Licht aus dem Abgrund

Wo das Wissen aufhört

Je länger die landesweite, ja weltweite Ausnahmesituation andauerte, umso mehr nahm die Verwirrung zu und im wachsenden Wirbel der Wirrnis half mir nur noch eine innere Kraft, die ich als meinen Glauben bezeichne. Mir ist wohl bewusst, dass dieser Begriff zahlreiche Assoziationen zu wecken vermag, Bilder, Erinnerungen und Gefühle, die nicht immer positiv sind. Sie reichen, etwas überspitzt gesagt, von Bigotterie bis zur Naivität. Aber ich halte mich weder für besonders fromm noch für unbedarft. Was also meine ich, wenn ich dieses bedeutungsschwere und von seinem Gebrauchtwerden belastete Wort hier benutze. In der alltäglichen Anwendung ist glauben ein Für-richtig-halten, ein Plausibel-finden. In diesem Sinne „glaube“ ich manchem von dem, was ich höre oder lese, eher als anderem. Der Grund dafür ist fast immer, dass mir manche Menschen mit dem, was sie erzählen, glaubwürdiger erscheinen als andere. Das ist nicht bloß eine Frage der Sympathie. Es gibt Menschen, denen es gelingt, zu ihrem Wort zu stehen, die ihm gewachsen sind, so dass Sprache und Sprecher als stimmige Einheit erklingen.

Aber das ist nicht der Glaube, den ich hier meine, denn mein Für-glaubhaft-halten würde am Ende doch nur das Für-falsch-halten eines Gegenübers auf den Plan rufen. Und je nachdrücklicher oder trotziger ich auf meiner Überzeugung beharrte, umso wahrscheinlicher wären Streit und Spaltung, Rechthaberei, Glaubenskrieg! Wenn ich mich nach außen wende, der Welt der ständigen Nachrichten, Stellungnahmen, Warnungen, Beschwörungen und Bekenntnisse zuwende, um dort Wahrheit zu finden, verliere ich mich in der Vielheit der Argumente und Gegenargumente. Überall treffe ich auf Widersprüche. Sie sind das Wesen der Wirrnis.

Ich höre Menschen in meiner Umgebung ratlos, manche auch resignierend ausrufen, sie wüssten nicht mehr, was sie noch glauben sollten. Ich verstehe ihr Durcheinandersein, ihre Hilflosigkeit und doch staune ich über das Wort. Wieso glauben? Ist das bloß eine Gedankenlosigkeit, ein zur Gewohnheit gewordener Fehlgriff? Man könnte doch sagen, man wisse nicht mehr, was man noch für richtig halten solle, auf welche Informationsquelle man sich noch verlassen könne. Doch stattdessen höre ich regelmäßig vom Glauben sprechen. Man glaubt, man hält für glaubhaft, findet unglaubwürdig, kann nicht glauben. Ich bekomme den Eindruck, dass wir es hier mit einem inneren Bedürfnis zu tun haben, ganz so wie atmen, Gefühle ausdrücken, den Tag gestalten oder unserer Erfahrung eine Bedeutung verleihen. Ist es denn nicht so, dass wir glauben oder, was auf dasselbe hinausläuft, vertrauen wollen. In unserem Herzen, wenn wir still werden, wissen wir wohl, dass unsere Sinne uns nicht die ganze Wahrheit vermitteln. Dann ahnen wir, weshalb uns das Wissen dieser Welt am Ende ratlos macht, vielleicht sogar in die Irre führt. Skepsis und Misstrauen scheinen daher sehr wohl angebracht und doch spüren wir, dass sie uns nicht gut tun. Wohin also mit unserem Bedürfnis, uneingeschränkt und hingebungsvoll zu glauben?

Was wissen wir eigentlich und wieso macht uns dieses Wissen nicht wissend, entschieden und klar? Wie kann es sein, dass es stattdessen Verwirrung stiftet und uns spaltet?

Sollte uns denn eine Information nicht durch ihre sachliche Grundlage überzeugen, eine Beweisführung nicht kraft ihrer inhärenten Logik als schlüssig und zweifelsfrei richtig erscheinen? Wir sind doch vernunftbegabte Wesen und deshalb zumindest prinzipiell in der Lage, das bessere Argument als solches zu erkennen. Eine stichhaltige, einfach vorgetragene Erklärung leuchtet doch grundsätzlich jedem ein. Auf ihrer Grundlage müssten wir uns folglich einig sein, ohne Missverständnisse, ohne Streit. Aber das Gegenteil ist der Fall. Das überrascht, da wir heute Möglichkeiten einer umfassenden Informationsbeschaffung haben, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar waren. Ich frage mich, was fehlt. Wieso können wir uns auf dem Boden sicheren Wissens nicht einvernehmlich begegnen? Liegt es an der Qualität des Wissens oder daran, wie wir es aufnehmen und verarbeiten? Hat sich die Ausgangslage für unsere Urteilskraft verschlechtert?

Blicken wir auf die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, so sehen wir uns immer mehr mit einem Expertenwissen konfrontiert, das wir aufgrund seiner Komplexität gar nicht mehr nachvollziehen, geschweige denn dessen Relevanz oder Evidenz überprüfen können. Ein Heer extrem spezialisierter Fachleute, die Elite jener, die sich in ihrem Sachbereich auskennen, die über eine ganz bestimmte Expertise verfügen, hat uns entmündigt. Denn wir können nicht mitreden, können nur zuhören und nicken. Wir sind gezwungen, ihnen zu glauben – sofern wir es denn können. Vielleicht nennen wir es anders und sagen, dass wir ihrer Autorität vertrauen. Aber das ist im Grunde nichts anderes. Wir nehmen die Forschungsergebnisse der Experten als gegeben hin. Ausgerechnet die Naturwissenschaft, das Flaggschiff des Positivismus, einst angetreten, dem Glauben die Grenzen aufzuzeigen, ihn gar überflüssig zu machen, fordert uns jetzt dazu auf, ihre Erkenntnisse zu glauben. Dass manche unserer Führer heute so weit gehen zu behaupten, man dürfe das Wissen der Spezialisten gar nicht hinterfragen, ein jeder solle sich in die Gemeinde der Gläubigen einreihen und diese geschlossen hinter den geheiligten Autoritäten stehen, zeigt in grotesker Form, wie weit unsere Unmündigkeit inzwischen geht. Nach einem langen Säkularisierungsprozess scheinen heute viele erleichtert zu sein, wieder glauben und ihren Glauben bekennen zu dürfen.

Aber das Wissen, das wir als geheiligte Wahrheit akzeptieren sollen, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem und dieses erstreckt sich auch auf die naturwissenschaftliche Forschung und Lehre, die Institutionen also, die wir zu einer Autorität in Sachen Wissen haben werden lassen. Man hört und liest, dass der etablierte Wissenschaftsbetrieb für seine Forschung auf das Geld großer Konzerne, Ministerien, Stiftungen und NGOs angewiesen ist. Das ist kein Geheimnis und keine haltlose Unterstellung. Viele Universitäten haben längst Abteilungen oder Geschäftsbereiche für ein sogenanntes Drittmittelmanagement eingerichtet. Man darf, man muss vielleicht sogar bezweifeln, ob aufgrund dieser finanziellen Abhängigkeit eine wirklich freie, ergebnisoffene Forschung noch möglich ist. Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing. Und natürlich verlöre ein Wissenschaftler seine Glaubwürdigkeit, sobald er einmal gekauft wäre. Das ist banal, könnte man sagen, nichts Neues, wie in der altertümlichen Redensart von Brot und Lied schon anklingt.

Mir scheint, das Problem liegt tiefer, ist eine Frage der Beziehung. Könnte es sein, dass wir deshalb so schwer Zugang zum Wissen der modernen Naturwissenschaft finden, weil es immer abstrakter geworden ist, lebensferner? Wem soll es noch gelingen, sich als Mensch, als empfindendes, fühlendes und lebendig denkendes Wesen zu diesem hochspezialisierten und detaillierten Expertenwissen in Beziehung zu setzen?

Wir sind doch keine seelenlosen Maschinen, sondern Menschen und als solche sollten wir, wie ich meine, imstande sein, Wissen nicht nur intellektuell zu verarbeiten, sondern es auch fühlend zu durchdringen, um dann gemäß des gefühlten Werts für unser Leben zu handeln. In Bezug auf das heutige Spezialwissen, das uns in Form von computergenerierten Zahlen und Modellen präsentiert wird, scheint das unmöglich zu sein. Vielleicht ist es auch gar nicht erwünscht, vielleicht soll meine Lebendigkeit, all das, was mich als Mensch ausmacht, ins Private zurückgedrängt werden. Es sieht so aus, als wäre die strikte Trennung zwischen Leben und Wissen das Ideal unserer Zeit.

In der naturwissenschaftlichen Forschung herrscht dieses Ideal schon lange vor. Immerhin wird das Wissen von Molekularbiologen, Astrophysikern, Virologen oder Genetikern ohne Beziehung generiert. Die Forscher nehmen sich selbst als Menschen aus ihrer Forschung raus, alles andere würde ihre Ergebnisse diskreditieren. Die herrschende Vorstellung von wissenschaftlicher Disziplin und Objektivität verlangt von ihnen, ihre Gefühle, ihre Empfindungen, erst recht die Stimme ihres Gewissens konsequent auszublenden. Bilde ich mir das ein oder ist es wirklich so, dass moderne Naturwissenschaftler sich selbst minimieren und, noch drastischer, alles nicht Rationale aus ihren Gemütern vertreiben? Sie scheinen gerade noch da zu sein, um Geräte zu bedienen und Messdaten zu protokollieren. Als Subjekt dürfen sie ihre Forschungsarbeit nicht beeinflussen. Ihre Erkenntnisse sollen unpersönlich, ja subjektlos sein.

Haben wir es deshalb mit einem im Wortsinne unmenschlichen Wissen zu tun, einem Wissen, für das sich keiner persönlich verantwortlich fühlt? Und hieße das nicht auch, dass wir in der Gefahr wären, es gewissenlos zu nutzen?

Mensch zu sein, bedeutet in Beziehung zu sein. Ich setze mich zur Welt in Beziehung, zum Tee, den ich trinke, zum Buch, das ich lese, zu den gefallenen Blättern, die ich im Garten zusammenreche, und natürlich auch, was unendlich viel komplexer und herausfordernder ist, zu anderen Menschen. Atmung und Stoffwechsel haben auch Pflanzen. Freude, Angst und Trauer kennen auch Tiere. Aber dieses zur ganzen Welt In-Beziehung-treten, ist das nicht etwas, was uns als Menschen ausmacht? Die Beziehung ist da, sobald ich mich interessiere, sobald ich Anteil nehme, egal ob ich mich begeistere, ängstige oder ärgere. Die Welt und alles, was mir darin begegnet, geht mich an. Ich spüre, dass sie zu mir gehört.

Das lässt sich nicht beweisen, steht auf einem anderen Plan, aber ich fühle, es gibt diese Einheit von allem in meinem Leben, den zahlreichen Begegnungen, den verschiedenen Lebensphasen, dem Wechsel von Aufwind und Rückschlag, den verschlungenen Wegen mit ihren spontanen Ereignissen. Sie ist Ausdruck einer großen Liebe. Und da kommt der Glaube wieder ins Spiel, denn ich glaube an die Liebe, an das Trotzdem der Liebe. Trotzdem ich ängstlich, träge, gierig, untreu oder starrsinnig bin, werde ich geliebt und bin aufgehoben im liebevollen Blick einer großen Weisheit. Geliebt von wem? Von einem Sein, das weiter und umfassender ist, als ich mir vorstellen kann, einem Sein, in dem die Einheit ist. Die verborgene Entsprechung, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht, ist unsichtbar, unfassbar und im rationalen Verstande unbegreiflich. Sie ist das, was ich als Sinn erlebe, etwas Geistiges und zugleich höchst Individuelles, ähnlich einem Universum, das zugleich draußen wie auch in mir drinnen ist. Ich glaube an das Dasein des Sinnes, obwohl ich sein Vorhandensein nicht beweisen kann, nein, gerade weil es sich nicht beweisen lässt.

Das ist Glaube in Reinform, der Glaube an das Unbewiesene, das Unwahrscheinliche und in der Welt der Naturgesetze Unmögliche. Er ist das, was die religiöse Tradition den Glauben an Gott nennt, der Glaube also an etwas Gewaltiges, Jenseitiges, das ich nicht kennen, niemals wissend erfassen kann. In hellen, heilen Momenten mag ich etwas davon erahnen und zugleich empfinde ich staunende Ehrfurcht, nicht vor dem, was ich mir als endlose räumliche und zeitliche Ausdehnung vorstelle, eher vor einer Intensität, einer Reinheit des Lichtes, der Liebe, der Wahrheit. Diesen kurzen Moment der Ahnung genügt, um zu sehen, dass mein Gefäß, und wäre es noch so geläutert, zu klein ist, jene Realität zu fassen.

Selbst wenn ich begnadet und geheiligt werden würde, es bliebe doch immer das Unfassliche, an das zu glauben meine Liebe wäre.

Anders das Fassbare! Die Existenz dessen, was meinen Sinnen hier im Alltag gezeigt wird, akzeptiere ich. Ich nehme es als gegeben hin, als Teil meiner Wirklichkeit, die die Erfahrung mir auf Schritt und Tritt bestätigt, die Keimkraft von Samen, die Wiederkehr der Sonne am Ende der Nacht, die Vergänglichkeit meines Körpers oder auch die Tragfähigkeit einer Brücke, die ich überquere. Daran muss ich nicht glauben. Ich kann all das auf Grund meiner Beobachtung für mehr oder weniger wahrscheinlich halten. Vieles kann ich berechnen, die Stunden genauso wie die Statik. Auch ob jemand kraft seines Geistes einen Löffel verbiegen kann oder imstande ist, meine Gedanken zu lesen, muss ich nicht glauben. Ich kann es mir demonstrieren lassen. Dann erführe ich es, bekäme Gewissheit und müsste wohl akzeptieren, dass es Dinge gäbe, für dich ich zurzeit noch keine Erklärung hätte. Aber die Erklärung ließe sich finden. Jede anschauliche Beweisführung führt zu Wissen, zu dem, was wir gesichertes Wissen nennen.

Der ungläubige Thomas legt seinen Finger in die Wunde des auferstandenen Heilands. Er kann und will nur als Wahrheit akzeptieren, was ihm seine Sinne vermitteln, das Angefasste, Faktische. Aber wie das Wesen meiner selbst ist auch das Wesen des Erlösers ein geistiges. Ich kann es weder ertasten noch mit physischen Augen sehen. Zu erwarten, dass der Messias eines Abends durch meine Tür hereinkommt, sich zu mir an den Tisch setzt, um mit mir das Brot zu brechen und ein Gläschen Wein zu trinken, wäre nicht nur Ausdruck eines tragischen Missverständnisses. Es würde auch zeigen, dass ich angefangen hätte, das Göttliche zum Götzen zu machen, es zu veräußerlichen, zu verdinglichen.

In der Welt der Erscheinungen, die sich im Nebeneinander und Nacheinander endlos in der Fläche ausdehnen, ist alles berechenbar, und insofern auch vorhersagbar und machbar. Alles hat einen Zweck oder Nutzen und solange wir nur diese Welt gelten lassen, ist für uns das, was nutzlos erscheint, keinen Profit bringt, wertlos oder nichts weiter als ein Hirngespinst. Sogar Künstler, deren Werke für sich zu stehen beanspruchen, keinen Zweck im wirtschaftlich-materiellen Sinn erfüllen, nur der Freude gewidmet sind, unterstellen wir dann Profilierungssucht. „Umsonst“ zu lieben, das kennt unser kausales Denken nicht. Es kann Liebe nur als Zwang zur Arterhaltung, von Instinkten gesteuerte Brutpflege oder Antrieb zur Sicherung unserer Gene verstehen. Und wenn uns jemand etwas schenkt, einfach so, macht es sogleich eine Rechnung auf und lässt uns misstrauisch fragen, was der Schenkende wohl davon hat, oder was wir ihm jetzt schulden.

Doch während ich überall um mich herum die Herrschaft des Nützlichkeits- und Profitdenkens sehe, kann ich an bedingungslose Liebe glauben. Sie ist vollkommen und ich glaube an das Vollkommene.

Warum ist das so? Woher kommt dieser Glaube? In der Welt, in der ich tagtäglich meine Erfahrungen mache, gibt es dieses Vollkommene nicht. Mag sein, dass mir eine üppig blühende Kastanie am Straßenrand, die Kletterkünste des Eichhörnchens in meinem Haselstrauch oder der herrliche Sonnenaufgang an einem klaren Herbstmorgen vollkommen erscheinen. Aber die Blüten werden welken, das possierliche Tierchen wird sterben, die Farbenpracht am Horizont verschwinden. Das Vergängliche befriedigt nicht meine Sehnsucht nach Vollkommenheit, nach einer Einheit, in der alles ewig ist. Liegt also darin der Ursprung meines Glaubens in der Sehnsucht meiner Seele?

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