Licht aus dem Abgrund

Comfortably numb

Die erste Phase meiner Einweihung hieß Vernichtung. Alles, was falsch war, wurde zerstört und ausgemerzt. Es war, wie mir bald klar wurde, ein unumgänglicher Eingriff. Bevor etwas Neues entstehen konnte, etwas Ehrlicheres, Aufrichtigeres, musste das Alte weichen. Kaum war ich über die Schwelle meines imaginären Einweihungstempels gestolpert, stand ich vor einer lodernden Flamme, so groß, dass sie meine Gestalt züngelnd überragte. War dies die Quelle des Lichts, das mir die Augen öffnete? Ich wusste, dass ich dort hindurchzugehen hatte, um die Welt der Lüge hinter mir zu lassen. Ohne weiter nachzudenken, nahm ich an, dass alles Irreführende und Boshafte im Feuer zurückbleiben würden. Gleich abgelegte Kleider würde die Hitze es verbrennen. Danach wäre ich in Sicherheit. Kein korrupter Politiker, kein fanatischer Ideologe, kein perfider Strippenzieher würde mir dann noch etwas anhaben können. Aber ich ahnte nicht, wie viel Falschheit in mir selbst steckte, wobei ich fürs erste offenlasse, was unter „mir“ oder „selbst“ zu verstehen ist. Der Läuterungsprozess zog sich jedenfalls hin und schließlich sollte dieser erste Schritt viele Monate in Anspruch nehmen.

Es ist leicht, Gott und die Welt anzuzweifeln, solange man sich dabei selbst nicht in Frage stellen muss, solange man also selbstherrlich in seiner Selbstgewissheit weiterlebt.

Das ist im Grunde nichts weiter als eine akademische Übung, ein intellektuelles Spiel. Man betrachtet seine Wasserwaage, seinen Winkel und Meterstab als geeicht, jedes für sich das Maß aller Dinge. Und so scheint das, was man weltvermessend misst und konstruiert, grundsätzlich universell wahr. Mein Universum war mir tatsächlich stimmig und schlüssig gewesen. Meine Werturteile waren wie Fixsterne an meinem imaginierten Himmel gestanden. Es gab die Guten und die Schlechten, die Wahren und die Falschen – egal ob es um Zeitungen, Einstellungen, Verkehrsteilnehmer, Essgewohnheiten oder politische Parteien beziehungsweise deren Repräsentanten ging. Ich lebte nicht schlecht in dieser Welt, hatte ein gesichertes Einkommen, war als Lehrer gesellschaftlich klar in der Mittelschicht verortet, genoss eine gewisse Anerkennung im Kreis der Kollegen und kannte materielle Not, die damals eher eine vorübergehende Knappheit war, nur als eine Erinnerung aus meiner Studentenzeit.

Ich war, das sehe ich jetzt deutlich, betäubt gewesen, berauscht von meinem Aufstieg, auch wenn der bei näherem Hinsehen eher bescheiden ausfiel. War ich nicht der jüngste Sohn einer, wie man heute sagen würde, bildungsfernen Arbeiterfamilie aus einer strukturschwachen Region im äußersten Süden der Niederlande? Kaum einer aus dem Kreis meiner Verwandten hatte den Sprung vom Land in eine größere Stadt gewagt, erst recht nicht in eine ausländische Großstadt. War ich nicht aufgewachsen in einem Haushalt ohne Bücher, ohne Kultur, ohne Gespräche, und hatte es dennoch zu einem, wenn auch wirtschaftlich wenig erfolgreichen Schriftsteller gebracht?

Ja, es gab Grund für mich, zufrieden zu sein, selbstzufrieden in einer Welt, in der ich mich gemütlich eingerichtet hatte. Ich war ein Bildungsbürger geworden, ein deutscher Bildungsbürger, der vor zehn Jahren mit seinem schriftlichen Einbürgerungstest schon nach fünf Minuten fertig gewesen war, was ihm damals, als er seinen Bogen so schnell wieder einreichte, teils erstaunte, teils ehrfurchtsvolle Blicke der Mitprüflinge einbrachte. Er genoss diesen Auftritt, der ihn drei Flüchtigkeitsfehler kostete – den Preis für Ehrgeiz und Arroganz. Dass dieser Holländer, „van Duitsen bloed“, wie es in der niederländischen Nationalhymne heißt, sich für etwas Besseres hielt als die anderen Staatsbürgeranwärter, die in meiner Erinnerung zumeist aus Osteuropa oder Mittelost stammten, hätte mich damals für die Lüge sensibilisieren müssen. Aber ich, ein Emporkömmling „von deutschem Blut“, war im Rausch der Selbstgefälligkeit.

„Man hat mich hinters Licht geführt“ – wie selbstgerecht das klingt, wie herrlich dieser empörte Aufschrei das Gewissen entlastet! Ein nicht näher zu benennendes „Man“ ist schuld. Die Guten und Bösen sind sauber voneinander getrennt, was, wie die Anschauung lehrt, eine völlig unrealistische Vorstellung ist. Mir ist noch nie ein nur guter Mensch begegnet, ebenso wenig, zu meiner Erleichterung, ein nur böser. Beide Spezies müssen sehr selten sein. Sogar der gute Harry Potter, immer noch beliebt bei den Schülern, muss im Prozess seines Erwachsenwerdens erkennen, dass das Böse auch in ihm ist. Ich wage die Vermutung, dass der anhaltende Erfolg des siebenbändigen Werkes auf genau diesem Erkenntnisprozess des Protagonisten beruht. Wir können uns das Böse nicht vom Leib halten.

Die Schlacht, um im Bilde des Jugendromans zu bleiben, wird im Innern geschlagen. Es ist eines erwachsenen Menschen nicht würdig, sich selbst als unschuldiges Opfer böser Mächte zu betrachten.

Keineswegs fiel ich also perfiden Intrigen und Täuschungen willenlos zum Opfer. Auch das zu behaupten, wäre eine Lüge, eine Versuchung. Verantwortung für mich selbst zu übernehmen, für das, was ich tue, aber auch für das, was mir geschieht, bedeutet eine ungeschönte Konfrontation mit der Realität meiner Person, hindert es mich doch permanent daran, die Mär meiner eigenen Großartigkeit aufrechtzuerhalten. Ich bin verantwortlich für mich, für mein Leben, mein Lebensgefühl, mein Schicksal, niemand sonst. Allein schon diese Tatsache in Worte zu fassen, lässt mich das ganze Gewicht ihrer Bedeutung spüren. Ich bin mit mir allein und muss zur Kenntnis nehmen, wer ich bin und wie viel ich mir vorgemacht habe. Immer wenn ich so viel Demaskierung, so viel Selbst-Entlarvung nicht ertrage, bin ich versucht, mich der Verantwortung für die Irreführung zu entledigen, indem ich sie auf andere abwälze: „Die haben mich hinters Licht geführt!“ Wir machen das offenbar alle gern, gerade wenn es kritisch wird, anderen die Schuld zu geben. Aber ist das nicht die feigste Form der Selbsttäuschung?

„Ich habe mich bereitwillig täuschen lassen, wollte getäuscht werden.“ Das zu sagen, wäre angemessener – zumindest in meinem Fall. Mehr noch, ich war Teil des Betrugs und sei es nur als verantwortungsloser Mitläufer in einem berauschenden System der Augenwischerei. Ich ließ mir nicht nur willig etwas vorgaukeln, ich spielte auch den anderen etwas vor. Ich trug meine Ideale vor mir her, als ginge es dabei um meine Realität. Ich gab mich so, wie ich gesehen werden wollte, und nicht so, wie es meiner inneren Wahrheit entsprach. Zugleich gab ich mich der Betäubung hin, wollte in meinen Routinen nicht gestört werden, die Stimme meines Gewissens nicht vernehmen. Comfortably numb heißt das bei Pink Floyd, behaglich betäubt. Wie gern hörte ich früher ausgerechnet diesen Song mit seinem ekstatischen, prätentiösen Gitarrensolo, in dem ich genießerisch schwelgen konnte. Ist es verwunderlich, dass es einer wirklich großen, ganz und gar ungeheuren Lüge bedurfte, um mich aus dieser Selbsttäuschung zu reißen?

Ein Ende mit Schrecken war diese Konfrontation, beunruhigend und zum Verzweifeln schmerzhaft. Aber sie öffnete mir die Augen für den Abgrund, dem ich gefährlich nahe gekommen war. Sie ließ mich den Betrug erkennen, in dem ich mich mit den Jahren immer tiefer verstrickt hatte. So trieb mich die Lüge über die Schwelle der Einweihungsstätte, nötigte mich, durchs Feuer zu gehen. Als sie ihr Wesen offenbarte, gab es vieles, was dem nicht standhielt. Die große Erzählung oder das große Narrativ – wie es heute im Rückgriff auf den Philosophen Francois Lyotard heißt – verlor ihre Fähigkeit, das Abweichende und Dissidente, die Sichtweise der Andersartigen und Andersdenkenden zu integrieren und zu assimilieren. Die sinnstiftende Geschichte einer aufgeklärten, aufgeschlossenen und solidarischen Gesellschaft, in der ich mich lange heimisch gefühlt, mit der ich gelernt hatte, mich zu identifizierten, zerfiel vor meinen Augen und Ohren.

Viele erlebten Ähnliches. Bald herrschte überall Verwirrung und Wirrnis. Eltern verstanden ihre Kinder, Kinder ihre Eltern nicht mehr, Geschwister entzweiten, Freunde verfeindeten und Kollegen entfremdeten sich. Alle wurden auf sich selbst zurückgeworfen, in der „Lockdown“ genannten Einschließung sogar buchstäblich.

Es schien, als ob jeder das Wir in sich selbst finden sollte. Ein Paradox. Der Weg des Mystikers.

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