Ausweg aus dem Gewohnheitsmäßigen
Jeder Mensch ist mehr oder weniger einseitig. Manche Einseitigkeiten, zum Beispiel solche, die mit unserem Körpertyp oder mit Erbeigenschaften zu tun haben, sind unumgänglich, quasi naturgegeben. Es gibt Menschen, die schon aufgrund ihres Körperbaus eindeutig motorisch veranlagt sind, andere zeigen sich besonders empathisch, während wieder andere gedanklich schnell kombinieren und reagieren können. Selten, dass jemand sowohl ein guter Athlet als auch ein gefühlvoller Dichter und blitzgescheiter Systemanalytiker ist.
Neben diesen naturbedingten Einseitigkeiten gibt es aber auch solche, die keineswegs unvermeidlich sind. Vielmehr wäre es wünschenswert, sie aufzulösen, denn sie stellen ein hinderliches Ungleichgewicht in unserem Leben dar. Hinderlich sind sie vor allem dort, wo wir danach trachten, uns selbst und andere zu verstehen. Bedingt durch unsere Erziehung, durch allerhand Umwelteinflüsse, bedingt auch durch unsere eigenen Neigungen und Vorlieben, bilden sich im Laufe unseres Lebens Reaktionsmuster, die unseren Spielraum sowohl im Handeln, Fühlen als auch Denken mehr oder weniger stark eingrenzen. Bestimmte Bewegungsabläufe etwa sind uns zur Gewohnheit und damit mechanisch geworden. Wenn diese irgendwann zu Schäden am Skelett führen und wir gezwungen sind, sie zu ändern, merken wir, wie stark solche Muster, und wie schwer sie aufzulösen sind. Hier könnte beispielsweise Ausdruckstanz dabei helfen, spielerisch das Spektrum möglicher Bewegungen zu erweitern. Da unsere motorischen Abläufe weitgehend unbewusst geschehen, ist es äußerst schwer und manchmal auch gar nicht wünschenswert, unsere Bewegungen bewusst wahrzunehmen.
Deutlich zugänglicher sind uns unsere emotionalen Reaktionsmuster. Etwas Übung und Disziplin vorausgesetzt, ist es uns durchaus möglich, Ärger, Enttäuschung, Trauer, Neid, Kränkung oder Furcht in dem Moment zu bemerken, da sie in uns auftauchen. Ist die Wahrnehmung hinlänglich objektiv, schafft sie eine gewisse Distanz zur gewohnten Äußerung und eröffnet uns somit die Möglichkeit, anders zu reagieren. Sind wir stark mit der Emotion identifiziert und uns ihrer gar nicht richtig bewusst, hilft häufig die Reaktion unserer Umgebung weiter. Indem sie uns unsere Äußerung spiegelt, fördert sie unsere Erkenntnisbemühung. Auch auf diesem indirekten Weg können wir unsere emotionalen Reaktionsmuster allmählich kennenlernen und im Lauf der Zeit erweitern. Dazu müssen wir allerdings bereit sein, die Reaktion anderer zum Ausgangspunkt einer ehrlichen Selbsterforschung zu machen.
Dass wir auch intellektuelle Reaktionsmuster haben, mag zunächst etwas überraschen. Wir denken doch so viel; alles Mögliche geht uns durch den Kopf. Ein Muster scheint gar nicht vorhanden. Doch wenn wir genauer hinschauen, erkennen wir Erklärungsansätze, Argumentationen oder auch bestimmte Formulierungen, die wir vor anderen bevorzugen. Einige Vorstellungen scheinen unserem bewussten Denken zugrunde zu liegen, während uns viele gar nicht in den Sinn kommen. Auf der Verstandesebene, die sich auch der Sprache bedient, haben wir den regesten Austausch mit anderen Menschen. Dabei werden wir zwangsläufig mit deren Reaktionsmuster konfrontiert. Das kann uns helfen, Täuschungen oder Vorurteile zu erkennen und das Spektrum unserer Gedanken zu erweitern. Dazu ist aber eines unerlässlich, nämlich unparteiische Selbstkritik.
Selbstkritik bedeutet nicht, sich selbst Vorwürfe zu machen. Im Gegenteil! Schuldgefühle und mangelnde Selbstachtung sind einer Selbstkritik abträglich. Es geht nicht darum, sich selbst zu beschuldigen, sondern nüchtern und unvoreingenommen die eigenen Denkgewohnheiten zu beurteilen. Grundlegend ist die Erkenntnis, dass jeder Gedanke, ganz gleich wie tiefsinnig, nur eine Sichtweise repräsentieren kann und dass es naturgemäß mehrere Ansichten desselben Objektes gibt. Wer auf diese Weise Selbstkritik übt, horcht mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Reaktionen, welche seine Äußerung hervorruft. Und wenn eine Reaktion heftig ausfällt und aggressiv vorgetragen wird, so dass er zunächst nicht imstande ist, sie nüchtern zu prüfen, wird er die Prüfung doch zu späterer Stunde nachholen.
Selbstkritik ist an sich nicht schwer. Aber die Ergebnisse können unangenehm sein, etwa dann, wenn sie unser geschöntes Selbstbild zerstören. Zu erkennen, dass wir uns genau so verhalten wie jene Menschen, deren Tun uns immer wieder ärgert, bedeutet ein schwerer Schlag für das Ego. Er ist leichter zu verkraften, wenn wir unser Ego nicht ganz so ernst nehmen. Wer nicht bereit oder gar nicht in der Lage ist, Selbstkritik zu üben, wird immer wieder mit Fremdkritik konfrontiert werden. Ich sagte schon, dass eine Auflösung starrer Reaktionsmuster auch über diesen indirekten Weg möglich ist. Allerdings ist es wichtig, diese Fremdkritik auch wirklich zuzulassen und sich nicht dagegen zu immunisieren.
Sobald wir uns innerlich mit einer bestimmten Denkschule, einem System oder einer Weltanschauung verbinden, ist die Gefahr einer Immunisierung gegen Kritik vorhanden. Ein Paradebeispiel ist die Psychoanalyse, die den technischen Begriff des Widerstands geprägt hat. Vereinfacht gesagt, geht es dabei um die Weigerung der bewussten Persönlichkeit, ihre unbewussten Persönlichkeitsanteile zur Kenntnis zu nehmen. Sie wehrt sich gegen die für die therapeutische Behandlung erforderliche Erinnerung. Typischerweise äußert sich diese Weigerung in einer ablehnenden Haltung dem Therapeuten gegenüber. Dank dieses Konzepts hat der Therapeut prinzipiell die Möglichkeit, jede Kritik des Patienten an seiner Behandlungsmethode – auch eine solche, die objektiv gesehen berechtigt ist – als „Widerstand“ zu deuten. In diesem Fall würde er sich gegen Kritik immunisieren. Er kapselt sich in seinem System ein, indem er jede Kritik von vornherein zur Bestätigung seiner theoretischen Annahmen erklärt. Dann scheint ihm die Kritik recht zu geben, so dass er keinerlei Veranlassung sieht, seine Denk- und Behandlungsweise selbstkritisch zu prüfen. Die Kritik des Patienten wird ebenso pathologisiert wie der Patient selbst.
Auch in der Anthroposophie kann eine Tendenz zur Immunisierung gegen Kritik beobachtet werden. Hier spricht man nicht von „Widerstand“, sondern von Widersachern. Rudolf Steiner selbst hat in seinen Vorträgen des Öfteren durchklingen lassen, dass eine ablehnende Haltung der Anthroposophie gegenüber auf den Einfluss dieser Widersacher zurückgehe. Damit meinte er vor allem die beiden teuflischen Mächte, die er mit den Namen Luzifer und Ahriman bezeichnete. Die buchstäbliche Verteuflung der Kritik beziehungsweise der Kritiker leistet in der anthroposophischen Bewegung natürlich einer Wagenburg-Mentalität Vorschub. Am Ende sieht man jede Kritik als Bestätigung der Tatsache, dass man selbst auf der Seite des Lichts steht.
Als ich vor vielen Jahren in München das Waldorflehrer-Seminar besuchte, habe ich selbst diese Art von Dämonisierung des Andersdenkenden erlebt. Eines Tages erzählte ich einem der Dozenten, ich würde nicht an einer Waldorf-, sondern einer Montessori-Schule arbeiten. Ich konnte sehen, wie ich damit in seiner Wahrnehmung dem „Feindeslager“ angehöre und mich nicht in den Dienst der lichten Mächte gestellt hätte. Ich weiß nicht mehr den genauen Wortlaut seiner Reaktion, aber er ging deutlich auf Distanz, so als würde es nichts bringen, sich weiter mit mir auseinanderzusetzen.
Selbstkritik setzt die Bereitschaft voraus, all unsere theoretischen Annahmen zu hinterfragen. Um unserer eigenen gedanklichen Einseitigkeit entgegenzuwirken, empfiehlt es sich, mehrere Theorien, Weltanschauungen oder Systeme kennenzulernen, gerade auch solche, die die Welt ganz anders, als wir es gewohnt sind, darstellen. Dabei sollte es nicht unser Bestreben sein, die vielen unterschiedlichen Ansätze zu einem einzigen zusammenzuführen, alles sozusagen unter einen Hut zu bringen. Es geht vielmehr darum, Widersprüche auszuhalten und aus ihnen zu lernen, dass die Realität so groß und gewaltig ist, dass keine Theorie, keine Lehre oder Wissenschaft sie vollumfänglich darstellen kann. So wie sich das unsichtbare Licht auf Erden bricht und das Spektrum der Regenbogenfarben offenbart, bricht auch die göttliche Wahrheit auf Erden und stellt sich als Weltanschauungen mit unterschiedlichen Wellenlängen dar.
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