Licht aus dem Abgrund

In der Schicksalsspur

Aufgeben, sterben lassen, loslassen, sich lösen und springen – all das hat am Ende die gleiche innere Voraussetzung: den Glauben, das Vertrauen in die Vollkommenheit des Weges. Doch wie kann ich darauf vertrauen, scheint mir doch mein Weg alles andere als vollkommen zu sein? Gab es denn nicht immer wieder Irrtümer, folgenschwere Fehlentscheidungen, Unfälle, Verletzungen, Krankheiten? Kam es denn nicht zu allerhand Umwegen und – schlimmer noch – zu Irrwegen, die ich rückblickend betrachtet liebend gern vermieden hätte? Wenn ich mein bisheriges Leben noch einmal leben könnte, wenn es mir ermöglicht würde, noch mal von vorne anzufangen, dann … Was dann? Würde ich alles besser machen? Würde ich die Fehltritte der Vergangenheit vermeiden? Vielleicht könnte ich ja das Bild meiner selbst bereinigen. Dann stünde ich als Held da, ohne Feigheit, ohne Furcht, ohne Fehler.

Ich spüre, es ist kleingläubig, so zu denken, da ich doch die Vollkommenheit nie erkennen kann, wenn ich nur das betrachte, was ich in der Formwelt erfahre, was hier in Erscheinung tritt.

Die Ehrfurcht vor dem Verborgenen, der inneren Weisheit, mahnt mich, nicht nach dem Anschein zu urteilen, nicht die Maßstäbe einer weltlichen Moral oder einer geschäftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung anzulegen. Was sich mir hier als Fehltritt darstellt, mag mit Blick auf die Gesamtheit des Weges einem höheren Sinn entsprechen. Weiß ich denn, ob nicht die scheinbar gescheiterten Beziehungen am Ende doch gelungen waren, vollkommen im Sinne einer gewollten und Not wendenden Erfahrung? Und meine verschiedenen Knochenbrüche, diese schmerzhaften und jähen Unterbrechungen? Ich ahne, dass es Eingriffe waren, chirurgische Operationen, die einem Erkenntnisprozess, einem inneren Durchbruch Vorschub leisteten. Wir wissen doch, dass es Heilkrisen gibt. Jedes Fieber, wie sehr es mich auch schwächt oder schlecht aussehen lässt, dient doch immer der Gesundung. Der Perfektionist in mir, der Selbstmacher, will davon aber nichts wissen. Sein Wunsch nach einer makellosen Biografie, sein Träumen von einem geraden Weg hinauf in die Gefilden der Liebe und des Licht, offenbaren ein Mangel an Hingabe. Das gilt auch für die Scham, die er angesichts seiner kläglichen charakterlichen Schwächen empfindet.

Wenn ich ein Reiseziel in ein Navigationsgerät eingebe, losfahre, die richtungweisenden Angaben befolge, irgendwann aber von der vorgeschlagenen Route abweiche, stelle ich fest, dass die technische Orientierungshilfe mir sofort eine neue Route präsentiert, um mich schnellstmöglich wieder auf Kurs zu bringen. Dann folge ich eine Weile lang einer anderen Strecke, komme an anderen Häusern und Feldern vorbei als ursprünglich vorgesehen, finde aber schließlich doch wieder in meine Reisespur, gelange an mein Ziel. Wenn schon eine Maschine, ein digitales Rechengerät, das zu mir doch gar keine Beziehung hat, mich gar nicht kennt, geschweige denn liebt, trotzdem in der Lage ist, mich über geografisch fixierte Straßen zu führen, um wie viel präziser und zuverlässiger sollte dann nicht meine innere Weisheit, das inwendige Reich Gottes, imstande sein, mich in meiner Schicksalsspur zu halten?

Doch was veranlasst mich, wie komme ich überhaupt dazu, von meiner Route abzuweichen? Ist das Eigensinn, kleinkindlicher Trotz oder ist die Frage falsch gestellt und gibt es im Grunde gar keine Abweichung, ist die Vollkommenheit so groß, dass alle meine Umwege in ihr aufgehoben sind?

Ich stehe hier vor einem Rätsel, das mein Verstand nicht zu lösen vermag. Diese Vollkommenheit des scheinbar Unvollkommenen kann ich nicht begründen, erst recht nicht beweisen. Aber ich fühle, dass sie da ist. Mag sein, dass ich in der Welt meines Alltags auf dem schnellsten Weg an mein Ziel gelangen möchte, aber das göttliche Navigationssystem führt mich durch Lebensstraßen und Ereignis-Gegenden, an Erfahrungsorten entlang, die mir in irgendeiner Weise entsprechen, zu denen ich eine Beziehung habe, die Teil meiner Ganzheit sind. Denn diese innere Führung ist nicht an weltlichen Zielen interessiert, nicht an Karriere, Besitz, Anerkennung oder Sicherheit. Mein Bestreben, hier so schnell wie möglich von A nach B zu kommen, ist ihr fremd. Ihr geht es um Beziehung, sie führt mich in Situationen, in denen ich mich selbst wiederfinden kann. Wann und wo immer ich ihre Weisheit zuzulassen vermag, das habe ich gelernt, fühle ich mich glücklich. Aber was heißt hier glücklich, was macht dieses Glück aus? Darüber muss ich nicht lange nachdenken, denn die Antwort liegt auf der Hand. Angst und Sorge nehmen ab, Geduld und Gelassenheit nehmen zu.

Mein Vater war ein ungeduldiger Mann. Alles, was er tat, musste schnell gehen, und wenn etwas nicht so lief, wie er es wollte, reagierte er unwirsch. Er sah offenbar in allem, was ihn hinderte oder unterbrach, einen unnötigen, ärgerlichen Widerstand, vielleicht sogar etwas Feindseliges. In der Familie entschuldigte man sein Verhalten, indem man erklärte, die Arbeit in der Fabrik, wo er ständig gehetzt werde, habe ihn so gemacht. Als Jugendlicher verbrachte ich selbst ein paar Wochen dort, um in den Sommerferien etwas dazuzuverdienen. Überraschenderweise stieß ich auf Arbeiter, die mir unmotiviert und lustlos, fast schon lethargisch vorkamen. Ich fühlte mich in diesem Umfeld eher ausgebremst als angetrieben. So frage ich mich, ob Vaters Ungeduld nicht aus ihm selbst herauskam und sie es war, die ihn dazu nötigte, fortlaufend Ziele zu suchen, die schnellstmöglich erreicht werden sollten. Tatsächlich gelang es ihm nur selten, gelassen zu sein. Wenn ihm die Ziele ausgingen, verfiel er in eine sonderbare Passivität, in der er sich mit Alkohol und Zigaretten betäubte. Ob er glücklich war? Ich befürchte, nein.

Geduld war gefragt, das vielleicht mütterlichste aller Gebote, gerade in dieser Zeit. Für alles war doch gesorgt, alles zu seiner Zeit, alles würde vorbeigehen. Wie sonst konnte ich das scheinbar Unerträgliche ertragen, die Zumutungen einer Phase des Umbruchs? Da ging es nicht nur um die offenbar gewordenen Missstände im Kern der Gesellschaft, die doch an sich schon so aufwühlend und beunruhigend waren, dass ich sie kaum aushielt. Auch meine eigene Person verlangte mir Geduld ab, hatte Mühe mit diesem Schwebezustand, wollte am liebsten umgehend zur Tat schreiten. Konnte ich warten und es in der Ungewissheit mit mir selbst aushalten? Konnte ich mich selbst ertragen? Ich kannte sie nur zu gut, die Neigung, mich selbstgerecht in die Brust zu werfen, mich über die Dummen und Falschen zu erheben. Andererseits wusste ich auch, was es hieß, mich mit Selbstvorwürfen zu quälen, mir ungnädig jede Unzulänglichkeit vorzuhalten. Aber konnte ich beides hinter mir lassen?

Ich fühlte, dabei half mir der Glaube an eine Vollkommenheit jenseits meiner Vorstellungen von Moral und Perfektion, die im Grunde Zwangsvorstellungen waren. Es ist ein Glaube, der mich bescheiden macht, indem er mich lehrt, dass ich nicht weiß oder wissen kann, warum etwas so ist, wie es ist. Das, was ich an mir selbst beobachtete, konnte mir genauso richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht, positiv oder negativ erscheinen wie das Verhalten anderer. Ich konnte mich irren, in meinem Eifer übers Ziel hinausschießen, voreilig Schlüsse ziehen und wegen eines vermeintlichen Unrechts in Zorn geraten – und das sowohl mit Blick auf mich selbst als auch auf andere.

Nur in dem Maße, wie ich meiner weisen inneren Führung treu zu sein vermochte, konnte es mir gelingen, sowohl hier wie dort zurückhaltender, mit größerer Milde zu urteilen.

Aber darf man denn überhaupt urteilen? Ist das nicht vielmehr zu vermeiden? Man solle nicht urteilen, sagen mir die Wohlmeinenden, und denken dabei, wie sich zeigt, wenn man nachfragt, an das andere, das Verurteilen, das Richten. Und in der Tat, dessen sollte man sich besser enthalten. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet, heißt es im Matthäusevangelium. Kein Richten also, aber ohne zu urteilen, geht es nicht, kann ich weder Entscheidungen treffen noch etwas lernen. Nicht umsonst gilt Urteilsfähigkeit als eine Stärke, ein Ausdruck von Verstand und Erfahrung. Tatsächlich werde ich laufend aufgefordert, die Situationen, in denen ich mich wiederfinde, zu beurteilen. Soll ich dies oder das tun, etwas sagen oder schweigen, bleiben oder gehen? Schon beim Kochen muss ich ständig urteilen. Braucht die Suppe noch Salz oder reicht es? Jeder meiner Entscheidungen liegt ein Urteil zugrunde, auch wenn ich es nicht immer bewusst fälle. Das milde Urteil indes, die umsichtige Beurteilung dessen, was ein anderer tut oder sagt, hält diesem zugute, dass es in ihm eine verborgene Seite gibt, die ich nicht kenne. Mag sein, dass mir die Worte und Handlungen dumm und falsch vorkommen, aber vielleicht sind sie Teil einer Vollkommenheit so groß, dass ich diese niemals erfassen kann. Meine Unwissenheit mahnt mich zur Vorsicht. Im Zweifel für den Angeklagten.

Wenn ich auf diese Weise mit Bedacht in einer Situation stehe, öffnet sich ein Raum, ein Zwischenraum, der jedem meiner Urteile den Charakter des Vorläufigen verleiht. Er versetzt mich in die Lage, zu dem, was ich an mir selbst erfahre, genauso auf Distanz zu gehen wie zu dem, was mir in der Außenwelt begegnet. Dann spüre ich eine Beziehung, einen Zusammenhang: wie draußen, so drinnen, was auf mich zukommt, kommt mir zu. Das Böse und Falsche dort draußen, gemahnt mich an das Böse und Falsche in mir. Ich spüre, in der Mitte davon richtet sich etwas auf, das mich tragfähig macht. Es hilft mir, sogar das schier Unerträgliche zu ertragen, nicht daran zu zerbrechen.

Heißt das, ich füge mich in das Unvermeidliche und resigniere in der fatalistischen Annahme, eh nichts ändern zu können? Die Frage wirft eine andere auf. Woher kommt wirkliche Veränderung, was bewirkt einen Wandel? Angesichts des Unerträglichen gerate ich leicht in den Zwang, mich selbst oder andere zu verbessern. Doch wenn mich der Glaube lehrt, bescheiden zu sein, indem er mir zeigt, dass ich den tieferen Sinn nicht sehe, wie sollte ich da etwas verbessern können?

Zwischen den mächtigen Strudeln des Fatalismus und den schroffen Felsen des Fanatismus scheint jeder heute sein Schifflein hindurchmanövrieren zu müssen. Ich ahne, es ist, um im Bilde zu bleiben, der aufgerichtete Mast, der Baum meines Bootes, dem dabei die zentrale Bedeutung zukommt. Ließ sich nicht auch der mythische, heimfahrende Held Odysseus dort anbinden, als er drohte vom Kurs abzukommen? Der Baum ist immer eine Kontemplation wert. Von ihm wird noch die Rede sein. Aufrecht stehend in meiner Mitte gelingt es mir, den Versuchungen der Extreme zu widerstehen. Standhaft bekämpfe ich weder den anderen noch mich selbst und finde jenseits dieser Gefahren eine fast schon unerklärliche Gelassenheit.

Mein Glaube ist der Glaube daran, dass sich Gutes durch mich tun könnte, wenn ich aufhöre, mit mir und anderen zu rechten in der irrigen Annahme, das Gute machen zu können.

Es ist genauso wenig machbar wie die Liebe, und doch sind beide eine Realität. Unbescheiden und rechthaberisch bin ich so lange, bis es mir gelingt, der inneren Weisheit als Stimme der Unparteilichkeit den ihr gebührenden Platz einzuräumen. Dann kann ich nicht nur geduldig ertragen, was ich an mir selbst und den mir begegnenden Menschen erfahre, ich nehme es sogar und zuallererst als Weg der Läuterung an.

Wie jeder andere auch, bedarf ich der Läuterung, denn so lange Angst und Gier in mir dominieren, stehe ich unter Zwang. Immerzu werde ich angetrieben, das, was ich habe, zu sichern. Meine Angst giert nach Sicherheit und die Gier, gleich einem endlos hungernden Tier, macht mir Angst. Unter der Herrschaft dieses unseligen Geschwisterpaares unterliege ich einem Irrglauben, der mir einflüstert, die Zukunft gestalten, das Neue „machen“ zu können. Dann mag ich zwar große Pläne entwickeln, doch sind diese immer dem Erhalt und Ausbau des Alten verpflichtet. Und je größer die Dominanz dieser Dominas, umso grotesker meine Zukunftsentwürfe. Wie gespenstische Filmkulissen ragen meine Pläne vor mir auf, leere Attrappen, in denen man nicht wohnen kann. Auch wenn die beiden Dämoninnen in ihrer Unbescheidenheit alles daransetzen, ihre aberwitzigen Projektionen zu verwirklichen, können sie doch nur scheitern. Denn das Neue kommt aus dem Verborgenen, ist die Inspiration aus einer Welt, deren Existenz jene mich versuchenden Schwestern immer leugnen werden. Ich kann Inspiration nicht machen, nicht erzwingen, aber ich kann mich danach sehnen. Ist mein Glaube ein Glaube an den Geist Gottes, der in mir wirkt, so ist die Sehnsucht mein Gebet.

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