Eine Frage an die Anthroposophie
Es ist offensichtlich, dass wir in einer Welt leben, in der alles in Bewegung ist, alles sich fortlaufend verändert. Es gibt zyklische Veränderungen in der Natur wie den Wechsel von Tag und Nacht, der Mondphasen oder der Jahreszeiten. Dann aber gibt es auch Veränderungen in unserem Leben, die unwiderruflich zu sein scheinen. Wir sehen, wie Menschen in unserem Dasein auftauchen, uns eine Weile als Freunde begleiten, dann aber wieder ihre eigenen Wege gehen. Wir sehen zudem, wie unser Körper altert, müssen im Laufe der Jahre den einen oder anderen Verlust hinnehmen. Aber auch mehr innerlich gibt es Veränderungen. Unsere Ideale und Überzeugungen wandeln sich; wir glauben mit Fünfzig nicht mehr das, was wir mit Fünfzehn glaubten. Manche unserer Erwartungen werden enttäuscht, manche unserer Gedanken entpuppten sich als irreführend. Freude und Leid wechseln sich ab wie sonnige und trübe Tage. Kurz: Es ist ein ständiges Kommen und Gehen.
Zugleich haben wir in uns die Wahrnehmung einer Identität, das Gefühl einer Individualität, die inmitten all dieser Entwicklungen unverändert bleibt. Wenn ich ein Foto sehe, das mich als Kind zeigt, blicke ich zunächst auf etwas Fremdes und frage mich: Wer ist dieser Mensch? Er sieht so anders aus, als ich jetzt aussehe. Und doch wurde dieses Kind vom gleichen Ich getragen wie ich heute. Manchmal stehe ich vor dem Spiegel und frage mich erstaunt: Das soll ich sein? Ich spüre, dass dieser Leib, das Erscheinende und Veränderliche, nicht ich selbst bin. Er zeigt mir einen Aspekt meiner Selbst, einen bestimmten Schwerpunkt in der Zeit oder eine besondere Fokussierung, aber gewiss nicht das Ganze. Da ist also etwas in uns, das Dauer hat. Wir können es nicht greifen, nicht sichtbar machen, nicht analysieren, aber wir spüren es. Dieses Ich, das uns trägt, war in unserer Kindheit da und wird auch im Alter da sein. Man fühlt sich an biblische Worte erinnert: „Ich bin, der ich bin.“ Und das hebräische Original ließe sich auch so übersetzen: „Ich war, ich bin, ich werde sein.“ Wesentlich, könnte man sagen, sind wir jenseits der Zeit, aber wir ragen mit unserem Leib in die Zeitlichkeit hinein.
Im Herbst 1918 hielt Rudolf Steiner in Dornach eine Vortragsreihe mit dem Titel „Die Polarität von Dauer und Entwicklung im Menschenleben“. Im zehnten Vortrag macht er eine bemerkenswerte Aussage: „Mit Bezug auf alles dasjenige, in dem wir uns nicht entwickeln, gehören wir nicht unserer Leiblichkeit, sondern dem Geistig-Seelischen an und hängen zusammen mit dem Reich der Dauer, mit jenem Reich, in dem die Zeit keine Rolle spielt. So wie zugrunde liegt allem Räumlichen ein Raumloses, so liegt zugrunde allem Zeitlichen ein Dauerndes.“[1]
Mit diesen Worten verweist Rudolf Steiner auf eine Realität, die weder in der geschichtlichen Zeit ihren Verlauf hat noch im dreidimensionalen Raum unseres physischen Daseins verortet werden kann. Zeit und Raum, wie wir sie aus der täglichen Erfahrung kennen, sind, so Steiner, mit unserer Leiblichkeit verbunden. Im Geistig-Seelischen gibt es beide so nicht. Interessanterweise spricht Rudolf Steiner hier zwar von Raumlosigkeit aber nicht von Zeitlosigkeit. Stattdessen nennt er das, was dem Zeitlichen unseres irdischen Daseins zugrunde liegt, ein Dauerndes.
In der jüdisch-christlichen Überlieferung spricht man diesbezüglich von Ewigkeit – nicht zu verwechseln übrigens mit Unendlichkeit, was etwas vollständig anderes ist. Wir haben hier also eine wichtige Unterscheidung. Die seelisch-geistige Dimension unseres Seins kennt eine Entwicklung im zeitlichen Verlauf nicht, kennt, anders gesagt, keine Entwicklung, wie wir sie im Laufe unserer Lebenszeit überall beobachten.
Der Gedanke, dass wir uns im Leben entwickeln, ist eine vertraute und liebgewonnene Vorstellung. Wir lernen aus unseren Erfahrungen, wir sammeln Wissen, erst in der Schule, später im Beruf, machen Karriere, haben mehr oder weniger Erfolg. Vielleicht üben wir jahrelang an einem Musikinstrument und erlangen dank unserer Disziplin Geschick oder gar Virtuosität. Offensichtlich kann man sagen, dass wir uns, indem wir uns diese Fertigkeit aneigneten, entwickelt haben. Auf ähnliche Weise praktizieren wir Meditation, wollen in spiritueller Hinsicht Fortschritte machen, uns weiterentwickeln, bessere Menschen werden. Und jetzt kommt Rudolf Steiner und sagt: Im Seelisch-Geistigen gibt es keine Entwicklung. Wie ist das zu verstehen?
Wenn wir auf den Verlauf des Zeitflusses schauen, schauen wir zurück auf das, was wir unsere Geschichte oder Lebensgeschichte nennen. Wir schauen, könnte man sagen, dem Leben hinterher. Denn den jetzigen Moment kann ich genauso wenig festhalten, wie ich das Wasser eines strömenden Flusses festhalten kann. Er fließt dahin und wird sogleich Vergangenheit. Insofern kann man auch von einer geschichtlichen Zeit sprechen. Und noch einmal: Diese geschichtliche Zeit gibt es nur in der erscheinenden Welt unseres leiblichen Daseins. In dem, was wir geistige Welt nennen, gibt es sie nicht. Das bedeutet, dass wir unser übliches Geschichts- und Zeitverständnis nicht einfach auf das Seelisch-Geistige übertragen dürfen. Es ist dies eine wichtige Schlussfolgerung, die nach meiner Beobachtung insgesamt zu wenig berücksichtigt wird.
Raum und Zeit bezeichnet man allgemein als Kategorien unseres Verstandes. Man meint damit, dass wir uns kaum etwas vorstellen oder denken können, was weder räumlich noch zeitlich ist. Wenn wir uns ein Haus vorstellen, hat es eine räumliche Ausdehnung. Die Tür ist unten, das Dach oben, die Garage daneben. Dort, wo ein Fenster ist, ist nicht zugleich der Schornstein. Wenn wir dieses Bild in der Vorstellung aufbauen oder betrachten, gehen wir in Gedanken von einem zum nächsten Detail. Mit anderen Worten: Das, was räumlich nebeneinander erscheint, betrachten oder begehen wir zeitlich nacheinander. In unserem leiblichen Dasein ist es uns augenscheinlich nicht anders möglich.
Ich möchte in diesem Beitrag vor allem auf das zeitliche Nacheinander eingehen. Dazu ein Beispiel. Wenn ein Verkehrsunfall passiert, will die Versicherung wissen: Wer war der Verursacher? Wer ist schuld? Die Polizei kommt und versucht den Unfallhergang zu rekonstruieren: Erst geschah das eine, dadurch wurde das andere ausgelöst, der Fahrer x reagierte soundso und in der Folge kam es zum Unfall. Das ist Kausaldenken in Reinform. Aber wir wissen, dass es nicht immer leicht ist, zu klären, wer den Unfall verursacht hat. Noch viel schwieriger ist es, wenn es zu einem Krieg kommt. Auch dann geht sofort die Suche nach dem Verursacher, dem Schuldigen, los. Wir können jetzt alle beobachten, wie unterschiedlich die Entstehungsgeschichte eines Krieges erzählt werden kann. Aber immer geht es um Ursachen und Wirkungen.
Wenn wir versuchen, die Welt kausal zu verstehen, gehen wir von einer geschichtlichen Zeitvorstellung aus. Anklänge davon finden wir bei Aristoteles, der, wie Rudolf Steiner hervorhebt, im Gegensatz zu seinem Lehrer Plato nicht mehr in die Mysterien eingeweiht war. In seiner Metaphysik spricht Aristoteles vom „ersten unbewegten Beweger“. Um zu so einem Konzept zu kommen, muss man zeitlich denken. Man sieht sich in der Welt um und stellt fest, dass alles Erscheinende durch etwas anderes bewegt oder verursacht wurde. Dann geht man zurück in die Zeit und fragt danach, was diese Ursachen verursacht hat, und dann was diese Verursacher verursacht hat, und so weiter, bis man schließlich, quasi am Anfang der Zeit auf den ersten unbewegten Beweger stößt, die Ursache, die selbst keine Ursache mehr hat.
Stellen wir uns das vor! Wir gehen die lange Reise durch die Zeit zurück zur ersten Ursache. Im Sinne der Zeitlichkeit handelt es sich um viele Milliarden Jahre, die wir zurückgehen müssen. Dann kommen wir zur „ersten Ursache“. Die meisten Astrophysiker bezeichnen diesen Anfang heute als Urknall. Mir kommt dann aber sogleich die Frage: „Ja, und was war davor? Was war vor dieser Stunde null?“ Vielleicht gab es irgendwann vor dieser Riesenexplosion eine gewaltige Implosion und davor wieder eine Explosion… Man spürt, das hört nicht auf. Ich komme nicht zu einem Ende. Deshalb spricht man hier auch von Unendlichkeit. Unendlichkeit ist, und das ist wichtig, zu verstehen, ein Konzept aus der Zeitlichkeit. Es handelt sich um ein aus der physischen Welt heraus konstruiertes Konzept. Ewigkeit dagegen bezeichnet eine ganz andere Dimension der Realität.
Uns ist dieses Denken in Ursachen und Wirkungen so sehr zur Gewohnheit geworden, dass wir es auch anwenden, wenn wir uns jener ganz anderen Dimension, also der Welt des Geistig-Seelischen nähern. Rudolf Steiner hat davor gewarnt. In seinem letzten Lebensjahr spricht er von den Gesetzmäßigkeiten, die in karmische Zusammenhänge hineinwirken, und betont, dass diese geistiger Art seien. Und dann sagt er, dass man jene Gesetzmäßigkeiten „schon verkennt, wenn man nur im geringsten Grade daran denkt, dass es sich um eine Verursachung handelt, die in irgendeiner Beziehung ähnlich sei derjenigen, die wir sonst in der Welt finden, wenn wir von Ursache und Wirkung sprechen.“[2]
In der Regel passiert aber doch genau das. Karma wird allgemein als das Gesetz von Ursache und Wirkung auf geistiger Ebene verstanden. Was ich in meinem jetzigen Leben erfahre, hat ihre Ursachen in meinem vorigen Leben. Und was ich heute tue, wird sich auf mein künftiges Leben auswirken. Die einzelnen Inkarnationen werden als eine Reihenfolge in der linearen oder geschichtlichen Zeit betrachtet. Erst habe ich mich schuldig gemacht und später muss ich es irgendwie sühnen oder richten. Das ist die klassische Vorstellung: Was du säst, wirst du ernten.
Nun liegt aber zwischen Säen und Ernten ein Wachstum und das gehört ganz offensichtlich zur natürlichen Entwicklung, ist also etwas Zeitliches. Das Zeitliche ist das Vergängliche. Dieses Wort erinnert an den berühmten Vers Goethes „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. Goethe zeigt uns hier vielleicht einen Ausweg aus unserem Dilemma. Das, was wir da als zeitliches Phänomen sehen, ist, so sagt er, ein Gleichnis. Mehr noch: Es ist nur ein Gleichnis. Das heißt, das Phänomen, das Erscheinende, verweist auf eine Bedeutung, die sich darin verbirgt. Diese Bedeutung kann man auch als Sinn bezeichnen. Will man also das Gleichnis des Vergänglichen oder des Geschichtlichen verstehen, so muss man es sinnbildlich betrachten, sinnbildlich heißt nicht historisch.
Nun kennen wir Gleichnisse auch aus den Evangelien. Immer wieder, so heißt es, spricht Jesus in Gleichnissen. Dabei ist uns klar, dass wir diese Erzählungen nicht wörtlich verstehen dürfen. Aber nun wird ja gesagt, die ganze Bibel sei Gottes Wort. Wir können das so verstehen, dass es sich dabei um eine Botschaft aus der geistigen Welt handelt. Dass vieles darin unverständlich ist, widerspricht dem nicht, denn auch Träume erscheinen uns mitunter unverständlich. Sehen wir aber die biblischen Geschichten als Offenbarungen aus der geistigen Welt an, dürfen wir sie nicht als historische Berichte auffassen. Und tatsächlich sind sie nicht so gemeint.
Nehmen wir als bekanntes Beispiel die Geschichte von Josef in Ägypten. Der wurde, so die Erzählung, ein großer Mann dort, die rechte Hand des Pharaos. Er rettete das gesamte Volk durch eine außergewöhnlich lange Reihe von Missernten hindurch, indem er rechtzeitig riesige Lagerhäuser erbauen ließ. Aber in der ägyptischen Geschichtsschreibung gibt es nichts dazu, kein Wort. Dabei hielten die antiken Chronisten alles Mögliche fest, auch weniger wichtige Ereignisse. Dasselbe gilt übrigens auch für Moses, für die verheerenden zehn Plagen, für den Auszug von 600 000 Hebräern aus Ägypten. Die ägyptische Geschichtsschreibung weiß davon nichts, überhaupt nichts. Das allein zeigt uns doch bereits, dass die biblischen Erzählungen nicht als historische Berichte angesehen werden sollten.
Wollte man diese Erzählungen rundum Ägypten sinnbildlich verstehen, müsste man nach Bedeutungen fragen. Mitzrajim, der hebräische Name für Ägypten, bedeutet „Sein in der Form“. Ägypten steht mit anderen Worten für unser materielles Dasein. Es überrascht dann auch nicht, dass der Name Mitzrajim auf -ajim endet. Es handelt sich um eine sogenannte Plural-Endung, die immer auf eine Zweiheit hinweist. So heißen zwei Hände Jadajim, zwei Augen enajim und das Leben in seiner Zweiheit als Leben im Diesseits und Jenseits heißt chajim.
Ägypten ist also die physische Welt der Zweiheit, die Welt der Dualität. Und plötzlich ist es nicht mehr ein bestimmter geografischer Ort in längst vergessener Zeit, sondern etwas, was immer da ist, auch hier und jetzt, auch in uns. Wir existieren in diesem Ägypten. Wir verstehen dann auch, warum alle großen geistigen Führer dorthin gehen. Abraham geht nach Ägypten, Josef geht hin, Jakob geht hin und auch Jesus zieht nach Ägypten.
Dasjenige in uns, was aus dem Jenseits kommt, muss in die Welt der Zweiheit hinunter. Das ist der Hebräer oder Iwri in jedem von uns. Das Wort Iwri heißt „von Jenseits kommend“. Man merkt, dass uns die Bibelgeschichten, sinnbildlich verstanden, plötzlich persönlich angehen. So sollte es, wie ich meine, auch sein. Wenn wir sie dagegen als historische Berichte über fremde und manchmal auch grausame Menschen in längen Gewändern und Sandalen mit merkwürdigen Gewohnheiten und Ritualen betrachten, schieben wir sie weit von uns: „Das alles ist lange her! Was hat das mit mir zu tun?“ Aber diese Gestalten kommen aus dem „Reich der Dauer“.
In vielen Vortragsreihen spricht Rudolf Steiner über die Entwicklung des Menschen und geht dabei weit in die geschichtliche Zeit zurück. Er redet von früheren Inkarnationen unseres Planeten, vom Alten Mond, von der Alten Sonne, vom Alten Saturn. Er schildert die Kulturen von Lemurien und Atlantis und die sogenannten nachatlantischen Kulturepochen. In seinem Vortragswerk finden sich viele Stellen, in denen er beschreibt, was damals war und was künftig sein wird. Im Grunde wird uns da ein kosmischer Plan skizziert, der sich im Laufe vieler Jahrtausende auf der Erde entfaltet. Ich möchte hier nicht inhaltlich darauf eingehen. Mir geht es um Folgendes: Obwohl Rudolf Steiner hervorhebt, dass es im Seelisch-Geistigen keine Entwicklung gibt, hat er doch immer wieder davon gesprochen, dass der Mensch sich im Lauf der geschichtlichen Zeit seelisch-geistig entwickle. Ich kritisiere das nicht. Ich sehe darin vielmehr die paradoxe Natur unserer Existenz: Wir entwickeln uns in der Zeit, aber wir sind im Reich der Dauer, in der Ewigkeit. In der geschichtlichen Zeit sind wir sozusagen unfertig. Wir werden erst allmählich das, wozu wir von Anfang an vorbestimmt sind. Im Reich der Dauer aber sind wir in jedem Moment vollkommen.
Ich gehe davon aus, dass Rudolf Steiner dasjenige, was mir hier als paradox erscheint, ganz anders wahrgenommen hat. In einem Vortrag, den er am 8. September 1918 in Dornach hielt[3], meint er, es sei nötig, dass die Menschheit sich durcharbeitet „von der Scheingeschichte in der zeitlichen Aufeinanderfolge bis zu dem realen Geschehen, das hinter der äußeren sinnlichen Wirklichkeit so greifbar … gerade bei der Geschichte ist.“ Doch was genau ist dieses „reale Geschehen“ und wie verhält es sich zum „Reich der Dauer“, in dem „die Zeit keine Rolle spielt“? Offensichtlich geht es bei diesem Geschehen um etwas, was sich im Verlauf der Zeit nach und nach offenbart. Aber „die Zeit ist eine Täuschung“ [4], wie Rudolf Steiner wörtlich sagt.
Ich möchte hier möglichst nahe an der konkreten Erfahrung bleiben. Das heißt, mich interessiert vor allem die Frage, mit welcher Einstellung und mit welchem Verständnis wir auf unsere eigene Lebensgeschichte bzw. auf die Menschheitsgeschichte schauen. Die großen geschichtlichen Erzählungen Rudolf Steiners können auf uns erhebend wirken, weil sie uns ein Gefühl für die gewaltige kosmische Bedeutung des Menschen vermitteln. Wir spüren, wie die göttliche Absicht in und durch uns wirkt. Das kann unser Verantwortungsgefühl stärken und uns zugleich demütig stimmen. Aber indem immer wieder auf die geschichtliche Zeit vor und nach uns geblickt wird, kann sich das in unserer Seele auch anders auswirken. Es ist ein bisschen so, als säßen wir in einem Zug und schauen in den sogenannten „Zugbegleiter“. Wir lesen, welche Stationen bereits hinter uns liegen und welche noch kommen werden. Dann schauen wir auf die Uhr und … lehnen uns zurück. Es kann sich also das Gefühl einschleichen: Ich brauche nichts zu machen; das kommt so oder so. Das kann sich auch ins Fatalistische wenden: „Ich kann ja eh nichts daran ändern.“ Ich denke hier zum Beispiel an Rudolf Steiners Ankündigung, dass die teuflische Wesenheit Ahriman am Anfang unseres 3. Jahrtausends inkarnieren wird: „Dieser Zeit gehen wir entgegen. Objektiv wird Ahriman auf der Erde wandeln.“[5]
Nun hat Rudolf Steiner auch wiederholt die Frage aufgeworfen: Wie finde ich den Christus? Und ich würde erwarten, dass man Ihn auf keinen Fall in der geschichtlichen Zeit findet, dass der Christus irgendwie jenseits dieser Zeit ist, im Reich der Ewigkeit. Dann aber überrascht es mich, bei Rudolf Steiner zu lesen: „Christliche Denkungsart ist historisch; sie erkennt an, dass es nicht nur wiederholte Erdenleben gibt, sondern dass es darin Geschichte gibt, das heißt, dasjenige, was zunächst auf einer unvollkommeneren Stufe erlebt wird, das kann sich im Laufe der Inkarnationen zu immer vollkommeneren Stufen und höheren Graden hinaufentwickeln.“[6]
Und so sehen wir, dass Rudolf Steiner immer, wenn er von der Bedeutung des Christus Jesus spricht, mehr oder weniger weit in die geschichtliche Zeit zurückschaut. Das Ereignis von Golgatha, das heißt, Christi Kreuzigungstod, fällt in die sogenannte vierte nachatlantische Kulturepoche, deren Anfang und Ende Steiner mit den Jahrzahlen 747 vor und 1413 nach Christus ganz klar in der geschichtlichen Zeit verortet.
Und so sehen wir, dass Rudolf Steiner immer, wenn er von der Bedeutung des Christus Jesus spricht, mehr oder weniger weit in die geschichtliche Zeit zurückschaut. Das Ereignis von Golgatha, das heißt, Christi Kreuzigungstod, fällt in der sogenannten vierten nachatlantischen Kulturepoche, deren Anfang und Ende Steiner mit den Jahrzahlen 747 vor und 1413 nach Christus ganz klar in der geschichtlichen Zeit verortet. Dieses Mysterium von Golgatha setzt er ferner mit den Jahren 333 und 666 nach Christus in Verbindung. Eine Fixierung in der historischen Zeit gibt es auch für die ätherische Wiederkunft Christi, die Steiner für das Jahr 1933 voraussah.
Nun kann ich davon ausgehend allerhand Geschichtsbetrachtungen anstellen und mir anschauen, was zu jenen Zeiten auf der politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Ebene geschah. Vielleicht reizt es mich auch, mit Zahlen zu spielen und raffinierte Berechnungen anzustellen, Prognosen zu machen. Aber wie immer, wenn ich etwas in der geschichtlichen Zeit verorte, distanziere ich mich zugleich davon. Ich spüre, das ist schon so lange her, dass es für mich weit weg ist. Seitdem ist doch so vieles passiert; die Zeiten haben sich geändert. Die Frage, die unsere Seele berührt, ist aber doch die: Wo ist der Christus bei mir – hier und jetzt?
In seinem Brief an die Thessalonicher schreibt der Apostel Paulus Folgendes: „Von den Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.“[7]
Das ist eine interessante Stelle. Paulus meint, es sei nicht nötig „von den Zeiten und Stunden … zu schreiben“, da der Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht komme. Ich verstehe das als Hinweis darauf, dass dieser „Tag des Herrn“ nicht ein Ereignis in der geschichtlichen Zeit ist. Deshalb sei es nicht nötig, von den Zeiten und Stunden zu reden. Vielmehr ist der Tag des Herrn etwas, was plötzlich oder, wie wir auch sagen: über Nacht, in mein Leben einbricht. Man könnte es als Einbruch des Geistes bezeichnen. Einen solchen Einbruch sehen wir sinnbildlich im sogenannten Damaskus-Erlebnis des Paulus dargestellt.
Ich möchte abschließend einen Begriff ins Spiel bringen, der uns vielleicht in den Bereich des vorhin erwähnten realen Geschehens bringen kann. Gemeint ist der Begriff der Erinnerung. Benutzen und verstehen wir dieses Wort im Sinne der Zeitlichkeit, setzen wir es mit dem Gedächtnis gleich. So wird es ja in der Regel getan. Die meisten Leute unterscheiden nicht zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Es bezieht sich auf etwas, was in der geschichtlichen oder biografischen Zeit zurückliegt. Aber wenn wir die Erinnerung im Sinne der Ewigkeit verstehen, meint sie etwas ganz anderes. Dann geht es um das Innewerden dessen, was im Reich der Dauer da ist, um das Innewerden des Geistes. Damit wandelt sich die Frage, die Ausgangspunkt meiner Überlegungen war. Statt „Geschichtliches oder Ewiges?“ sollte es vielleicht eher heißen „Geschichtliches und Vorgeschichtliches“, wobei die Vorgeschichte das wäre, was als Dauerndes mit den sich in der Zeit entwickelnden Ereignissen mitschwingt. So gesehen, offenbart der Untertitel der eingangs erwähnten Vortragsreihe über „Die Polarität von Dauer und Entwicklung im Menschenleben“ seinen tieferen Sinn. Dieser lautet nämlich „Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit“.
[1] Rudolf Steiner, 4. Oktober 1918. 10. Vortrag in der Reihe: Die Polarität von Dauer und Entwicklung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit, GA 184, Dornach, 1968, Seite 210
[2] Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Zweiter Band, GA 236, Dornach, 19886, Seite 220
[3] Rudolf Steiner, 4. Oktober 1918. 3. Vortrag in der Reihe: Die Polarität von Dauer und Entwicklung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit, GA 184, Dornach, 1968, Seite 78
[4] Rudolf Steiner, 4. Oktober 1918. 3. Vortrag in der Reihe: Die Polarität von Dauer und Entwicklung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit, GA 184, Dornach, 1968, Seite 78
[5] Rudolf Steiner, Weltsilvester und Neujahrsgedanken. Fünf Vorträge, Stuttgart 21. bis 31. Dezember 1919, 1. Januar 1920, GA 195, Dornach, 19863, 2. Vortrag vom 25. Dezember 1919, Seite 39
[6] Rudolf Steiner, Buddha und Christus in: Pfade der Seelenerlebnisse, GA 58, Dresden, 1939, Vortrag vom 2. Dezember 1909, Seite 124 und 126
[7] 1. Thessalonicher 5, 1-2
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