Von Bäumen lernen
Ich sehne mich nach einer Erneuerung aus dem Innern heraus, nach Erlösung vom Zwang. Auch wenn mich das Einsiedlerleben mitunter lockt, so spüre ich doch, dass ich mich nicht weltabgewandt ins Metaphysische zurückziehen darf, genau so wenig, wie ich mich weltzugewandt ganz einem geistlosen Materialismus verschreiben sollte. Meine Sehnsucht gilt der Einheit, dem Heilen und Heiligen. In der Gestalt des Baumes findet sie ihr Sinnbild, denn diese begegnet mir nicht nur als Ausdruck der Standhaftigkeit, Langmut und Gelassenheit. Tief in die Erde hinab reichen Baumes Wurzeln, weit in den Himmel hinauf seine Äste. Aufrecht strebend dazwischen steht sein Stamm mir auf Augenhöhe gegenüber. Und während mein Blick darauf ruht, richtet er sich auch in mir auf. Gerade heute, da alles ins Rutschen gerät, höre ich viel von der Notwendigkeit, geerdet und gleichzeitig mit dem Kosmos verbunden, angebunden zu sein. Das lenkt meine Aufmerksamkeit auf die unsichtbare Verwurzelung im Erdreich und die weitreichende Verästelung gen Himmel. Der Stamm ist das Bindeglied, in dem ich mich als Mensch wiederfinde.
Doch wie finde ich mich darin? Sonderbarerweise fühle ich mich dem Baum verwandter, wenn ich auf dem Kopf stehe, die Welt also verkehrt herum betrachte. Jeden Morgen vor Sonnenaufgang schließe ich meine Yoga-Übungen, eine traditionelle Abfolge von Asanas, die Rishikesh-Reihe genannt wird, mit dem Kopfstand ab. Dabei fällt mein Blick auf eine mächtige Fichte, die dunkel aus dem Nachbargarten hinaufragt. Sie streckt ihren Stamm in die Höhe wie ich meinen Rumpf, ihre Äste wie ich meine Beine. Derweil reichen ihre Wurzel tief in ein Reich, das dem Auge genauso entzogen ist, wie das unsichtbare Reich des Geistes, aus dem die Gedanken in meinen Kopf hineinreichen.
Durch diese Kopfstand-Kontemplation lernte ich verstehen, dass die Welt der Bäume im Vergleich zu der des Menschen umgekehrt zu verstehen ist.
So wie ich meine Inspirationen aus den Tiefen eines mir verborgenen, geistigen Kosmos empfange, so beziehen Bäume die ihre aus der ebenfalls den Blicken entzogenen Tiefe der Erde. Ihr Träumen ist irdisch, erdgeboren, meins webt im luftigen oder ätherischen Raum. Und während ich Einfälle und Eingebungen auf meinem Weg umsetze und damit die Erde befruchte oder auch nicht, offenbaren Bäume die Geheimnisse der Erde in ihrer hinaufragenden Gestalt. Das erinnert an Odin, den Gott unserer Vorfahren, der im Sinnbild des Mythos neun Nächte lang kopfunter in einem Baum hing, wonach ihm die Runengestalten offenbart wurden.
Bäume stellen also mein Weltbild auf den Kopf. Ich kann es ihnen nicht gleichtun, aber gerade, weil sie anders gepolt sind, glaube ich, etwas von ihnen lernen zu können, vielleicht sogar etwas Wesentliches. Denn wie bringt ein Baum die Impulse aus dem verborgenen Erdreich zum Ausdruck? Was sehe ich, wenn ich auf das Erscheinende schaue? Der Baum breitet sich aus, zwieselt, verästelt und verzweigt sich. Er offenbart mit jedem Zweiglein und Blatt eine Vielfalt an Beziehungen, nicht bloß hierhin oder dorthin, sondern überallhin. Auch ich, rein anatomisch gesehen, verästle und verzweige mich vom Kopf zu den Händen und Füßen, werde zu den Enden hin immer feingliedriger. Das zeigt mir, dass es meine Handlungen und Schritte sind, mit denen ich Beziehungen zur Welt eingehe. Was tue ich? Wohin gehe ich? Mit Blick auf die ausladenden Kronen der Bäume, stellt sich mir also die Frage nach meiner mich krönenden Vielfalt.
Die Selbstprüfung fällt gemischt aus. Viele Jahre lang setzte ich auf exklusive Beziehungen und meinte, dass mich nur ganz wenige Leute etwas angingen. Wie gesagt, nicht nur in der Jugend, auch später noch neigte ich zur Schmalspur, mied Kontakte, wollte in die Tiefe gehen, nicht in die Breite. Wenn es allerdings um Wissen und Erkenntnis ging, zeigte sich ein etwas anderes Bild, denn es gab verschiedene Kunstformen, Wissenschaften, Religionen und Weltanschauungen, die mein Interesse weckten. Und so trat ich eher in Beziehung zu fernen, oft längst verstorbenen Künstlern, Wissenschaftlern, Propheten und Philosophen, verknüpfte dieses und jenes miteinander, lernte aus den Verbindungen. Doch so vielfältig auch meine geistigen Interesse waren, stellten sie im Gesamtbild doch eine Spezialisierung, ein Sonderinteresse dar. Es fehlte die Einheit mit dem Leben, die Verkörperung.
Heute spüre ich, dass ich diese Einheit gerade in der Begegnung mit dem so andersartigen Wesen der Bäume finden kann, dass dabei der vielgeraunte Satz „wie oben, so unten“ einen neuen Sinn erhält.
Was mir als lebendige Inspiration von oben kommt, kommt dem Baum als nährende Lebenskraft von unten. Aber wenn wir auf diese Weise, einander ergänzend, eine Einheit bilden, so möchte doch diese Einheit auch in mir sein. In meinem Innern kann ich mich mit dem bäumischen Wesen, diesem ganz anderen, reziproken Sein, verbinden, so dass es in mir lebt und mich bereichert. Solange mir der Baum nur draußen begegnet, ist unser Verhältnis von Geben und Nehmen geprägt, ein Tauschgeschäft. Das lernt man schon in der Schule. Bäume atmen aus, was ich zum Einatmen brauche, und umgekehrt. Doch diese biologische Sichtweise wird weder dem verborgenen Leben des Baumes noch meines gerecht. Wann immer es mir aber gelingt, zum Baum in Beziehung zu treten, mich von ihm berühren zu lassen, beginnen sich Himmel und Erde in mir zu versöhnen und ich fühle, dass Geist und Natur, das Verborgene und das Erscheinende, in mir zu einer Einheit wachsen.
Ist nicht das auch die stille Sehnsucht der Natur? Ich ahne, dass der Baum sich danach sehnt, von mir angeschaut und in die innere Einheit aufgenommen zu werden. Es ist dies eine gefühlte Einheit, eine gelebte Liebe jenseits von romantischer Schwärmerei. Ich muss keine Reigentänze im Wald aufführen oder Bäume umarmen, um dieser Liebe Ausdruck zu verleihen. In einer stillen, vertrauensvollen Beziehung will der Baum in mir da sein, und ich fühle, wie er darauf hofft, dass ich das Sinnbild seiner Erscheinung verstehe, Licht in sein Dasein bringe, denn auch er sehnt sich nach Erlösung. Baumes Spiritualität ist eine irdische. Früher hätte ich eine solche Aussage als paradox und sinnlos zurückgewiesen, aber meine Abgrundschau im Süden Sibiriens hat mein dualistisches Weltbild erschüttert.
Licht kommt auch aus der Tiefe, ist oben und unten. Indem ich mich dafür öffne, bringt sich mir die gesamte Natur in Erinnerung und mit ihr die Erde als Schoß aller Lebensgestalten.
In der Welt des nur dieses, in der die Existenz des Verborgenen, Unsichtbaren, Jenseitigen geleugnet wird, verschließen wir uns nicht nur dem kosmischen Geiste, sondern auch der lebendigen Erde. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen, wie die zunehmende Versiegelung der Böden zeigt. Wir schneiden uns also genauso von himmlischer wie von irdischer Inspiration ab und finden uns in einem von Künstlichkeit geprägten Zwischenreich wieder. Dort fehlt unserem Denken der Bodenkontakt. Uninspiriert und ohne Beziehung zur lebendigen Wirklichkeit konstruiert es zunehmend abstrakte, lebensferne und lebensfeindliche Vorstellungen. Sind es nicht gerade diese toten, beziehungslosen Gedankenkonstruktionen, unter denen wir heute weltweit leiden, intellektuelle Konzepte, die ganz ins Künstliche neigen, in Richtung einer künstlichen, das heißt einer wortwörtlich unmenschlichen Intelligenz?
Dieses Künstliche kann uns nicht aus den Fängen einer materialistischen Weltanschauung erlösen, vielmehr verdrängt es das Menschliche und plant daran vorbei. Nur so vermag ich wenigstens ansatzweise zu verstehen, was heute geschieht. Ich erfahre, dass in Laboren künstliche Lösungen für Probleme konstruiert werden, denen in Wirklichkeit viel einfacher auf natürliche Weise begegnet werden könnte. Doch wessen Problemverständnis ein technisches ist, kann nur technische Lösungen fassen. Er muss den Ausweg als etwas maschinell Machbares, von ihm und seinem Leben Losgelöstes denken. Natürlich sehe ich, dass sich mit diesem Maschinendenken Profitgier und Kontrollzwang vermischen, dass die fortschreitende Künstlichkeit für einige wenige ein Riesengeschäft ist. Aber dass Millionen weltweit voller Überzeugung diesen Weg beschreiten und das Projekt ihrer Entmenschlichung vorantreiben, zeigt mir, dass ihr Denken entwurzelt ist.
Ich sehe, wie Regierungen, zahllose Amtsträger und ihre Helfershelfer danach trachten, eine lieb- und geistlose Welt zu errichten, weil sie weder die Erde noch den Himmel zu lieben vermögen, wie sie jeden von uns zu programmierten, ferngesteuerten und ständig überwachten Biorobotern machen wollen, Maschinen, die sich bloß dadurch von sonstigen, traditionellen Maschinen unterscheiden, dass ihr Treibstoff die organische Lebenskraft ist. Nur dazu soll das Leben in uns noch da sein, dass wir in der Lage sind, fortdauernd zu arbeiten, während wir zugleich vom Wunsch getrieben werden, die neuesten Güter zu konsumieren, beides vorzugsweise zu Hause am Bildschirm ohne wirkliche Beziehung zu uns selbst, zu anderen, zur Erde.
Ich sehe, wie alles Individuelle und Einzigartige ausgelöscht und jeder Mensch einem technisch generierten Code zugeordnet werden soll. Man hält uns dazu an, weder unserem Bauchgefühl noch unseren Träumen, weder unserem Instinkt noch unserer Intuition, sondern einzig und allein den Maßgaben einer mechanistisch funktionierenden Ratio zu folgen. Ich beobachte mit Entsetzen, wie viele bereit sind, einen Datensatz künstlichen Wissens über ihr Gewissen zu stellen, abstrakte, durch keine Erfahrung begründete Informationen, die ihnen wie eine Software aufgespielt wurden. Mehr noch, ich erlebe, wie jene, die auf ihr Herz hören und sich ihrer Menschlichkeit verpflichtet fühlen, als Sand im Getriebe, lästige Störer eines reibungslosen Ablaufs betrachtet und bekämpft werden.
Ja, Bäume helfen. Allerdings lehrt das Leben, dass es notwendig ist, mehr als bloß den Stamm in den Blick zu nehmen.
Es geht nicht darum, stramm zu stehen, in Reih und Glied, wie die Fichten einer Baumplantage. Es geht auch nicht darum, sich aufzubäumen, einem sinnentleerten, unmenschlichen Dasein zu widerstehen. Worauf es mir ankommt, ist eine Einheit, die sich dadurch ergibt, dass ich offen bin für das Verborgene, das sinnbildlich über und unter mir liegt, wesentlich aber ein Inneres ist. Wenn ich einen Baum von seinen Wurzeln trenne, bleibt von ihm nur noch ein instabiles totes Gerippe, ein Schatten seiner selbst. Ähnlich ergeht es mir, sobald ich mich von meinen geistigen Wurzeln trenne, das heißt, mich für Impulse aus dem Verborgenen verschließe, nichts davon wissen will. Dann wird mir mein Dasein sinnlos und kein künstlich gestecktes Lebensziel kann daran etwas ändern.
Kommentare
[ … Hier kann dein Kommentar veröffentlicht werden.]