Licht aus dem Abgrund

Gott, worauf wartest du?

Nun, da die Lage weltweit so dramatisch und bedrohlich ist, wie sie ist, darf ich, soll ich auf ein Wunder hoffen, auf die Wiederkehr des Erlösers, auf eine Liebe, die wie Manna vom Himmel fällt, auf den glorreichen Siegeszug der Wahrheit, der zu einem kollektiven Aufwachen führt, oder auf die Erscheinung himmlischer Heerscharen, die mich und die Meinen, die Auserkorenen, in die lichte Sphäre einer fünften Dimension erheben, vielleicht sogar auf Außerirdische, die die Herrschaft der Dunkelmächte mit einem Federstreich beenden? Das Böse kommt von außen auf mich zu, greift ganz handfest in mein Leben ein, bedroht und bedrängt mich, scheint überall zu sein. Wieso dann nicht auch das Gute? Soll ich den übelwollenden Mächten dieser Welt, die mich quälen und knechten, etwa bloß mein fühlendes Herz entgegenhalten, dieses weiche und scheue?

Ist es nicht Zeit, dass Gott tatkräftig in das Geschehen eingreift und dem Spuk ein Ende bereitet, die Erde aufreißt und die Diener der Düsterkeit endlich in die Tiefe hinabwirft?

Ich bin ein Mensch, ein inkarniertes, erdgebundenes und damit zwiespältiges Wesen, nicht imstande, das Böse zu bekämpfen, ohne selbst böse zu werden. Bleibt mir angesichts von Zwang und Gewalt also nur, Gelassenheit zu üben, mich wie ein Opferlamm zur Schlachtbank, wie ein Sündenbock zum Getto für Ungeimpften führen zu lassen? Soll ich die teuflische Manipulation meiner Gene, den Raub meiner körperlichen Unversehrtheit widerstandslos über mich ergehen lassen? Die Feinde des Lichts wüten ungehindert weiter, wollen immer offenkundiger ihr Werk der Zerstörung vollenden. Warum lässt Gott das zu? Warum hat er Ähnliches auch in der Vergangenheit immer wieder zugelassen? Herr, warum stehst du so ferne, verbirgst dich zur Zeit der Not?

Ja, der Ruf der Bedrängten, die Hoffnung auf himmlischen Beistand ist nicht neu. Die Psalmen sind voll davon. Aber Gott scheint sich zu verweigern und die ersehnte Hilfe gegen die Übermacht der Frevler nicht gewähren zu wollen. Herr, wie lange willst du zusehen? Errette doch mein Leben vor ihrem Wüten. Der mythische Psalmendichter sieht den Gläubigen deswegen dem Spott der Skeptiker ausgesetzt. Wo ist er denn nun, dein Gott?, höhnen die Mächtigen, er hat sich wohl von dir abgewandt. Heute, zurzeit meines Daseins, verhalten sich die Machthaber nicht anders, fürchten kein Einschreiten Gottes. Hier zeigt sich einmal mehr, dass die Bibel weder ein Früher noch ein Später kennt, überhaupt nicht historisch zu verstehen ist. Die Frevler dort sind die Frevler hier. Sie leugnen die Existenz Gottes, rühmen sich ihrer Taten – und sehen sich dabei durch ihren Erfolg bestätigt. Nicht Gott, sondern das Geld beherrscht die Welt. Und je mehr die Ruchlosen sich aneignen und besitzen, umso größer ist ihre Beteiligung an diesem glänzenden Götzen. Statt mitfühlend Anteil am Schicksal des anderen zu nehmen, werden sie zu selbstsüchtigen Anteilseignern.

Aber welche Wahl hat Gott überhaupt? Gesetzt den Fall, er wünschte tatsächlich einzugreifen, welche Möglichkeiten stünden ihm zur Verfügung?

Sollte er unser weltweites, betrügerisches Finanzsystem crashen? Sollte er all die unverschämt reichen Monopolisten und selbstherrlichen Strippenzieher mit Krankheit schlagen, die mächtigen Zentralen der weltbeherrschenden Konzerne in Schutt und Asche legen oder gleich die ganze Wallstreet fluten? Und die Bedrängten und Ausgebeuteten stünden dann daneben und applaudierten? Endlich kriegten die Gauner mal ihr Fett ab? Endlich ginge es mal gerecht zu in der Welt? Das wäre doch ein sehr problematisches Vorgehen. Einmal abgesehen vom Chaos, von Unruhen, Angst und Gewalt, die ein solcher Eingriff ex Machina mit sich brächte, täte sich Gott damit auch selbst keinen Gefallen. Sicher wäre es ihm ein leichtes, seine Muskeln spielen zu lassen, zumindest berichten die mythologischen Überlieferungen, diese geistigen Schätze der Menschheit, ausführlich und anschaulich darüber. Doch sein Verhältnis zu uns nähme mit seinem Gewaltakt schweren Schaden. Wir würden fortan seine eiserne Hand fürchten, sähen uns zu Gehorsam genötigt und verlören die Freiheit, ihn zu lieben. Wäre damit nicht seine ganze Schöpfung verfehlt? War denn das nicht Gottes ursprünglicher Wunsch, als er mich schuf, dass ich ihn liebe, wie er mich liebt?

Nein, es bleibt dabei, die Freiheit ist unverzichtbar und in Zeiten der Not, gerade dann, wenn alles dunkel und ausweglos erscheint, kann und soll sie sich bewähren.  

Kein Weltuntergang also, keine neue Sintflut, kein Austilgen einer verderbten Menschheit. Aber warum nicht eine Welterhebung, ein Fluten der Erde mit Licht, eine vom höchsten Geist gefügte globale Heilung? Was wäre, wenn er, der Allmächtige, ganz der gütige Vater, in das Weltgeschehen eingriffe, geheimnisvolle, hochwirksame Energiestrahlen etwa auf unseren Planeten einströmen ließe, so dass über Nacht alle Erdenbewohner, noch die übelsten Schurken, friedfertig, fromm und reinen Herzens werden würden? Wenn er wie durch Zauberhand die Wüsten begrünen, das Ozonloch schließen, die Weltmeere reinigen, sämtlichen radioaktiven Müll neutralisieren und unseren Feldern eine ungeahnte Fruchtbarkeit bescheren, kurz gesagt, ein Paradies auf Erden erschaffen würde? Hätten wir da nicht allen Grund, ihn zu lieben?

Ich habe ihn gesehen, diesen Vater, einen solchen Vater. Er heilte und sagte die Zukunft voraus, konnte Regenbögen am Himmel erscheinen lassen und allerhand Gegenstände aus dem Nichts herbeizaubern, Schmuck, Bildnisse, Früchte. Er ließ eine leicht körnige Asche, die er vor meinen staunenden Augen materialisierte, in meine Hand rieseln. Ohne zu zögern, einem inneren Impuls folgend, aß ich das Gnadengeschenk. Es schmeckte leicht parfümiert wie indisches Konfekt. Ich war beeindruckt, vielleicht sogar überwältigt, so wie jeder, der einen unerklärlichen Zauber erlebt. Die überraschende Gabe rührte und beglückte mich. Doch wenn ich ehrlich in mich hineinforsche, erkenne ich noch etwas anderes. Ich betrachtete die Geste des Vaters als eine besondere Auszeichnung, die mich in meinen Augen wie einen bevorzugten Sohn erscheinen ließ.

Da saß ich mit tausenden Menschen dicht gedrängt am Boden einer offenen Tempelhalle. Ich sah wie indische Männer und Knaben – die Frauen saßen auf der anderen Seite – mit flackernden Augen ihre Hälse reckten, um vom Wundermann angeschaut zu werden, und ich konnte nicht umhin, sie alle wie Kinder zu sehen, die unruhig auf den Weihnachtsmann warten, der sie beschenken wird, und sei es mit seinem göttlichen, segensreichen Blick. Kaum war der Heilige und Heilsbringer verschwunden, verfielen sie in ihre gewohnte Geschäftigkeit und Plapperei. Damals sah ich hochmütig auf sie herab, missbilligte ihre rasch schwindende Achtsamkeit, hielt mich für besser, geistiger, und richtete meine Brüder. Was also bewirkt das Wunder?

Ein Wunder ist immer eine Überraschung, etwas Außergesetzliches, mit dem überhaupt nicht zu rechnen war, eine Gnade. Wenn es mir geschieht, so nicht, weil ich es irgendwie verdient habe. Und wenn es ausbleibt, dann nicht, weil ich es nicht verdient habe. Ich kann mich nach einem Wunder sehnen, ich kann es aber weder machen, noch erzwingen, denn es ist ein Ausdruck der Liebe. Und Liebe ist wie Glaube und Hoffnung, sie erwächst mir aus dem Innern. Beweise für die Allmacht Gottes, die Vormacht des Geistes, die mir von außen, als materielle Erscheinung, geliefert werden, und seien sie noch so eindrucksvoll, verleiten mich dazu, meine Handlungen auf ihre Zweckmäßigkeit, ihren Nutzen hin zu prüfen. Funktioniert dieses Mantra? Bringt mir die tägliche Affirmation, Invokation oder Meditation etwas? Ist dieses oder jenes zu glauben opportun? Ich fange also an, zwanghaft auf meinen persönlichen Vorteil zu schielen. Wenn der Herr so machtvoll eingreifen kann, denke ich mir, stelle ich mich besser gut mit ihm. So einen mache ich mir lieber nicht zum Feind. Wer weiß, wozu mir meine Unterwürfigkeit noch dienen wird? Doch das ist keine Liebe, das ist Kalkül. Ich frage mich also, ob ich auch lieben kann, ohne dass etwas für mich dabei herausspringt. Kann das Kind den Weihnachtsmann lieben, auch wenn er keine Geschenke bringt? Bin ich imstande, Gott zu lieben, trotzdem er mir nicht meine Wünsche erfüllt, meinen Erwartungen entspricht, mich in meinem physischen Dasein mit spektakulären Wundern aus der Klemme zieht?

Und was heißt das überhaupt, Gott zu lieben? Das, was wir tastend und suchend Gott nennen, ist doch unfassbar groß, überpersönlich, übersinnlich, unverständlich. Und dennoch ist der Geist, als den ich ihn mir vorstelle, zugleich unfassbar klein, noch im Kleinsten zugegen. Kleiner als das kleinste Leben, größer als die unendliche Weite, heißt es in den indischen Upanishaden. Sein Geist ist in jedem und allem, und erst recht in mir, der ich doch, wie es heißt, nach seinem Bilde erschaffen wurde. Damit wird mir die Liebe zu Gott etwas sehr Intimes, Stilles, Verborgenes, eine innere Freude und Dankbarkeit. Sie ist öffentlichkeitsscheu, verträgt keine pathetische Geste, kein wortreiches Bekenntnis, keinen Eifer.

Ich spüre, dass diese Liebe zugleich machtvoll und wehrlos ist, universell präsent und konkret im Hier und Jetzt, glanzvoll und bescheiden.

Könnte sie mir helfen, der himmelschreienden Ungerechtigkeit in der Welt aufrecht zu begegnen, ohne Angst, ohne Aggression? Ist sie das Wunder, an das ich glauben, auf das ich hoffen soll, ein Wunder, das aus mir selbst erwächst, so wie das neue Grün am dürren Baum, dem man dieses Leben kaum noch zugetraut hat? Die Sache scheint verloren, das Böse übermächtig, die Lügner begegnen mir böswillig, die Skeptiker laut und ich liebe trotzdem. Ich sehe mich selbst zweifeln und hadern, auch lügen und täuschen, und immer bleibt mir nur dieses eine, trotzdem zu lieben. Liebe, so will mir scheinen, ist kein Zuckerschlecken, kein honeymoon, kein Rausch und Überschwang, eher nüchterne Arbeit und Übung. Und dann ist sie doch auch wieder spontan und leicht, kindlich verspielt.

Wo also findet sie statt, die Wiederkehr des Erlösers? Wo vertreibt das Leuchten der Wahrheit der Blindheit Finsternis? Wo breitet der Erzengel himmlischer Gerechtigkeit schützend seine Schwingen über die Bedrängten? Wo offenbart sich die Gnade Gottes? Ich erwarte derlei Wunder genauso wenig in Kirchen und Tempeln wie im Fernsehen. Kein Messias wird sich in den Metropolen dieser Welt von jubelnden Massen feiern lassen. Kein Meer wird sich spalten und mir die Flucht ins gelobte Land ermöglichen, keine Feuersäule mir in der Nacht dieser dunklen Zeit vorausgehen, um mich den rechten Weg zu führen. Horche ich in mich hinein, so sagt mir mein Herz, dass es nur ein Wunder gibt, das ich erwarten darf, auf das ich hoffen soll: meine innere Wandlung. Vom Tode auferstehen kann nur noch mein inneres Selbst, das lange Zeit missachtete, verdrängte, ja geleugnete Licht meines Geistes. Kann ich ihm vertrauen, ihm durch alle Fährnisse hindurch treu sein? Ich weiß nicht, was auf mich zukommt, doch ich spüre, dass es mir zukommt, angemessen ist, auf geheimnisvolle Weise zu mir gehört.

Ich fühle das Wirken einer inneren Weisheit, die alles richtet. Auch wenn ich sie nicht zu erfassen vermag, so ahne ich doch, dass für mich gesorgt wird.

Vielleicht ist dieser Glaube meine einzige Möglichkeit, der Wahrheit näherzukommen, einer Wahrheit, jenseits von Richtig und Falsch, jenseits der Dualität. Sie tritt erst dadurch in die Welt, dass ich sie lebe, sie in aller Bescheidenheit zu verkörpern suche, indem ich die Gegensätze in mir versöhne, beide Seiten bei mir sein lasse, die erscheinende, bewusste und die verborgene, unbewusste, das Kreatürliche genauso wie das Geistige. Ich bin doch nie nur das eine. Manchmal tue ich Gutes, manchmal aber auch Böses und ich ahne, dass es darum geht, beides in Liebe anzunehmen, ohne Hochmut, ohne Selbstvorwürfe. In klaren Momenten erkenne ich, dass ich oft gar nicht verstehe, warum ich dieses oder jenes tue, dass ich mich selbst nicht verstehe, dass mir meine Beweggründe verborgen sind. Meine Ganzheit, ich spüre es wohl, ist viel umfassender als das wenige, was mir bewusst ist. In dieser Einheit suche ich mein Heil. Vielleicht war es einmal anders, vielleicht gab es einmal eine Zeit spektakulärer Eingriffe Gottes, Demonstrationen seiner Allmacht für kindliche Seelen. Doch die Wunder unserer Tage können nur leise und innig sein.

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