Licht aus dem Abgrund

Neuland

Wo stehe ich jetzt? Wer bin ich? Alles, was ich draußen vorfinde, finde ich auch in mir wieder. Die Spaltung der Gesellschaft, die viel beklagte und gleichwohl eifrig betriebene, ist ebenso eine Spaltung in mir. Ich erlebe sie als Abspaltung von allem, was an mir immer schon falsch und gelogen war. Ist das ein zu hartes Verdikt? Sollte ich gnädiger urteilen und sagen, ich trenne mich von dem, was mir nicht länger entspricht? Nein, keine Gnade, keine Relativierung der Lüge, kein weiterer Selbstbetrug! Es ist dies eine Zeit der Läuterung, der Trennung von Schlacken im Feuer der … was? der Zeitenwende, der Wahrheit, der Gnade? Gewiss ist dies nicht die Stunde der halbherzigen Schritte, der mutlosen Gedanken oder seichten Zerstreuung.

Das vorangestellte Christuswort vom Schwert, das unheilvolle, hat eine Fortsetzung, die von einer totalen Spaltung kündigt.

„Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.“

Erstaunlich, dass diese Worte, die doch eine innere Wirklichkeit beschreiben, heute auch auf die Situation draußen in der Welt zutreffen! Alles wird auseinandergenommen, voneinander getrennt. Was bleibt, ist die eine Frage: Wenn ich nicht länger Sohn eines Vaters, Bruder von Geschwistern, Ehemann einer Frau, Lehrer von Schülern, Kollege, Schriftsteller, Bildungsbürger bin, wer bin ich dann? Was wenn all diese Rollen in Wirklichkeit Feinde der Wahrheit sind, weil sie mir den Blick auf das, was ist, verstellen?

Ich ahne, ich könnte einer Antwort näherkommen, wenn ich eben auch die andere Frage in Betracht zöge: Wo stehe ich? Nur, wie ist das gemeint? Ich glaube doch nicht, dass ich mich darüber definiere – welch ein schreckliches Wort! –, dass ich auf dieser oder jener Seite stehe, einer Schachfigur gleich, die entweder weiß oder schwarz ist und einen beschränkten, vorgeschriebenen Spielraum, Spielzugraum hat. Vielleicht sollte ich eher fragen: Wo kann ich stehen? Wenn Kinder in einem See baden gehen, waten sie hinaus ins Wasser und rufen sich gegenseitig zu: Ich kann hier stehen! Oder: Ich kann hier noch stehen! Das Stehenkönnen, das sich Über-Wasser-halten ist dann der Beweis ihrer Größe. Frage ich also danach, wo ich stehen oder bestehen kann, ohne unterzugehen, um eine Größe zu finden, die mich ausmacht, eine innere Größe. Ich spüre, da ist etwas jenseits vom Sohn, Bruder, Ehemann, jenseits von dem, was ich sehe, wenn ich in den Spiegel schaue, jenseits auch von Vorlieben und Gewohnheiten.

Draußen bläst ein kalter Wind über eine dünne Schneeschicht. Es ist ein Tag, an dem es nicht richtig hell wird, ein Tag, der mich prüft: Wo ist dein Licht? Beugst du dich dem Dunkel, stemmst dich dem Sturm entgegen? Kannst du diesen tristen Tag bestehen oder überstehst du ihn bloß, bist froh, wenn er vorüber ist?

Ich könnte aufbegehren, der Kälte trotzen, der Macht der Elemente. Ich könnte mich wegducken, verkriechen, klein machen. Aber stehen? Ich ahne, dass es nicht darum geht, etwas zu tun oder zu inszenieren, Rückgrat zu zeigen, gar sich zu opfern.

„Ja, es ist Krieg“, sagt der Hausarzt, „und er ist noch nicht vorbei. Aber in Ihnen ist etwas, das nicht angegriffen werden kann, das davon nicht berührt wird.“ Der Patient sitzt vor ihm wie ein Häufchen Elend, erschrocken über die eigenen Tränen, die innere Anspannung, die sich so lange aufgestaut hat und nun, bei diesen Worten, zu lösen beginnt. Spricht so ein Arzt? Sind das nicht eher die Worte eines Seelsorgers, Worte, die dem Verzweifelten Mut machen, ihn aufrichten sollen? Wieder diese unerwartete Tiefe des Vertrauens zwischen nahezu Fremden. Aber wovon spricht der Mediziner? Was steht mitten in der Welt, ohne davon in Mitleidenschaft gezogen zu werden? Während sein plötzlicher Tränenfluss wieder versiegt, fragt sich der Patient, welchen Ort er in sich aufsuchen muss, um ohne Angst und Verzweiflung auf Bedrohung und Gewalt schauen zu können. Der Arzt spricht von innerer Freiheit, versichert ihm, es gäbe in ihm etwas, das unsterblich sei. Dann erwähnt er Dietrich Bonhoeffer, der doch gerade in äußerster Bedrängnis diese innere Freiheit fand. Der Patient hört es, lächelt bitter und erinnert daran, wie der berühmte Theologe endete.

Und dann ist sie plötzlich da, die schlichte, fast banale Erkenntnis, dass wir alle sterben werden. Merkwürdig, dass gerade sie den Patienten beruhigt.

Ich kann ihn nur umkreisen, diesen Ort der inneren Ruhe, wo ein ewiger Zeuge das Drama auf der Weltbühne als eben das betrachtet, eine eindrucksvolle Inszenierung, einen Lernort der besonderen Art. Mit der Zeit, des Kreisens müde, muss ich nicht mehr so weit ausholen, keine großartigen Taten vollbringen, nicht Geschichte schreiben, mir einen Namen machen, die Welt bis in ihre letzten Winkel bereisen. Ich nähere mich der Mitte und betrachte mein Treiben mit wachsender Verwunderung. War ich das damals an jenem Ort? Was hat mich bloß dazu getrieben? All diese Bemühungen, das Drängen, Begehren, Empören, Streiten – war es das wert? Was hat es gebracht? Zu einem inneren Frieden führen mich diese Fragen vielleicht noch nicht, aber ich lerne, mich zu mäßigen und werde bescheidener.

Da und dort bin ich gestanden, hatte nicht nur Posten inne, Ämter und Stellen, sondern bin vor allem, so scheint es mir jetzt, auf Posten gestanden, habe Wache geschoben wie ein römischer Legionär am Limes. So wie dieser fand ich mich oft zwischen zwei Welten wieder, der einen im Rücken, dem Vertrauten inneren Reich, der anderen dort draußen, einer fremden, bedrohlichen, aber auch lockenden Weite. Auch sie ist eine Mitte, die Grenze zwischen den Welten. Es ist ein einsamer Platz und könnte ein Ort der Einkehr, der Kontemplation, sein. Dort stand ich, mal erfüllt von meinem Auftrag, mal zweifelnd, oft gelangweilt. Tapfer und pflichtbewusst hielt ich stand, nicht so sehr den germanischen Horden aus den Wäldern, sondern dem Ansturm der öden Stunden, der Eintönigkeit meiner Tage. Ich hielt die Stelle, war im Grunde und im Wortsinne nur das: ein Platzhalter.

Platzhalter für wen? Rückblickend frage ich mich, ob es hier geheime Einsatzpläne gegeben und es immer schon festgestanden hat, wer nach mir den Posten beziehen würde. Jedenfalls rückte immer sofort ein anderer nach, sobald ich ihn aufgab, die Stelle wechselte, das Amt niederlegte, einer, der den Platz einnahm, ihn sich aneignete und schließlich, wenn auch nur moderat, eine Frage des Stils, veränderte. Manche standen schon in den Startlöchern, andere brachte ich selbst ins Spiel. Erst der Nachfolger besiegelte meinen Abschied vom aufgegebenen Posten, ermöglichte mir, damit gänzlich abzuschließen. Hatte er auf meinen Rückzug gewartet? War ich von Anfang an nur eine vorübergehende Besetzung gewesen? Natürlich, im existenziellen Sinne, für mich als Sterblichen, ist eine Rollenbesetzung im Weltendrama per se vorübergehend. Davon soll nicht die Rede sein; das gilt schließlich für alle. Nein, meine Nachfolger hielten es tatsächlich viel länger als ich auf dem einmal bezogenen Posten aus, sehr viel länger. Ich bewunderte ihre Beharrlichkeit, aber sie war mir auch suspekt. Schließlich wurde ich zu einer Episode der Vergangenheit, einer Randnotiz im Einsatzplan, vorläufige Besetzung und Vorläufer einer inzwischen etablierten Institution, während meine Nachfolger offenbar angetreten waren, Traditionen zu gründen.

Einzig in der Arbeit mit meinen Schülern konnte ich länger als wenige Jahre durchhalten, und das gelang auch nur deshalb, weil derer jedes Jahr neue kamen und mich vor neue Herausforderungen stellten. So ward meinem Bedürfnis nach Veränderung zumindest teilweise Genüge getan. Für den Rest sollten ungewöhnliche Projekte und überraschende Neuerungen sorgen, selbst wenn diese nur äußerlich waren. Auch eine neue Gestaltung konnte mir durch die Ödnis der Routine helfen.

Eine Zeitlang fand ich Gefallen daran, als Legionär, als Fußsoldat, der unverhofft zum Feldzeichenträger der Legion gemacht wurde, die Ideale der Frühzeit, das Signum einer längst verblassten Autorität hochzuhalten. Man wollte mich schon früh zum „pädagogischen Wächter“ machen. Vielleicht spürten die Kameraden meine Unruhe und trugen mir diese Ehre an, in dem Versuch, meine Umtriebigkeit zu verorten. Ich lehnte zwar ab, wurde mit den Jahren aber trotzdem zum Vorzeige-Montessori-Lehrer gemacht. Aber die Truppen scharen sich inzwischen hinter anderen, den Machern und Pragmatikern. Zwar ist das Feldabzeichen „Montessori“ immer noch heilig und unantastbar, verspricht es doch Sieg und Ruhm. Kein Legionär würde darauf verzichten wollen. Und doch, pragmatisch wie sie sind, ist es für die Kameraden nur noch ein Talisman, ein Maskottchen, auf das sie ihre Treue schwören, ein Stück Folklore, eine verblasste, fast ätherische Standarte, die längst nicht mehr die Marschrichtung bestimmt. Und sein Träger ist eine tragikomische Figur, respektiert und zugleich belächelt als Relikt einer überholt geglaubten Vergangenheit. Ich stand also, wie man so sagt, auf verlorenem Posten.

Was hat das Bild der Legionäre, das Gerede von Truppen, Sieg und Ruhm, heraufbeschworen? Woher auf einmal dieses soldatische Pathos? Richtig, es ist Krieg, das vom Arzt gesprochene Wort muss mich in eine ihm entsprechende Stimmung versetzt und diese daraufhin ihr gemäße Bilder hervorgerufen haben. Oder war es doch das Schwert Christi, Bild einer archaischen Waffe, das beim Arztbesuch auch für den Mediziner spürbar gewesen sein muss? Und wenn, geht es dann wirklich um ein Kampfwerkzeug? Beim Wort Schwert klingt nicht nur das Schwören und Schwirren an. In seinem Konsonantengerüst verbirgt sich doch auch das mit einem vorangestellten „sch“ schneidend eindringende Wort, noch besser erkennbar im englischen „sword“, auch wenn die Aussprache es dort wieder verschleiert. Verläuft also hier die Frontlinie in diesem Krieg, entlang dem Worte Gottes? Und was hieße das, tatsächlich ein neuer Glaubenskrieg? Gott bewahre!

Das Schwert, das einschneidende Wort, zieht eine klare Trennlinie. Es fordert mich auf, einen Schnitt zu machen und mich endgültig von Illusionen loszusagen.

Welche Illusionen? Das Christuswort deutet es schon an. Ich scheine ja nichts weiter als eine biologische Kreatur zu sein, Sohn, Vater, Großvater, eine kurze Episode in einer endlosen Folge von Generationen, eine meinen leiblichen Eltern bloß zufallende Frucht. Jetzt kommt das Schwertwort und sagt: Mache damit deinen Frieden und du wirst, wie alles Vergängliche, dahingehen, die Ewigkeit verlieren. Das Schwert ist kompromisslos. Ich muss mich entscheiden. Verstehe ich mich selbst als biologisch-kausal bedingtes Produkt dieser Welt oder sehe ich meine Welt als eine Schöpfung, die aus dem Verborgenen hervorgeht?

So wird deutlich, dass die Front nicht zwischen mir und den anderen, diesem und jenem Lager verläuft. Nirgendwo liegen sich die Heerscharen der Gläubigen denen der Ungläubigen gegenüber. Die Trennungslinie ist in mir selbst. Dort und dort allein entscheidet sich diese Glaubensfrage. Nur ist es nicht damit getan, sie ein einziges Mal zu beantworten, mit dramatischer Geste das Schwert zu schwingen und wie ein Tatmensch den Knoten ein für alle Mal durchzuhacken. Täglich, stündlich, minütlich fordern mich die Geschehnisse in der erscheinenden Welt heraus. Ich muss wachsam sein, wachsam wie ein römischer Legionär, der über das Hinausblicken auf die dunklen Wälder nicht die Stärke des inneren Reiches vergessen darf. Denn lass ich mich dazu hinreißen, in den finsteren Machenschaften der vor mir ausgebreiteten Welt schon das Ganze zu sehen, ist mein Leben ohne Sinn, ohne Hoffnung, ohne Liebe.

Und nun drängt sie mich weiter zurück, diese dunkle Welt des Krieges, bedrängt mich, beschneidet noch stärker meine Kreise, meinen Aktionsradius. Dort draußen, das ist jetzt nicht mehr zu übersehen, findet keiner Frieden.

Liegt also darin die Lösung, nicht Kriegspartei zu sein, weder mit noch gegen den Strom zu schwimmen, sondern Neuland zu gewinnen, so wie meine holländischen Vorfahren hinter schützenden Deichen jenseits von Ebbe und Flut Neuland gewannen?

Gewonnenes Land! Da geht es nicht um die Wälder Germaniens, die die römischen Legionäre fertig vorfanden – auch wenn es gefährlich war, in sie einzudringen. Erst recht geht es nicht um eine weite Prärie, wie sie amerikanische Kolonisten durchquerten und auf der sie nur noch ihren Claim abzustecken hatten. Nein, es ist neu gewonnenes Land, das die Niederländer dem Wasser abtrotzten, mit viel Mühe und Geduld dem Strom der Gezeiten entziehen mussten. Sollte ich dann erst meine Ruhe, mein gelobtes Land finden, wenn ich aus dem Strom der Zeit aussteige? Und hieße das, bliebe mir dann nichts anderes übrig, als zu sterben, meine Lebenszeit zu beenden? Alles in mir sträubt sich gegen diese Vorstellung, nicht weil ich den Tod nicht wahrhaben will, sondern weil die ganze Schöpfung sinnlos wäre, wenn es nur darum ginge, sie schnellstmöglich hinter sich zu lassen, sich von ihr loszusagen, ihr zu fliehen. Es gibt doch diesseits des endgültigen Schwerthiebes kleinere Schnitte, Lernschnitte, könnte man sagen, Einschnitte, Zäsuren, Unterbrechungen des ansonsten lückenlos dahinfließenden Zeitstromes. Ich kann im Kleinen damit anfangen und mich bemühen, dem endlosen Wiederkäuen vergangener Erfahrung ebenso zu widerstehen wie der hypnotischen Wirkung einer herbeigefürchteten Zukunft. Da wird mir das Schwert zum unmittelbaren Erlebnis. Es richtet sich in mir auf, so dass ich im Kreuz meines Daseins stehe und der lebendigen Situation im Jetzt begegne. In diesem Moment, einem Moment des Seins, dem natürlich weitere folgen können, kann mir nichts etwas anhaben.

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