Licht aus dem Abgrund

Ein und alles

Gibt der Erfolg recht? Die Erfolgreichen machen doch alles richtig, erreichen ihre Ziele, sind besser als andere. Was sie in Angriff nehmen, gelingt ihnen, manchmal sogar spielerisch, als sei der Erfolg ihr Erbrecht, das sie mit großer Selbstverständlichkeit in Anspruch nehmen. Offensichtlich sind sie kompetent und können sich durchsetzen. Sie haben den Dreh raus. Der Glanz des Siegers umgibt sie wie eine goldene Aura, und man möchte ihnen nah sein, um wenigstens im Abglanz ihres Nimbus zu stehen. Man würde gern von ihnen lernen, ihr Erfolgsrezept kopieren, profitieren von ihrer „Best Practice“. Vielleicht fragt man sie gar um Rat, möchte in ihre Fußstapfen treten. Aber garantiert ihr Erfolg, dass sie Recht haben? Ist ihr Triumph mit anderen Worten maßgebend, normativ? Ihr Können ist überzeugend, gewiss, aber was meine Haushaltsgeräte können, überzeugt mich auch, und dennoch nehme ich sie mir nicht zum Vorbild.

Wir lieben die Sieger, das ist offensichtlich. Das ganze mediale Sportspektakel bringt es eindrucksvoll zum Ausdruck. Mehr noch als der Jugend und Schönheit, so scheint mir, huldigen wir dem Siegerkult.

Mir scheint, diese Verehrung ist ein tiefes Bedürfnis, etwas Archaisches. Der Sieger wird auf den Schild gehoben, zum Anführer gemacht, nicht immer in einem öffentlichen Zeremoniell, heutzutage wohl eher insgeheim in unseren Wünschen und Vorstellungen. Was der Gewinner sagt, wird getan, sein Wort wird zum Gesetz. Wir hören es vielleicht nicht gern in unserer Zeit des aufgeklärten Bürgertums und der gepflegten Rationalität, aber wir glauben offenbar immer noch an das Recht des Stärkeren.

Man spricht vom Siegeszug der Naturwissenschaften, der irgendwann im Laufe des 17. Jahrhunderts Fahrt aufnahm. Seitdem hat die materialistisch ausgerichtete Forschung die Welt und die Herzen der Menschen erobert, weil die von ihr ermöglichte und hervorgebrachte Technik so überaus erfolgreich ist, uns das tägliche Leben ungemein erleichtert. Mathematik und Physik haben uns in die Lage versetzt, Autos und Flugzeuge zu bauen, Fernseher und Kühlschränke, Computertomografen und Elektronenmikroskope. Das sind eindrucksvolle Zeugnisse technischer Könnerschaft, wahre Glanzleistungen. Die Naturwissenschaft ist nicht als theoretische oder spekulative Disziplin erfolgreich, sondern wegen ihrer Nützlichkeit.

Das ist die übliche Erklärung, aber ich frage mich, ob sie stimmt. Haben wir uns von der praktischen Verwertbarkeit dieses Naturwissens überzeugen, gar verführen lassen oder sind all die technischen Hilfsmittel gerade deshalb so erfolgreich, weil wir irgendwann unser Herz an die der Forschung zugrundeliegende materialistische Weltanschauung gehängt hatten, weil wir selbst Materialisten geworden waren? Was motivierte den Menschen der Neuzeit, was veranlasste ihn überhaupt, theoretische Erkenntnisse dazu zu benutzen, seine Umwelt zu verändern? Technische, insbesondere mechanische Erfindungen gab es auch schon in der griechischen Antike. Aber offensichtlich dachten die Menschen damals nicht materialistisch und so blieben die Erfindungen Spielereien von Philosophen, Objekte ihrer Kontemplation, und fanden höchstens auf der Theaterbühne oder in anderen Nischenbereichen des Lebens ihre Anwendung.

So oder so, Wissenschaft und Technik sind auf der Siegerstraße. Wir enträtseln das Universum, entziffern das menschliche Genom, steuern Roboter über große Entfernungen hinweg, entfesseln die Kraft der Atome. Wir bauen Brücken und Computer, transplantieren Organe, dringen immer tiefer in die Geheimnisse der Materie ein. Wir sind im Rausch dieses Erfolges, der sich immer schneller selbst übertrifft.

All diese technischen Errungenschaften scheinen den Apologeten einer gott- und geistlosen Welt recht zu geben. Wir brauchen keinen Schöpfergott, wir machen uns unsere eigene Welt und wir machen sie besser als jene, die wir vorgefunden haben.

Diese Siegesgewissheit, diese Hybris der Macher und Techniker bewog mich schon als junger Mensch dazu, alles Behauptete, wissenschaftlich Bewiesene und Unterwiesene in Frage zu stellen, dasjenige also, welches der Mehrheitsmeinung, der siegreichen Ansicht entsprach. Sicher, da waren Spitzfindigkeit, Rechthaberei, auch eine Lust am Provozieren dabei, sodass ich menschlich oft weit hinter meiner Kritik zurückblieb. Es mangelte mir an Reife und das ziemlich lange. Bis zu welchem Alter spricht man noch von Jugendsünden? Sicher nicht bis vierzig. Doch da erst lernte ich in mir einen Willen kennen, der stärker, reiner und gewissenhafter war als die Willkür, die mich bis dahin stets geleitet hatte.

Jedenfalls lehnte ich mich schon früh gegen die Autorität der Mehrheitsmeinung auf. Ich hatte keine Ahnung, was ich da tat, noch was mich dazu bewog. Aber mit jugendlicher Selbstüberschätzung zog ich kühn das Recht der Mehrheit in Zweifel. Heute heißt Mehrheit Mainstream und als dieser damit begann, machtvoll eine Ansicht zu vertreten, die von niemandem angezweifelt werden durfte, war mein Widerstand nicht mehr aufzuhalten. Doch woher kommt diese tiefsitzende Neigung, ja sogar Lust, mich mit der Mehrheit anzulegen und ihre Gewissheiten kritisch zu hinterfragen?

Im rauen Arbeitermilieu meiner Kindheit gehörte Obrigkeitskritik, ein in derben Worten geäußertes Misstrauen gegen „die da oben“, zum guten Ton. Die Skepsis wurzelte in einer Zeit vor dem Krieg, der Kindheit meiner Eltern. Damals gab es in meiner Heimat noch Kohlegruben. Die Arbeit unter Tage war schwer und gefährlich. Der staatlichen Bergwerksleitung wurde im Volk unterstellt, dass sie die Ansiedlung anderer Wirtschaftszweige in der Provinz konsequent unterband, um den ungebildeten Einwohnern keine andere Wahl zu lassen, als in der Zeche zu arbeiten. Die damalige „Verschwörungstheorie“ ging von einer Allianz zwischen Staat und katholischer Kirche aus: Halte du sie dumm, dann halte ich sie arm. Man könnte also sagen: In meiner Familie grassierte der Populismus.

Später, als ich in Amsterdam studierte, schämte ich mich für die provinzielle, politisch inkorrekte, mutmaßlich einfältige und unterschwellig zornige Einstellung meiner Verwandten. Ich versuchte diese Vergangenheit zu vergessen, ungeschehen zu machen. Ich übte sogar fleißig Hochniederländisch, um meine Aussprache von jeglicher mundartlichen Prägung zu befreien. Heute hätte ich Grund genug, mich für meine damalige Hochnäsigkeit und Borniertheit zu schämen. Inzwischen weiß ich, und auch das ist eine späte Erkenntnis, dass meine einstmals geschmähte Kinderstube mir in Wahrheit hilft, der Erzählung vom wohlmeinenden, fürsorglichen Staat mit einer gesunden Portion Skepsis zu begegnen, einer Skepsis, die nicht nur angebracht, sondern dringend geboten ist.

Denn auch im Staat begegnet mir das Recht des Stärkeren, die weltliche Macht derjenigen, die am längeren Hebel sitzen. Fürsorglich, das weiß man heute, kümmert sich Vater Staat vor allem um die Vermögenden. Das geschieht nicht, weil die Menschen wesentlich böse sind, sondern weil sie so denken, wie sie denken. Bei der vorherrschenden Weltanschauung geschieht Korruption fast zwangsläufig, als bittere Konsequenz der materialistischen Lüge: Wer an das nur dieses glaubt, nur dieses Leben, nur diese Welt, nur Wettbewerb und struggle for life, der tendiert dazu, käuflich und unverantwortlich zu sein. Das sehen wir heute weltweit. Die Gefolgschaft des Systems, all die treuen Handlanger des Regimes, die Helfershelfer der Pharma-Konzerne zum Beispiel oder die Jasager in den Parlamenten, Gerichten und Universitäten werden zuverlässig und gut bezahlt. Ein jeder von ihnen handelt nach dem Credo: Nach mir die Sintflut.

Bin ich, indem ich solche Sätze schreibe, wieder zum Proletarier, gar zum widerständigen Proleten geworden? Oder war ich ein solcher immer auch?

Wer seine Vergangenheit verdrängt, sie von sich wegschiebt, vergessen will, den, so sagt man, holt sie ein. Aber warum ist das so? Kann es sein, dass die Vergangenheit gar nicht vergangen ist, dass sie zu mir gehört und im Grunde umgekehrt von mir eingeholt werden will, so wie ein Fischer seine Netze einholt? Denkend und schreibend werfe ich ein Netz in das Wasser der Zeit und hole die einzelnen Stationen und Ereignisse herauf. Jeder Ausschnitt meiner Lebenszeit will gewürdigt werden, meine Erfolge und Misserfolge, meine Einfälle und Einsichten genauso wie meine Fehler und Dummheiten, Schönes und Hässliches. Ich hole alles ein, denn ich fühle, es ist ein Teil von mir, aber nicht so, dass das Vorangegangene das Spätere bedingt. Ich bin nicht das Produkt meiner Vergangenheit, so fühle ich nicht. Ich erlebe das Vergangene nicht als die Ursache oder Vorstufe der Gegenwart. Mögen andere so denken, Historiker, Evolutionspsychologen oder Logiker, doch ich spüre, ich würde den Sinn verfehlen, verstünde ich mein Leben bloß kausal als eine Kette von Ursachen und Wirkungen, rational erklärbar und schlüssig.

So hat mich auch meine Herkunft aus bescheidenen, fast schon anti-intellektuellen Verhältnissen nicht zu dem „gemacht“, als der ich heute in Erscheinung trete. Ich spüre, es lebte immer schon beides in mir, von Anfang an, das Intellektuelle, Theorielastige, die Freude am Lesen, Schreiben und Nachdenken genauso wie das Ketzerische, Provozierende, Unkonventionelle und anti-Autoritäre. Das Ganze ist eher wie das Gemälde einer weiten Landschaft. Kein Bildbetrachter würde sagen, jener Baum da hinten ist eine Folge des abgeernteten Kornfeldes hier vorne oder die Wolke da oben geht aus dem sich schlängelnden Pfad hier unten hervor. Alles ist gleichzeitig da, steht nebeneinander und bildet so erst ein Ganzes.

Man kann den Siegern dieser Welt, den Machern und Könnern ihre Erfolge durchaus lassen, sie neidlos anerkennen. Ich spüre aber, dass ihre Leistungen nicht in der Lage sind, meine Beziehung zu mir selbst zu stärken. Wenn man im Siegesrausch der technischen Machtfülle ist, hingerissen von den Möglichkeiten der neuesten Geräte, geschieht vielmehr das Gegenteil. Man überlässt der siegreichen Technik die Führung, erklärt ihre Gesetze zum Recht und entfernt sich von sich selbst, von dem, was im Innern lebt und in die Einheit führen will.  

Wie sonst soll ich meine Einheit finden, als durch das Einholen meiner in Zeit und Raum verstreuten Teile? Vielleicht meint das auch die hinduistische Verkündigung tat twam asi, das bist du. Betrachte dein ganzes Leben als Ausdruck deiner selbst. Und diese Sichtweise wird weise ergänzt durch das mahnende neti, neti, nicht so, nicht so, um daran zu erinnern, dass die große Einheit, Gott, Geist, Brahman, Tao, weder nennbar noch erkennbar ist.

Doch auch der göttliche Menschenfischer holt mich ein. Und wenn ich bloß ein kleiner Fisch in seinem universellen Netz bin, so trage ich doch zu seiner Einheit bei. Ist das Größenwahn? Glauben? Hoffnung oder vielleicht, könnte es sein, der Ausdruck einer großen Liebe?

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