Licht aus dem Abgrund

Lass es sein!

Ich bin … Ja? Ich bin … was? Was kann hier, was soll hier folgen, welches Prädikat wäre angemessen, alarmiert, aufgewacht, kritisch, wütend? Oder vielleicht aufopferungsvoll, pflichtbewusst, gesetzestreu, heldenhaft? Die Auswahl an möglichen Zuschreibungen ist groß, doch jede, ganz gleich welche, führt mich aus meiner Einheit. Die Prädikate haften mir an, ich hefte sie mir wie Auszeichnungen an die Brust und gestalte mir auf diese Weise, wie man heute sagt, ein Profil. Dieses und jenes rechne ich mir zu, identifiziere mich damit, verleihe meiner Person eine charakteristische Prägung, und mache somit mein Verhalten für andere berechenbar. Überhaupt kommen viele solcher Zuschreibungen in Zusammenarbeit mit anderen zustande. Ich kann mich selbst als zuverlässig betrachten, aber erst, wenn ich auch von anderen so gesehen werde, gelte ich als verlässlich. In gewisser Weise werden damit unsere Kommunikation und Interaktion einfacher. Sobald ich aber anfange, mich mit diesen Attributen zu identifizieren, egal ob ich damit Positives oder Negatives assoziiere, stecke ich in der Falle.

Wenn ich sage: Ich bin spirituell, emotional und spontan, so lege ich mich fest. Daraus entsteht und festigt sich meine Person. Zugleich schließe ich andere Eigenschaften aus: Ich bin nicht materialistisch, nicht rational, nicht berechnend. Das heißt, meine Person ist immer durch Einseitigkeiten geprägt, teils infolge meiner Vorlieben, teils aufgrund der Entscheidungen anderer. Würde ich sagen: Ich bin spirituell aber auch materialistisch, emotional aber auch rational, spontan aber auch berechnend, wüssten die anderen nicht mehr, woran sie mit mir wären. In Wahrheit jedoch käme meine nunmehr schillernde Person damit der Einheit des Ich näher.

Ich bin männlich und weiblich, alt und jung, schwach und stark, zartgliedrig und muskulös, groß und klein. Dort, wo ich etwas verkörpere, wo ich mir selbst und anderen als Person erscheine, ist eine solche Aussage unsinnig. Gelingt es aber, die jeweils komplementären Eigenschaften bei mir sein zu lassen, löse ich mich von der Identifikation mit der eindeutigen Person, als die ich gelte. Ich mache mich nicht länger mit der Welt der Jäger und Sammler gemein, streife nicht mehr rastlos umher, um erfolgversprechende Prädikate zu erbeuten oder fleißig Pluspunkte in den Augen der anderen zu sammeln. Vielmehr nähere ich mich meiner Mitte, wo es nicht um vielfältiges Haben, sondern um einheitliches Sein geht. Dort ahne ich eine Ganzheit, die sich nicht in Einseitigkeiten verliert, eine Fülle an Möglichkeiten, die mir als Person völlig unmöglich erscheint. Was also bin ich?

Sofern das Ich in seiner Einheit mit sich im Einklang bleibt, kann es von sich selbst wahrheitsgemäß nur sagen: Ich bin, der ich bin. Darf es das? Ist das nicht zu groß, anmaßend, blasphemisch?

Die Erde hat eine Achse. Wir können sie nicht sehen, sie ist ohne Ausdehnung, verborgen. Wenn wir aber in unserer Vorstellung die Drehbewegung des Planeten von außen nach innen verfolgen, werden die Kreise immer kleiner und ihr Kreisen immer langsamer. Schließlich kommt jede Bewegung in einem dimensionslosen Punkt zum Erliegen. Und da der ganze Erdkörper sich dreht, ist dieser Punkt im Zentrum des Kreisens in Wirklichkeit eine eindimensionale Linie. Um sie dreht sich alles, sie selbst aber ist unbewegt. In ihr kommt der Planet, könnte man sagen, zur Ruhe. Welch ein Sinnbild! Wir rotieren um eine Mitte absoluter Ruhe.

Im gleichen Sinne zeigt mir doch auch mein Kreisen und Umhergehen in der Welt, mein Suchen und Sehnen, mein Stochern und Stammeln, dass in mir eine Achse ist, eine Senkrechte jenseits meiner Wahrnehmung, unauffindbar fürs Auge, mit Händen nicht greifbar. Da ist etwas, das in dieser körperlichen Welt selbst keine Kreise zieht, gleichwohl aber mein Kreisen erst ermöglicht, wie ein Nichts, das die Vielheit erlaubt. Das erinnert mich an den chinesischen Mystiker Laotse, der den Sinn des Wagenrades in der Stille und Leere seiner Nabe erkannte. Sie ist das Sein im Kern des Daseins. Und in der Sufi-Mystik wird der höchstentwickelte, erleuchtete Mensch, wie ich staunend zur Kenntnis genommen habe, „Weltachse“ (Qutb) genannt.

Wenn ich im Stress bin, mir alles geschäftige Tun zu viel wird, werde ich mir meines endlosen Kreisens bewusst. „Ich krieg die Krise“, seufze ich, „ich bin am Rotieren.“ Und ich weiß sehr wohl, was hilft: „Ich muss mich zentrieren.“ Ich spüre, dass ich zur Ruhe komme, wenn ich mich in meiner inneren Achse aufrichte.

Gerade jetzt, in einer Zeit, in der weltweit alles drunter und drüber geht, in der jeder an seinen Abgrund geführt wird, ist es entscheidend, im Wirbel der Krise meinen Stand zu halten, ohne in den Strudel des Zeitgeschehens hineingerissen zu werden.

Das bringt mir ein anderes Sinnbild in Erinnerung, das des drehenden Derwisches, der vom ständigen Kreisen nur deshalb nicht schwindlig wird, weil er vollkommen in seiner Achse zentriert ist. Das ist Egozentrik im guten Sinne, ein ich-zentriertes Sein.

Wie oft habe ich mich hinreißen lassen, dieses oder jenes zu tun, zu erklären, kritisieren, begehren, bekämpfen? Und jedes Mal verlor ich mich darin, war nicht mehr bei mir, nicht in meiner Achse, genau besehen, nicht mehr ich selbst. „Du wirkst durch dein Sein, nicht durch dein Tun oder Reden.“ So oder ähnlich höre ich in letzter Zeit häufiger Freunde wie Fremde mutmaßen, beteuern, schlussfolgern. Sie alle sehen sich dem Ungeheuren gegenüber, der scharfen Bruchlinie, die sich wie eine klaffende Wunde durch ihre Familien und Freundschaften zieht. Ich weiß, wie es ihnen geht und ergangen ist. So wie ich, versuchten auch sie, die plötzlich entstandene Kluft mit wissenschaftlichen Fakten, vernünftigen Argumenten und gewissenhafter Aufklärung zu überbrücken. Das Ergebnis, ihrs und meins, war fast immer ernüchternd, frustrierend, wenn nicht gar zum Verzweifeln. Dieses Scheitern, diese Ratlosigkeit angesichts einer ohnmächtigen Vernunft, der wirkungslos verhallenden Worte, warf uns erneut auf uns selbst zurück. Und aus der Frage: Was kann ich jetzt noch tun? wurde: Wie sollte ich sein, um helfen zu können? Und diese klang schließlich und erneut aus in die stille, ernste, vielleicht auch bange Frage: Wer bin ich?

Ist das der Krisengewinn, diese Hinwendung zum Wesentlichen, ein weiteres Abstreifen von Illusionen, eine Erkenntnis, die nicht bloß abstrakt und intellektuell, sondern physisch, emotional und schmerzhaft erfahren worden ist? Zunächst musste ich feststellen, dass ich gar nicht der bin, der ich meinte zu sein, dass ich mir selbst etwas vorgemacht hatte. Dann zeigte sich, wie machtlos mein stolzes Verstandesdenken war, als es darum ging, ein Auseinanderbrechen entlang der Bruchlinie zu verhindern. Heute ist sie also da, diese Erkenntnis, und ist mir in Fleisch und Blut übergegangen: Entscheidend ist nicht das, was ich sage, sondern das, was sich spontan durch mich aussagt. Für die Welt des Verborgenen zählt nicht so sehr, was ich absichtlich tue. Mein Sein macht sich in dem bemerkbar, was sich ungeplant durch mich tut. Das kann eine Geste sein, ein bestimmter Gesichtsausdruck, ein Tonfall. Es zeigt sich am ehesten, wenn ich entspannt bin, nicht beherrscht von aufwühlenden Gefühlen.

Heftige Emotionen können mich mit Orkanstärke herumwirbeln. Wenn ich mich in Angst, Zorn, Ungeduld oder Scham gehen lasse, reißen sie mich aus meiner Mitte und ich verliere mich.

Vielleicht kommen daher die Unkenrufe eines bevorstehenden Polsprungs. Nicht die Erde kippt aus der Achse, sondern ich selbst. Kommt es zu weltweiten Überschwemmungen, Land unter? Oder starre ich bloß auf die Projektion aufwallender Gefühle, die wellenartig über mich hereinbrechen? Mir selbst steht doch manchmal das Wasser bis zum Hals.

Ich kann derlei Emotionen natürlich nicht einfach unterdrücken und so tun, als wären sie nicht da. Sie werden sich immer bemerkbar machen, ob mir das nun bewusst ist oder nicht. Ich kann mich nur immer wieder in geduldiger und möglichst entspannter Selbstforschung damit auseinandersetzen. Sobald ich aber anfange, mein Verhalten zu kontrollieren mit dem Ziel, mich zu verstellen, bin ich auf meinen Vorteil bedacht, berechnend, ein Macher, Magier, Manipulierer, ein Schauspieler, der sich selbst in ein gutes Licht zu rücken bemüht. Dann zeige ich mich nicht wesentlich anders als jene unaufrichtigen Darsteller, die heute Politik und Nachrichten zu bestimmen scheinen.

Zahlreiche Situationen bringen sich in Erinnerung, Begegnungen in Gruppen, die mich überraschten, enttäuschten, verwirrten. Ich ergriff das Wort, sagte irgendetwas Schlaues, Kritisches oder Schlagfertiges und erntete Reaktionen, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Ich meine nicht die ausgesprochenen Erwiderungen, die Zustimmungen oder Widersprüche. Spürbar war vielmehr eine atmosphärische Veränderung, eine gespannte Stille, so als wären die Menschen um mich herum plötzlich alert, vielleicht sogar alarmiert? Und es schien mir, als ob das Gruppenwesen erst überlegen musste, wie darauf zu reagieren sei. Es zögerte. Ich erlebte Kommilitonen, die verunsichert, fast schon eingeschüchtert wirkten oder Dozenten, die sich offenbar bedroht fühlten. Viele müssen sich von mir in Frage gestellt gesehen haben. Das erkenne ich heute, aber es entging mir damals. Ich bemerkte nicht die Arroganz und Anmaßung, die von mir ausgingen, und den dadurch provozierten Widerstand. Doch auch wenn ich zurück- oder zurechtgewiesen wurde, wenn ein eingeworfener Witz die Situation entspannen sollte, selbst wenn ich einlenkte und meine Worte relativierte, gar zurücknahm, blieb ein spürbares Befremden bei den anderen. Ich verstand es nicht, da ich nicht erkannte, dass es in mir etwas gab, was tiefer lag und mächtiger war.

Wie konnte ich das all die Jahre übersehen? Mein Verhalten in der Öffentlichkeit verwirrt mich und andere so lange, wie es nicht im Einklang ist mit dem, was bei mir im Verborgenen werden will. Ich bewege mich in den weiten oder engeren Kreisen meines Umfeldes und bemerke nicht, wie ich aus meiner Achse falle. Es will sich etwas in mir aufrichten, doch ich vernehme es nicht. So fehlt mir der Beweggrund aus der Einheit des Ich-bin. Dann kommt es zu einer Dissonanz zwischen Außen und Innen, dem Erscheinenden und dem Sein. Ich habe mir etwas in den Kopf gesetzt, verfolge das Ziel mechanisch, zuverlässig angetrieben von Angst oder Gier, und verfehle den Sinn, der meinem Sein innewohnt. Das Befremden ist also da, wenn die anderen spüren, dass mir mein Wollen selbst fremd ist.

Ich empfinde es als ein Segen des fortgeschrittenen Alters, dem Verborgenen näher zu kommen, mir selbst verständlicher zu werden. Gerade in dieser Zeit, in der Konformität oft Feigheit und die Lüge allgegenwärtig ist, wird mein Verhalten von anderen als stimmig wahrgenommen. Ich, ausgerechnet ich, der ich eher von ängstlicher Natur bin, werde immer wieder für meinen Mut bewundert. Die neugewonnenen Freunde, die verzweifelten Schülereltern, die versprengten Kollegen nehmen gerade nicht meine Furchtsamkeit wahr, sondern erblicken in mir offenbar etwas jenseits davon. Dieses Etwas ist für sie stimmig, weil sie spüren, dass es mit meiner inneren Gestimmtheit übereinstimmt. Nicht ich selbst, sondern die anderen befinden, ob und inwieweit ich glaubwürdig bin. Was sich nunmehr, der unsicheren Kreatur zum Trotz, durch diese offenbart, erregt keinen Widerstand, provoziert weder Ablehnung noch Aggression. Vielmehr wird es als Größe, Stärke und Klarheit angesehen, etwas, was Mut macht, Orientierung gibt, den Weg weist.

Ich staune selbst darüber und fühle, dass ich in eine Verantwortung hineinwachse, die weitreichender und existenzieller ist, als ich mir früher, damals noch ganz der konditionierte, brave und fleißige Bildungsbürger, jemals vorstellen konnte.

Im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen haben Kinder noch nicht die Technik perfektioniert, sich anders zu geben, als sie sind, ihr Verhalten und ihre Äußerungen zu kontrollieren. Was sie bewegt, kommt zum Ausdruck, unzensiert, unverstellt, so auch an diesem trüben Dienstagnachmittag. Einige Schüler sind aufgebracht, voller Vorwürfe, während sich andere zufrieden und selbstgerecht geben. Die zweite Spielrunde ist zu Ende, wir sitzen im Kreis und beurteilen den Verlauf. Das Affenspiel ist ein taktisch geprägtes Fangspiel, bei dem eine größere Anzahl von Kindern, „die Affen“, schwere Medizinbälle, „die Kokosnüsse“, von einer Ecke der Turnhalle in die gegenüberliegende tragen müssen, ohne dabei von den Fängern, „den Tigern“, erwischt zu werden. Das Interessante daran ist, dass die Regeln immer wieder neu verhandelt werden müssen, um für einen Ausgleich zwischen den Belangen der Affen und jenen der Tiger zu sorgen. Wie viele Tiger soll es geben, was dürfen sie, was nicht, wie viele Freiräume bekommen die Affen? Je nachdem welche Schüler die Fänger sind, müssen diese Fragen neu entschieden werden. So weit, so gut. Was eint nun die Erregten, Erbitterten, was treibt sie dazu, den anderen unfaires Spiel vorzuwerfen? Nun, sie haben soeben verloren. So einfach ist das bei Kindern. Und natürlich sind die anderen, die gerade gesiegt haben, völlig überzeugt, dass sowohl die Regeln als auch ihr Verhalten fair waren. Nur eine Siegerin, eine der erfolgreichen Tigerinnen, räumt ein, dass es diesmal vielleicht doch zu viele Tiger gab. Sie zeigt mir damit, dass der Sieg sie nicht völlig vereinnahmt hat. Ich höre ihr zu und spüre das Vorhandensein einer inneren Größe, einer Gewissenhaftigkeit jenseits von Habenwollen und Profitgier.

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