Licht aus dem Abgrund

Wir werden erwartet

Sehnsucht, ein Wort, das viele Erinnerungen wachruft, süße, bittere, schmerzhafte. Da ist die Sehnsucht des jungen Siddharta-Lesers, der von einem Indien träumt, das es in der Welt so wahrscheinlich nie gegeben hat. Er sehnt sich nach einem Ideal der Reinheit, Stille und Einfachheit. Wie weit entfernt es ist vom Land, das er, schon nicht mehr jung, beim Besuch vorfindet! Doch im Grunde kennt er keine Sehnsucht nach fernen Ländern, die aufgesucht, angeschaut, durchstreift werden wollen. Die Grundstimmung, das Leitmotiv, ist nicht Fernweh, sondern Heimweh, ein langes, oft vergebliches Suchen nach Heimat. Dennoch ist da die Sehnsucht des Holländers nach dem Meer, nach Weite und Entgrenzung, ein Verlangen, das ihm zweimal fast das Leben kostet. Und natürlich ist da immer wieder die Sehnsucht der Leidenschaft, auch dies ein Eintauchen und Untertauchen, ein sich verzehren nach Verschmelzung, nach rauschhaftem Vergessen. Die Leidenschaft ist früh da, zeigt sich schwärmerisch, begeistert, hoffnungsfroh, später dann ungnädiger, vorantreibend, peitschend, noch später milder, nachsichtiger. Doch Seele? Wonach sehnt sich die Seele?

Gibt es in mir eine solche Sehnsucht, eine die größer ist als alles Wünschen, Gernhaben, Begehren? Und wenn sie größer ist, bin ich dann nicht eher ein Teil von ihr? Langsam! Mein Gefühl rät mir, jetzt nicht zu schnell voranzugehen, nicht etwas so Gewichtiges als bereits gegeben und bekannt hinzunehmen. Hier wird die Sprache vage und vermittelt zugleich, trügerisch und einlullend, Selbstverständlichkeit. Also frage ich weiter. Habe ich eine Seele?

Ich sage leichthin: meine Seele, als würde ich sie wie ein besonderes, unsichtbares Organ in mir tragen. Aber bin nicht vielmehr ich ihr Organ, Ausdruck, Ausstülpung ihres Seins?

Du bist in mir, sagt der Baum zum Samen seiner Frucht. Du bist in mir, sagt der Samen zum Baum. Haben nicht beide recht, gleichzeitig, Immanenz und Transzendenz, kein Vorher, kein Nachher, Kurzschluss der Kausalität? Dort also scheint mir diese Sehnsucht zu sein, eine jenseitige. Ich spüre, dass sie wartet, nicht drängt, nicht vorantreibt, keinen Wind in mein Segel bläst. Ist so etwas denn möglich, eine langmütige Sehnsucht? Hieße das nicht, müsste das nicht bedeuten, dass die Sehnende und das Ersehnte bereits eins sind, oder zumindest, dass die Sehnende um die Einheit wüsste, nicht damals, nicht künftig, sondern jetzt?

Gier drängt, Angst lähmt, die Sehnsucht der Seele wartet. Worauf wartet sie? Vielleicht darauf, dass ich satt bin und das Begehren selbst satthabe, den Rausch des immer mehr, des Ehrgeizes, der Rechthaberei, des Erfolgs. Vielleicht wartet sie, bis die Angst mich gelehrt hat, dass weder Verteidigung noch Besitz noch Wissen Sicherheit gewähren, geschweige denn inneren Frieden. Dann ist sie da. Ich hebe den Blick, werde ihrer inne und – kehre um. Ist das eine Erweckung? Erwache, du, der du schläfst, erwache aus deiner Täuschung! Ich spüre eine Scheu vor diesem Wort, vor seinem religiösen, mystischen Gehalt, einem Wort, dem man gewachsen sein muss, Erweckung.

Allerdings, ist nicht gerade das Ungeheure dieser Zeit ein einziger Weckruf? So kann es nicht weitergehen. So geht es nicht weiter.

Aber Umkehr? Es klingt so, das Wort gibt sich so, als wäre da dieser eine Moment, der dramatische Schlusspunkt einer sehr, sehr langen Reise, an dem die endgültige Umkehr stattfände. Man sieht es bildlich vor sich, kein weiterer Schritt ist möglich, der Weg bricht ab, es klafft ein bodenloser Abgrund, über dem der schon angehobene Fuß verharrt. Von dieser Sekunde an und von dort aus führt der Weg zurück. Aber ist das Bild nicht bloß ein Gleichnis, ein Sinnbild? Ich lebe doch weiter, bin weiterhin in der Welt, kann mich von ihr nicht abwenden, als hätte ich nichts mehr mit ihr zu tun. Nein, es gibt keinen point of return, keinen absoluten Tiefpunkt und damit auch keinen alles entscheidenden Moment einer unumkehrbaren Umkehr. Mir ahnt, dass es hier nicht um irdische Dimensionen geht. Doch was heißt dann Umkehr?

Wohin wende ich mich, wenn ich umkehre? Als er tiefer nicht sinken konnte, seine Ekstase dem Elend gewichen und er der Welt überdrüssig geworden ist, kehrt der verlorene Sohn zurück zum Vater, seinem Ursprung. Aber was löst diesen Schritt aus, was ist ihm unmittelbar vorausgegangen? Es heißt, er ging in sich, er erinnerte sich. Nachdem er bis zum Äußersten in die Ebene hinausgegangen ist, in die Welt der Vielheit, der endlos betörenden Entwicklung, richtet er sich auf, stellt sich in seine Achse und lauscht in sich hinein. Kann es sein, dass gerade dieses Innewerden die Umkehr ist? Ist also die Umkehr in Wahrheit eine Einkehr? Dann aber kann es nicht um einen einzelnen finalen Akt im Lauf meines Lebens, eine biografische Kehrtwende, gehen. Denn das Erinnern weicht doch immer wieder dem Vergessen, worauf das zu Erinnernde wieder einfällt, um schon bald erneut zu entfallen. Demnach gibt es viele Umkehren, täglich, stündlich, minütlich, wäre jeder Moment, in dem ich innehalte und der Sehnsucht der Seele innewerde, ein Moment der Umkehr.

Sinnlos wäre die Welt, sinnlos auch mein Leben in der Welt, ginge es darum, mich von ihr abzuwenden. Denn dächte man das zu Ende, wohin würde es führen? Da zeigt sich mir das Bild fast vollständig eingemauerter Mönche, radikaler Asketen, entschlossen, für die Eindrücke der Sinneswelt unerreichbar zu werden. Nur ein schmaler Schlitz bleibt für die Aufnahme des Allernötigsten, Luft, Wasser, notdürftige Nahrung. Die freiwillige, vielleicht auch ersehnte Einzelhaft in der Hoffnung, dort Gott zu schauen, ist, wie mir scheint, die Schreckensvision eines tragischen Irrtums. Bei der Umkehr, der Heimkehr zum Ursprung, soll es gerade nicht um Abkehr gehen. Warum wird der verlorene Sohn vom Vater aufs Herzlichste willkommen geheißen, als Held gefeiert? Überraschenderweise wird ihm gar nicht übel genommen, dass er seinen Erbteil verprasst und vergeudet hat. Niemand rechnet ihm vor, wie hoch sein Verlust ist. Es gibt keine Vorhaltungen, kein hättest du doch … kein wieso hast du nicht …

Man spürt, der Sohn, und mit ihm jedes Menschenkind, soll sich verlieren, soll durch Höhen und Tiefen gehen, die Welt auskosten, nichts auslassen. Wie könnte er sonst zu allem in Beziehung treten und lieben lernen?

Er kehrt mit all dem, was er genossen, erlitten, ersehnt und gefürchtet hat, zurück in die Heimat, zurück zu sich selbst, jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde. Er verinnerlicht die Welt, bringt sie nach Hause. Dort fügt er alles Erlebte, einem Akt der Liebe gleich, zur Einheit seines Lebens zusammen. Ist das nicht auch die Sehnsucht der Seele, Einheit, das heißt Vollkommenheit in einem von Liebe erfüllten Jetzt? Der Glaube daran, dass genau das möglich, ja auf einer höheren Ebene, in der verborgenen Sphäre des Geistes bereits Wirklichkeit ist, bildet doch den Kern meines Glaubens.

In einer Welt, in der scheinbar jeder für sich rudert, kämpft und leidet, ist es mir ein inneres Bedürfnis, an Beziehung zu glauben. Ich rudere doch mit, kämpfe und leide doch auch. Wir sind Zeitgenossen, teilen das gleiche Los, sind im wörtlichen Sinne Konsorten, Schicksalsgefährten und gemeinsam Zeugen einer dramatischen Wende. Zeigt nicht gerade jetzt die Suche nach Autoritäten, nach Menschen und Erklärungen, die uns glaubwürdig erscheinen, denen wir vertrauen können, dass wir glauben wollen, nicht weil uns nichts anderes übrigbleibt, sondern weil zu glauben, zu vertrauen, der Weg ist, uns mit der Welt zu versöhnen, sie zu verinnerlichen? Heißt nicht zu glauben immer schon in Beziehung zu treten? Das ist ein Wagnis, ein Unterfangen mit offenem Ausgang. Und so ist mir das Glauben kein mutloses Akzeptieren, keine Kapitulation der Vernunft, kein furchtsames Klammern an tradierte Vorstellungen, sondern ein kreativer Akt, eine Umwandlung meiner Welt, Sinngebung aus der Stille meines Seins. In dunklen Stunden, in denen mir Unverständnis, Ablehnung und Feindseligkeit begegnen, glaube ich an die Liebe Gottes. Ich weiß, er wartet, wartet auf meine Heimkehr.

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