Keimende Freundeskreise
Kinder haben Freunde, meistens viele, manche davon beste Freunde oder beste Freunde für immer, wie sie sich leichthin versichern. Ihre Freundschaften entstehen spielerisch, vielleicht weil es ihnen noch leichter fällt, aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Auf jeden Fall scheinen sie dabei nicht besonders wählerlisch zu sein. Es hat mich oft erstaunt, zu sehen, wie pragmatisch sie sich mit der vorgefundenen Realität arrangieren. Wenn die beste Freundin mal krank ist und als Spielkameradin nicht zur Verfügung steht, findet man schnell Ersatz. Und der Ersatz, der von einer Nebenrolle unverhofft in die Hauptrolle befördert wird, denkt sich nichts dabei, ist ebenfalls pragmatisch und nimmt, was er bekommen kann.
Auch der kleine Léon, der Name, wohl wegen der räumlichen Nähe zu Wallonien damals noch französisch ausgesprochen – Lüttich, römisch Leodicum, war nicht weit weg –, agierte pragmatisch. Er redete mit diesem und jenem, plauderte, plapperte, witzelte, wollte gesehen und gehört werden, suchte Beziehung. Aber Freunde, gar einen besten Freund? Klar, man traf sich nach der Schule, spielte auf der Straße, streifte entlang der Maas, kletterte in Bäume, baute Hütten. Doch weder diese noch die späteren Kameradschaften waren von Dauer. Die Namen, sogar die Gesichter sind längst vergessen. Vielleicht, so fragte er sich später, als die Jugend die Lage verschärfte, sei er freundschaftsuntauglich, zu ernst und kritisch einerseits, zu freiheitsliebend, sprunghaft und launisch andererseits. Mit fortschreitendem Alter wuchs sein Bedürfnis nach Rückzug und Alleinsein. Viele Gespräche wurden ihm bald langweilig und wer es merkte, erlebte ihn als arrogant, vielleicht zu Recht. Sicher fehlte es ihm oft an Liebe, an der Bereitschaft zur liebevollen Hinwendung. Den Schülern gegenüber, als leidenschaftlicher Lehrer beseelt von seinem Auftrag, gelang sie ihm eher, doch bei den Erwachsenen war er weniger duldsam.
Ausgerechnet die weltumfassende, auch meine persönliche Welt ergreifende Autoritätendämmerung unserer Zeit, eine Krise der Glaubwürdigkeit, verschaffte mir Abhilfe.
Mit dem Anwachsen der Angst, der Lüge des nur dieses und der staatlich verordneten Isolierung war zugleich das Bedürfnis nach echten, aufrichtigen, warmherzigen Begegnungen erstarkt. Nun fand ich sie, die Freunde, mit denen ich in die Tiefe gehen konnte, Menschen, die sich wie ich trauten, in den Abgrund zu blicken. Aus Zeitgenossen wurden mir Leidensgenossen, auch Glaubensgenossen. Man traf sich als Fremde und auf Anhieb war Vertrauen da. Es wurde nicht über Unverfängliches, Nebensächliches, überhaupt Sachliches geredet. Als hätte man keine Zeit zu verlieren, sprach jeder von sich, von allem, was einen betrifft, berührt, bewegt. Es waren existenzielle Begegnungen und in der Freude über die unverhoffte Nähe dachte ich: Der Himmel, das sind die anderen.
Öde, mich anödende Konversationen begegneten mir nicht mehr, kein albernes, belangloses Gerede, kein Erfahrungsaustausch über Konsumgüter oder konsumierte Meinungen, keine beziehungslosen Höflichkeiten. Sie schienen aus meinem Leben verschwunden zu sein. Jetzt konnte ich ernst sein, meine Ernsthaftigkeit leben, ohne hochmütig oder dunkel zu werden. Jetzt konnte ich sprechen und aus mir heraus sprechen lassen, ohne von oben herab zu belehren, ohne Rechthaberei. Denn sie waren da, die Menschen, mit denen ich diese Ernsthaftigkeit teilte, das Fragen nach einem Sein jenseits von Haben, die Suche nach einer Wahrheit jenseits von Für und Wider, Richtig und Falsch. Ich musste mich nicht verstellen, mich nicht leutselig geben und zur Geselligkeit zwingen. Auch in den Augen meiner neuen Freunde waren viele der veröffentlichten Meinungen, die lange herrschenden wissenschaftlichen, politischen und medialen Autoritäten nicht mehr vertrauenswürdig. Aber wir waren uns, wie in einer glorreichen Gegenbewegung, glaubwürdiger geworden, authentischer.
Und wo man sich nun traf! Unter einer ausladenden Linde redete ich stundenlang mit zwei durch die Jahre vorsichtig, abwägend gewordenen Frauen. In einer gemütlichen Wohnküche auf dem Land feierten die trotz allem Hoffnungsfrohen ihre neu gewonnene Freundschaft. Mit fast schon grimmiger Entschlossenheit suchten wir in der überhitzten Stube eines Demeter Bauernhofes nach Wegen der Erneuerung von Grund auf. Ein privater Salon in vornehmer Gegend wurde zum Raum der Inspiration, wo gemeinsam gelesen, gesungen, gelauscht wird. Schließlich in der mütterlich schützenden Umarmung einer original mongolischen Jurte sprachen wir bedächtig und Mut machend, während das Licht von oben hereinfiel.
Neue Räume taten sich auf, Spielräume, Ernsträume. Neue Fragen stellten sich. Wie groß darf der Kreis der Freunde werden? Offen soll er sein, aufgeschlossen und tolerant, gleichzeitig aber Geborgenheit bieten, Schutz vor dem Unheimlichen. Es waren im Wortsinne Privaträume, von staatlicher Herrschaft beraubten, befreiten, für sich stehende Räume, Freiräume. Sie bargen und verbargen das Neue, waren heimelig und heimlich zugleich.
Umkehr, Einkehr, Zeitenwende. Verborgen hielten sich auch die frühen Christusgläubigen, trafen sich insgeheim in den Katakomben einer im Rausch der Grausamkeit schwelgenden Weltstadt. Dort in der dunklen Tiefe entfaltete sich samengleich das Neue. Immer ist es die Tiefe, in der sich die Kreativität entfaltet, und sei es die Tiefe eines gähnenden Abgrunds, einer Enttäuschung oder Verzweiflung. Wie viel größer ist aber noch das schöpferische Potential eines tiefen Gedankens, eines Wortes, vernommen aus dem Dunkel des Unbewussten.
Wieder und wieder tauchen Eichen- und Haseltriebe aus unserem von Kräutern durchzogenen Rasen auf, denn die nahen Bäume und Sträucher drängen unaufhaltsam zur Erneuerung. Jeden Sommer lockere ich den Boden mit der Spatengabel, um die Pflänzchen vorsichtig zu entfernen, bemüht, eine Verwalderung des Gartens zu verhindern. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Wurzel genau so tief reicht, wie das Grün hoch ist, mindestens. Ich staune über ihre starke Verbindung mit dem Erdreich. Eher bricht sie, als sich ganz zu lösen. Die leere Samenkapsel hängt, nutzlos geworden, in der Mitte zwischen den senkrecht hinauf- und hinunterstrebenden Pflanzenteilen, eine Hülle, die ihr Geheimnis enthüllt hat. Der Samen ist zugrunde gegangen und, so könnte man sagen, an seinem kreativen Potential zerbrochen. Erst sein Untergang ermöglicht das Neue.
Das Leben gewinnt aus der Niederlage. What comes down must go up.
Aber ist das Geheimnis wirklich enthüllt? Dem Betrachter zeigt sich doch nur die eine, oberirdische Seite. Der eingreifende, ins Dunkel der Tiefe einbrechende Gärtner ist schon kein Betrachter mehr, eher ein Verhinderer. Kann ich in dem, was zutage tritt, das Verborgene sehen, es ehren, lieben? Ich weiß, dass es da sein muss, doch wenn ich es bloßlege, um es bei Licht zu betrachten, zerstöre ich es. Ich muss es im Dunkeln lassen und auf die Kreativität der Tiefe vertrauen.
Die Welt des nur dieses, des Erscheinenden, Oberirdischen, Diesseitigen, kennt das Verhüllte nicht, mag es nicht, leugnet und verspottet es. Sie will ein Dasein ohne Wurzeln, keine Erneuerung aus der Tiefe, sondern eine technische, berechnende Reproduktion des Bekannten. Das ist keine Theorie, keine bloße Denkfigur. Ganz real ist die Gewalt, mit der mächtige Chemiekonzerne Hybridsaatgut in den Markt drücken und zugleich die Anwendung von samenfestem Saatgut in Knebelverträgen unter Strafe stellen. Die Kreativität der Natur wird mit einem Verbot belegt. Sinnbild und Mahnung zugleich.
Der Tiefe misstrauend, missbilligend alles Unberechenbare und missachtend als das, was sich nicht rechnet, drängte die Oberflächenwelt mich und meine Freunde in den Untergrund, warf uns zu Boden, ließ uns als unbrauchbar und unbelehrbar fallen. Dort aber wurden wir zu Saatgut, trieben aus, drangen in die Tiefe. Nun selbst im Verborgenen, wussten wir nicht, was sich daraus einst offenbaren würde. Und doch war in dieser Ungewissheit, wie in einer Keimzelle, alles enthalten, Glaube, Hoffnung, Liebe. Wir drangen zum Licht, ungeduldig zuweilen, sehnsuchtsvoll. Aber es war dies eine Zeit der Wurzeln, der unterirdischen Vernetzung. Das Netzwerk unserer Verbindungen war unsichtbar, ähnlich einem Pilzgeflecht. Eines Tages würde der Fruchtkörper dieses weitverzweigten und zugleich hauchzarten Geflechts, die Frucht unserer gemeinsamen Kreativität, über Nacht das Licht der Welt erblicken.
Aber das eigentliche Wunder war doch das zarte Netzwerk selbst, unsere ätherischen, energetischen, fast schon telepathischen Verbindungen im Verborgenen.
Ich war nicht imstande, das Neue zu sehen, es zu fassen oder es gar anzufassen, dennoch spürte ich, diese keimenden Freundeskreise hatten einen inneren Wert, sie bereicherten mich in einer Art und Weise, die ich so nicht kannte. Natürlich lernte ich andere kennen, aber das war es nicht. Vielmehr schien ich in der Begegnung mit ihnen selbst eine neue … wie soll ich’s nennen? Seite? Qualität? Bedeutung? zu entfalten. Die harte Samenkapsel meiner lange kultivierten Persönlichkeit war aufgebrochen. Aber keine dunkle knorrige Wurzel war daraus hervorgekommen, eher ein feiner Lichtfaden, der sich in ein großes, mehrdimensionales Gewebe, ein größeres Ganzes einfädelte. Und doch ging ich nicht unter, ging meine Identität nicht verloren. Im Gegenteil, gerade eingewoben in das Geflecht der Gleichgesinnten, leuchtete mein Faden hell und klar auf. Etwas Neues leuchtete in mir auf. Ich erkannte es in den Blicken und Gesten der Freunde, in ihren Fragen und Hoffnungen. Und manchmal wunderte ich mich selbst über den Menschen, zu dem ich geworden war.
Kommentare
[ … Hier kann dein Kommentar veröffentlicht werden.]