusetzen. Vielmehr erlaubt sie dir, dein Leben um die Dimension des Geistes zu bereichern.“

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