Licht aus dem Abgrund

Schöpfer und Geschöpf

Viele von uns dürsten nach Wundern, sei es insgeheim, verstohlen in Tagträumen und romantischen Vorstellungen, oder ganz offen in Gebeten und Anrufungen. Warum? Woher diese Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen, einer Offenbarung des Übernatürlichen? Ist es vielleicht deshalb, weil uns die Welt heute so vollständig entzaubert erscheint, beherrscht allein von der gnadenlosen, unausweichlichen Folgerichtigkeit rationaler Gesetze? Die herrschende Naturwissenschaft, die scientific community, egal ob in Gestalt der Astrophysik oder der Molekularbiologie, hat Gott, wie es scheint, aus seiner Schöpfung vertrieben. Wir sehen den Himmel verschlossen, eine kalte Unendlichkeit, die Erde versiegelt, eine leblose Masse, und finden uns im Zwischenreich der Künstlichkeit wieder, wo uns ein geist- und seelenloses Dasein als unbegrenzter Fortschritt schmackhaft gemacht werden soll.

In der Naturwissenschaft feiert der Verstand seine größten Erfolge. Die sind beachtlich, keine Frage, aber auch problematisch. Das ist nicht weiter überraschend, denn unser Verstand liebt es, Probleme zu definieren, um sich anschließend sofort auf die Suche nach Lösungen zu machen. Das kennen wir alle. Wir kommen beispielsweise auf unserem Weg an einen Abgrund, der uns zwingt, innezuhalten. Sofort fängt unser Verstand an zu arbeiten. Er sieht nicht die Schönheit der Landschaft, die Farben der Gesteinsformationen, das Spiel von Licht und Schatten. Er spürt nicht die feuchte Kühle, die der Tiefe ihre Prägung gibt, und erst recht gewahrt er nicht das Wesen, die energetische Gestalt, die sich in dieser Kluft zum Ausdruck bringt. Stattdessen versteht er den Abgrund sogleich als Hindernis, das es zu überwinden gilt. Was ist zu tun? Könnte man sich an Seilen herablassen oder vielleicht eine Hängebrücke konstruieren? Gibt es womöglich irgendwo eine Stelle, an der die Felswand weniger steil ist, so dass man eine Treppe bauen könnte?

Der Abgrund sieht sich selbst nicht als Problem. Wieso sollte er? Die Landschaft, die natürliche Umgebung insgesamt ist gar nicht problematisch, nicht unvollkommen und damit auch nicht verbesserungswürdig.

Es verhält sich also nicht so, dass das Problem objektiv vorhanden wäre und der Verstand uns – glücklicherweise – in die Lage versetzen würde, es zu erkennen und zu benennen. Nein, der Verstand selbst ist es, der das, was er betrachtet, zu einem Problem macht. Er kann nicht anders. Das Problematisieren, um es einmal bildungssprachlich auszudrücken, ist sein Modus Operandi.

Hinzu kommt, dass Verstandes Problemanalyse gar nicht so objektiv ist, wie wir uns gerne einreden, keineswegs der Inbegriff einer nüchternen Sachlichkeit. Allerhand Ängste und Begierden verstellen ihm den Blick. Der ungeduldige Verstand drängt darauf, eine Brücke über den Abgrund zu bauen, damit man auch künftig schnell mit dem Auto hinüberfahren kann. Der furchtsame Verstand möchte eine stabile Eisentreppe mit einem sicheren Geländer in der Felswand verankern. Der starrsinnige Verstand schlägt vor, die Kluft zuzuschütten, damit er seinen Weg ohne Unterbrechung fortsetzen kann. Der bequeme Verstand indes träumt von einer Gondel, die ihn hinüberträgt, während sein geiziger Kollege eine vor allem kostengünstige Lösung anmahnt.

Der Verstand macht uns Probleme. Wir erfahren aber, dass er kaum imstande ist, sie auf befriedigende Weise zu lösen. Seine „Lösungen“ führen zu immer weiteren Problemen, so dass es für ihn bald aussieht, als sei die ganze Welt ein einziger Problemfall. Wir spüren, dass das nicht der Wahrheit entspricht und sehnen uns, vielleicht unbewusst, nach einer Erlösung vom unaufhörlichen Problemdenken. Aber wer oder was soll mich von meinen Denkzwängen erlösen? Für mein Denken bin ich selbst verantwortlich. Die Frage ist also, ob ich auch anders kann. Bin ich imstande, anders wahrzunehmen? Ich behaupte nicht, dass es den Abgrund nicht gäbe, wenn ich ihn nicht wahrnähme. Zu glauben, die Welt existiert nicht mehr, sobald man die Augen zumacht, ist aus meiner Sicht bloß ein erkenntnistheoretisches Gedankenspiel und im Grunde recht kindisch. Ich meine aber wohl, dass ich die Möglichkeit habe, den Abgrund so oder so wahrzunehmen. Mit anderen Worten:

Die Bedrängnis, die ich angesichts der äußeren und inneren Abgründe fühle, die Enge, die Bedrohung, ist allein Ausdruck meiner psychischen Realität. Andere, die doch auch in dieser Welt, am selben Abgrund, stehen, erleben sie gar nicht. Das ist ziemlich bemerkenswert.

Die Erfahrung dieser Bedrängnis scheint mir so real, dass ich Mühe habe, einen Schritt zurückzutreten, die Szenerie zu betrachten und zwischen dem, was da draußen ist, und dem, was ich wahrnehme, zu unterscheiden. In der Begegnung mit den Menschen, die mir fremd geworden sind, den Institutionen, die wir erschaffen haben, den Nachrichten, die wir kommunizieren, den offenkundigen Lügen und aggressiven Diffamierungen, beschleicht mich immer wieder ein Gefühl der Bedrängnis oder Bedrohung. Mir ist klar, dass darin meine eigenen Erwartungen und Befürchtungen zum Ausdruck kommen. Es ist nicht bloß so, dass schlimme Nachrichten meine Ängste triggern. Nein, weil ich Angst habe, begegnen mir ständig schlimme Nachrichten, habe ich Auge und Ohr für alles, was meine Angst als berechtigt erscheinen lässt. Das Gefühl sucht und schafft sich seine eigene Bestätigung. Das kenne ich auch aus anderen Erfahrungsbereichen. Oft fühlte ich mich missachtet, weil mir als Radler von den Autofahrern regelmäßig die Vorfahrt genommen wird. Nun verstehe ich, dass es sich genau umgekehrt verhält. Weil ich mich grundsätzlich missachtet fühlte, mich vielleicht sogar selbst missachtete, übersahen mich die Autofahrer.

So ließe sich auch das hinduistische tat twam asi verstehen. Was du erblickst, was dir als Erfahrung zufällt, das bist du. Das ist zunächst eine fremde Vorstellung, sind wir doch daran gewöhnt, konditioniert wie uns die Verhaltensforscher erklären, uns selbst als das Produkt materieller, kultureller und sozialer Umstände zu betrachten, ein Zufallsprodukt bloß, hilflos in die Welt geworfen. Doch was, wenn in Wirklichkeit das Umgekehrte der Wahrheit näherkäme? Was wenn meine Lebensumstände kontinuierlich von mir erschaffen werden, natürlich nicht von mir allein, aber doch so, dass ich für meine Verhältnisse maßgeblich daran beteiligt bin?

Meine Erfahrung scheint das zu widerlegen, und zwar mit Nachdruck. Als Kind, auch noch in den jungen Mannesjahren, machte ich wiederholt die Erfahrung, dass Hunde mir bedrohlich knurrend und bellend begegneten. Mehr als einmal wurde ich gebissen. Ich hatte, folglich, aber auch folgerichtig wie mir schien, Angst vor Hunden. Später erkannte ich aber, dass es sich genau umgekehrt verhielt und meine Angst die Ursache dieser unschönen Ereignisse war. Heute kann ich Hunde angstfrei begrüßen und erlebe sie mir gegenüber freundlich zugetan. Doch einst stand für mich fest, dass es diese aggressiven und intoleranten Vierbeiner waren, die mir Angst „machten“.

In der aufwühlenden Zeit des Umbruchs und Umsturzes, konfrontiert mit dem Ungeheuren eines Weltenwandels, bedroht uns heute viel mehr als knurrende Hunde. Und so sah ich meine Existenz, meine Freiheit und Würde gefährdet, zwar nicht unmittelbar, aber dennoch real. Denn obwohl die Gefahr mir nicht konkret entgegentrat und den Weg versperrte, schien es mir doch angemessen, das baldige Eintreten schlimmer Ereignisse für mehr oder weniger wahrscheinlich zu halten. Ich sah Szenarien des Bösen, alptraumartige Vorstellungen, die wie dunkle Wolken am Horizont zum ständigen Hintergrund meines Gemüts geworden waren.

Was machte sie so überzeugend? Was ließ sie mir als realistisch erscheinen? Waren es die im Internet kursierende Beweise einer Verschwörung, durchgesickerte Geheimdokumente? Beeindruckten mich irgendwelche Statistiken des Grauens oder die alarmierenden, bislang kaum beachteten Details neuer Gesetze, vielleicht die verräterischen Versprecher mächtiger Strippenzieher? Oder war es die Plausibilität, die von der inhärenten Logik dieser Indizien herrührte, die zwingende Schlussfolgerung aus einer Kombination von augenscheinlichen Fakten? Ließ ich mich, pragmatisch urteilend, von der Realisierbarkeit dieser Szenarien beeindrucken und dachte, gut möglich, dass es so kommt, vieles spricht dafür?

Je stärker ich mich darauf einließ, umso unstrittiger und unwiderlegbarer schienen mir die Beweise, umso wahrscheinlicher die düsteren Dystopien. Und je weitergehend ich davon überzeugt war, dass diese apokalyptischen Ereignisse unausweichlich waren, umso mehr Anzeichen sah ich, die mir vom drohenden Unheil kündeten.

Und ich sah sie tatsächlich! Sie liefen mir über den Weg, drangen raunend an mein Ohr, begleiteten mich auf Schritt und Tritt. Ich schien sie geradezu magnetisch anzuziehen. So engte ich mein Denken immer weiter in einer sich selbst bestätigenden Überzeugung ein, bis mein Weltbild vollends geschlossen war und ich unter dem Bann eines Circulus vitiosus, eines Teufelskreises, stand.

Was bedeutet das, was folgt daraus? Für mich steht fest, dass es meine Düsternis war, die mir draußen begegnete. Sie führte mich zu all diesen Anzeichen, präsentierte mir eine Wirklichkeit, die ihrem lichtlosen Weltbild perfekt entsprach. Mit anderen Worten: Meine Angst, das Wesen dieser Düsternis, hatte die bösen Geister herbeigerufen. Das ist vielleicht eine gewagte, auf jeden Fall aber weitreichende Schlussfolgerung. Die Macht, die ich hier meinen Glaubenssätzen einräume, grenzt an Magie, Zauberei. Ich muss das nicht so nennen, könnte stattdessen, weil es wissenschaftlicher und deshalb beruhigender klingt, von „Resonanz“ sprechen. Ich könnte auch auf das vom Schweizer Tiefenpsychologe C.G. Jung beschriebene Phänomen der Synchronizität verweisen. Aber die Tatsache einer geheimnisvollen Anziehung und einer unerklärlichen Inszenierung und Materialisation bliebe dennoch.

Kaum jemand wird daran zweifeln, dass ein Hund, der einem ängstlichen Menschen begegnet, dessen Angst wittert und darauf reagiert. Wir wissen von Duftstoffen, Körpersprache und dergleichen. So etwas lässt sich experimentell oder im Labor nachweisen. Das ist Biologie. Doch die Frage, warum mir der Hund überhaupt begegnet, vielleicht sogar immer wieder begegnet, kann die Biologie nicht beantworten. Ich spüre, dass die Beziehung zwischen Mensch und Tier inniger, geheimnisvoller ist und ahne, dass beide ihr Aufeinandertreffen inszeniert haben, eine „Fügung“, die nur deshalb wie ein Zufall aussieht, weil ich die verborgene Verbindung nicht wahrnehme. Sie hat ihren Ursprung im Unbewussten.

„Du bist Schöpfer“, wird mir versichert. Ich lese es in Büchern, höre es in Vorträgen, Freunde legen es mir nahe. Mit Hilfe von positiven Gedanken, Gefühlen der Dankbarkeit und Freude, Affirmationen und Imaginationen könne ich, so heißt es, meine Lebensumstände und damit auch die der anderen verbessern.

Doch kann ich es wirklich? Kann ich es überhaupt wollen? Wird die Welt, meine Welt, gut, indem ich sie mir gut vorstelle? Geht es hier um ein Tun, eine Technik, um eine wie immer geartete Leistung und ihren zwangsläufigen Erfolg? Bei diesem Gedanken fühle ich mich innerlich gewarnt. Naivität und Spiritualität liegen hier so nahe beieinander, dass jetzt jedes Wort zählt.

Ganz dem Moment hingegeben, spielerisch, unbefangen, voller Zuversicht und Freude, ohne jeden Hintergedanken, ohne Absicht und Berechnung möchte ich wirklich rein und unschuldig wie ein Kind in der Welt stehen. Zugleich aber darf und will ich mein Urteilsvermögen nicht zugunsten einer unkritischen, undifferenzierten Gutgläubigkeit aufgeben. Unschuldig zu sein ist mit Sicherheit leichter, solange man unwissend und unerfahren ist. Die Herausforderung einer spirituellen Lebensführung liegt doch gerade in der Einheit. Das viel zitierte Jesuswort vom Werden wie die Kinder beschriebe demnach eine Verfassung, in der man innerlich unschuldig, ohne Arg und Angst ist, zugleich aber doch ganz gut um die menschlichen Abgründe weiß, die Tücken des Teufels kennt, realistisch und dennoch jederzeit bereit, eine andere Realität anzuerkennen. Vielleicht ist das die Vermählung von Wahrheit und Liebe, eine mit Wissen oder besser noch mit Klugheit und Lebenserfahrung gepaarte Unschuld.

Aber Unschuld oder Bescheidenheit kann ich nicht machen, nicht durch irgendeine Übung, fromme Handlung oder Absichtserklärung erlangen. Wie sollte das gehen? Schon wenn ich mir sage, ich bin bescheiden, bin ich es nicht mehr. Vielmehr läge in so einer Behauptung ein großer Hochmut, eine Selbstgefälligkeit, die mein Herz verschließt und mich von anderen isoliert. Lieblos und beziehungslos wird offenbar jeder, der sich zu sehr um sich selbst kreist. Der Bescheidene dagegen weiß nicht um seine Bescheidenheit, und genau das macht seine Unschuld aus. Sie verkehrt sich in ihr Gegenteil, wenn er sich vornimmt, bescheiden zu sein, mit dem Ziel, für sich ein gutes Los heraufzubeschwören. Schon fängt er an zu kalkulieren. Ich kann mich darum bemühen, keine Angst vor Hunden zu haben, aber am Ende wird nicht, wie ich mich gebe, wie ich mir einrede, zu sein, sondern wie ich bin, darüber entscheiden, auf welche Weise mir Hunde begegnen.

Ich will mich nicht anders geben, als ich bin. Das wäre unaufrichtig, Augenwischerei, Betrug. Die Hunde würden es merken, die Menschen wahrscheinlich auch. Ob ich es selbst merken würde, ist allerdings ungewiss, denn gerade der Selbstbetrug scheint besser als jeder andere zu funktionieren. Immerhin war ich in der Lage, mir über viele Jahre hinweg etwas vorzumachen. Doch damit soll jetzt Schluss sein, damit kann jetzt Schluss sein. Das Ungeheure, die Nähe des Abgrunds, hat mich aus der behaglichen Betäubung der Selbsttäuschung gerissen. Comfortably numb war gestern.

Und was sehe ich? Ich beobachte die Vielzahl meiner Aktivitäten in der Welt, auch meine Gedanken, Gefühle, Empfindungen und stelle fest: Alles nicht so wichtig, zumindest nicht so wichtig, wie ich lange Zeit meinte, und ganz sicher nicht wichtiger als das, was andere tun und denken, anders vielleicht schon, meinetwegen auch einzigartig, insofern als jeder Mensch einzigartig ist, aber nicht wertvoller. Gerade wenn ich in die Zeit zurückblicke und den jungen Mann, den eingewanderten, aufstrebenden Macher betrachte, der eifrig und zutiefst unbescheiden seine Ziele verfolgt, wundere ich mich darüber, welch große Bedeutung er seinem Tun beimisst. Ich schüttle den Kopf, als mir aus der zeitlichen Distanz klar wird, wie viel davon Schall und Rauch war. Was ist schon von dieser ganzen Strebsamkeit übriggeblieben? Ein paar Ordner mit hochgestochenen Texten, Zitatensammlungen und jede Menge laminiertes Schulmaterial. Die verstaubten Reste einstiger Beflissenheit und ihr unsentimentales Ende in der Mülltonne, geben mir zu denken. Wie werde ich in zehn, zwanzig Jahren auf meine heutigen Umtriebe zurückblicken?

Ist das schon Bescheidenheit? Ernüchterung trifft es wohl eher.

Mich arbeitsam, begeistert oder verärgert in die Welt zu stürzen, Wirkungen zu erzielen, Erfolge zu feiern, Widerstände zu bekämpfen – all diese Tätigkeiten konnten mich immer wieder in einen Rausch versetzen. Ich war hingerissen von dieser Wirksamkeit, dem Spiel der Kräfte, ganz und gar identifiziert mit demjenigen, der da so entschlossen in das Geschehen eingriff, zugleich ein Jäger, ehrgeizigen Zielen hinterherjagend, und ein Sammler, allerhand Wissenswertes auflesend.

Doch nun, der Enttäuschung sei Dank, bin ich einigermaßen ernüchtert und relativiere das ständige Tun und Reden dieser Person. Nicht so wichtig! Woher diese leidenschaftslose Einschätzung? Wie schaffe ich es, zu diesem „Wichtigtuer“ auf Distanz zu gehen? Möglich ist es mir doch nur, insofern als ich erkenne, dass er nicht ich bin, nicht das Ganze ist, nicht einmal das Wesentliche. Dann betrachte ich die Kreise, die dieser Jäger und Sammler in der weiten Weltebene zieht, aus der Sicht eines Zuschauers in der Mitte, aus der Stille der Senkrechten, der Dimension des Seins.

Vielleicht fällt mir diese Betrachtung aus der Distanz heute leichter, da ich den Schritt zurück getan habe und aus der Arbeitswelt ausgeschieden bin. In der Schule, in der ich fast 25 Jahre lang tätig war, spiele ich nun keine Rolle mehr. Eine einzelne Entscheidung, ein kurzes Gespräch, ein prosaisches Schreiben und schon bin ich nicht mehr wichtig, abgeschrieben, irrelevant. So bin ich jetzt für die Leistungsgesellschaft erst einmal wertlos. Macht mir das Angst, habe ich Schuldgefühle, ein schlechtes Gewissen? Sehe ich mich meiner Daseinsberechtigung beraubt? In der Tat werden derlei Stimmen in mir laut, wollen sich Gehör verschaffen, mir sagen, wie ich zu sein habe. Es sind früh erlernte, lange eingeübte, schließlich zu eigen gemachte und eingefleischte Glaubenssätze.

Ich fühle aber einen inneren Wert, den weder die Welt noch die Gesellschaft noch irgendein anderer mindern oder mehren können. Ich fühle, dass sich in mir etwas regt, das stärker ist als die Angst vor sozialem Abstieg oder die Gier nach Anerkennung.

Dieser Impuls bewegt mich zu kreativer, helfender Tätigkeit, zum Dasein für andere, zum Aufbruch in eine neue Welt. Ich folge diesem Impuls, nehme die Eingebungen und Ideen, die mir kommen, ernst, lasse mir weniger denn je von außen diktieren, was ich zu tun habe. Und dennoch war ich wohl noch nie so wenig selbstbezogen wie heute.

Was mir draußen begegnet und wie ich es erlebe, zeigt mir, wer ich bin. Der knurrende Hund macht mich auf meine Angst aufmerksam, die Kritik eines verbissenen Widersachers auf die Widersprüchlichkeit in mir selbst. Die Aussage, ich sei ein Schöpfer, wird für mich erst sinnvoll, wenn ich jenes Ich als das Verborgene, Innere, Unbewusste verstehe. Der umtriebige Zeitgenosse, der sich mehr oder weniger wichtig nimmt, ist ganz und gar Geschöpf, kein Schöpfer, ein Schauspieler, der mal in diese, mal in jene Rolle schlüpft, das Drehbuch als Ganzes aber nicht kennt. Das Schöpferische kommt immer aus dem Verborgenen, der Welt des Geistes, dem Jenseits. Als Geschöpf spüre ich, dass mir von dort alles kommt, Einsicht und Einheit, Weisung und Weisheit. Solange aber mein Ehrgeiz, mein zwanghaftes Jagen und angstvolles Sammeln im Vordergrund stehen, mein Profitstreben, meine Fixierung auf Äußerliches, verschließe ich mich für diese Quelle. Das ist eine Erfahrung, die ich immer wieder gemacht habe, denn Hingabe will gelernt sein. Rückfälle sind an der Tagesordnung.

Erst wenn ich aufhöre, etwas tun zu wollen, kann es sich bei mir tun. Ich bemühe mich nicht, freudvoll zu sein, die Freude kommt mir. Ich nehme mir nicht vor, liebevoll zu sein, die Liebe kommt mir. Ich strebe nicht an, dankbar zu sein, die Dankbarkeit kommt mir. Der geltungsbedürftige Eigenwille scheint bloß eine Täuschung zu sein.

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