Die unentbehrliche Leichtigkeits des Seins
Schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts ist die freie Entwicklung des Kindes ein Ideal, das immer wieder Eltern und Pädagogen beflügelt hat. In der heutigen Zeit mit ihren zentralistischen Bestrebungen in Politik und Wirtschaft, mit Macht- und Meinungsmonopolen und einer zunehmenden Delegitimierung der Eltern als erzieherische Instanz, ertönt der Ruf nach der freien Kindesentwicklung vielleicht lauter denn je zuvor. Dieser Ruf ist häufig mehr oder weniger politisch begründet. Weniger Beachtung findet die Freiheit in Hinblick auf die spirituelle Entfaltung. Es scheint, als gingen viele davon aus, ein Kind sei von Natur aus spirituell und würde es auch bleiben, wenn man es bloß in Ruhe gedeihen ließe. Das ist aber zu kurz gedacht. Eltern oder professionelle Pädagogen haben hier eine Verantwortung, die weit über das „Freiheit geben“ und „in Ruhe lassen“ hinausgeht.
Wir leben in einer Zeit, in der das Tun und Machen, also auch das Nichttun und Nichtmachen, stark betont werden und als entscheidend gelten. Dementsprechend fällt es uns mitunter schwer, zu akzeptieren, dass sich manche Dinge ohne unser Zutun verändern und sich damit unserer Kontrolle entziehen. Das natürliche Wachstum gehört in diesen Bereich. Wir können den Boden bereiten, wir können säen, wässern und düngen, aber der Entwicklungsprozess einer Pflanze im Laufe der Zeit entzieht sich unserem Zugriff. Der Anfang liegt im Unsichtbaren, wie immer. Dann erscheint der Keimling mit seinen Keimblättern, wir sehen einen zunächst zarten Stängel, später weitere Blätter, erste Blüten, noch später Früchte. Diesen Werdegang können wir weder beschleunigen noch aufhalten. Und wenn der Stängel im Lauf der Jahre anfängt zu verholzen, lässt sich auch diesen Prozess nicht aufhalten. Ähnlich autonom ist die Entwicklung des Kindes.
Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, dass der Mensch im Laufe seiner ersten zwanzig Jahre verschiedene Geburten durchlebt. Mit dem, was gemeinhin als Geburt verstanden wird, kommt der physische Körper zur Welt. Voll inkarniert ist der Mensch damit noch nicht. Erst sechs-sieben Jahre später wird der sogenannte Lebens- oder Ätherleib geboren, der mit unserer Zeitwahrnehmung zusammenhängt. Maria Montessori empfand ähnlich und bezeichnete das junge Kind als geistiges Embryo. Noch später, etwa um das 14. Lebensjahr, ist die Geburt unseres Astralleibs, des Trägers unserer Begierden und Empfindungen, abgeschlossen. Dann erst fängt die Gestaltung des „Ichträgers“ an, die um das zwanzigste Lebensjahr abgeschlossen ist. Zwar verläuft die Entwicklung von Mensch zu Mensch verschieden, aber es können nicht etwa Stufen vorgezogen oder gänzlich umgangen werden. Der Zahnwechsel beim jungen Kind lässt sich genauso wenig aufhalten wie die Hormonschübe beim Pubertierenden.
Trotzdem dominiert auch in der Erziehung der Gedanke des Machens. Und es wird in der Tat viel gemacht, auch viel falsch gemacht. Die meisten Fehler kommen dadurch zustande, dass das Kind in seiner natürlichen Entwicklung behindert oder mit Zwang in eine bestimmte Richtung gedrängt wird. In den staatlichen „Bildungseinrichtungen“ (ich kann das Wort hier nur noch mit Anführungsstrichen benutzen) wird viel dafür getan, den Heranwachsenden zu einem Menschen zu machen, der entlang bestimmter Schablonen denkt, die Autorität von Staat und öffentlicher Meinung nicht hinterfragt, das schreiende Unrecht unseres Wirtschaftssystems akzeptiert und sich mit allerhand Konsumangeboten zu einem dumpfen Sklavendasein verführen lässt. Ich kann Eltern gut verstehen, die das nicht mit ihrem Kind machen lassen wollen. Sie möchten die natürliche Unschuld und Spontaneität ihres Kindes erhalten, seine Kreativität, Offenheit und Begeisterungsfähigkeit.
Doch im Verlauf seiner verschiedenen „Geburten“ ändert sich der Heranwachsende auch ganz ohne Einfluss staatlicher Institutionen. Wie Knoten am Stängel einer Pflanze oder eigenwillige Verzweigungen treten beim Kind allmählich Charakterzüge hervor, bestimmte Vorlieben und Abneigungen, eine Eigenart in emotionaler und sozialer Hinsicht. Während beim ganz jungen Kind seine göttlich-geistige Führung, eine engelhafte Obhut, noch deutlich spürbar ist, zieht sich diese im Lauf der Entwicklung immer weiter zurück. Damit wird der Heranwachsende zunehmend in die Eigenverantwortung entlassen. Die „natürliche“ Weisheit, die ihn in jungen Jahren lenkte, die ihn damals als unschuldiges, reines Wesen erscheinen ließ, kommt ihm unweigerlich abhanden. Dann darf und muss er selbst frei über seine Schritte entscheiden, und es stellt sich die Frage, was ihn dazu befähigt.
Wenn Eltern entscheiden, ihr Kind aus der Schule zu nehmen um ihm ein freies Lernen zu ermöglichen, der Sohn oder die Tochter dann aber täglich viele Stunden am Handy oder an der Konsole „zockt“, zeigt sich, dass Freiheit eine diffizile Angelegenheit ist. Was nutzt es, mein Kind von staatlicher Einflussnahme zu „befreien“, wenn es anschließend der Verführung der Werbung, der Propaganda einer Game-Ideologie und der suggestiven Kraft der Peergroup erliegt? Zu sagen, das Kind „will es so“, heißt, die Augen vor den Bedrohungen seiner Freiheit zu verschließen. So einfach dürfen wir Erwachsene es uns nicht machen. Es ist zwar so, dass wir alle ständig irgendetwas entscheiden. Eine freie Entscheidung setzt allerdings voraus, dass ich wenigstens meine Beweggründe kennenlerne. Entscheide ich aus einer inneren Überzeugung, aus Mitgefühl, aus Einsicht in Notwendigkeit? Folge ich einer Sehnsucht meiner Seele oder handle ich aus Trägheit, Trotz, Furcht, Feigheit? Mit anderen Worten: Wie viel Ich ist an der Entscheidung beteiligt?
Jenseits von „Machen“ und „Lassen“ gibt es in jedem von uns den Bereich des Seins. Wer bin ich? – ist die Frage, die in den Heranwachsenden geweckt werden muss, wenn wir sie vor Indoktrination und jeder Art von Fremdsteuerung bewahren wollen. Aber machen wir uns nichts vor! Wir können unsere Kinder unmöglich für diese Frage sensibilisieren, wenn wir selbst nicht wenigstens angefangen haben, unser Denken, Fühlen und Handeln zu erforschen. Anfangs betrachten wir uns vielleicht nur „von außen“ als eine materielle Erscheinung und untersuchen, wie kulturelle, politische, wirtschaftliche, mediale, soziale oder auch physiologische Faktoren uns beeinflussen. Betreiben wir diese Forschung konsequent, so als wären wir überzeugte Materialisten, könnten wir nur zu dem Schluss kommen, dass es keine Freiheit gibt. Nimmt man einzig und allein das Erscheinende in den Blick, findet man kein autonomes Ich, sondern nur einen hilflosen Spielball, der von zahllosen Einflussfaktoren hin und her geschubst wird. Viele Menschen merken aber, dass eine solche nihilistische Anschauung, in der es nur Naturgesetze und Zufälle gibt, sie unglücklich macht. Sie spüren eine Realität jenseits dieser Fremdbestimmung. Das Erforschen und Erleben dieses „Jenseits“ in Beziehung zum Diesseits ist es, was ich hier unter Spiritualität verstehe.
Sobald wir uns dieser verborgenen Seite unseres Seins zuwenden, gilt es eins glasklar zu erkennen. Das, was nicht von dieser Welt ist, ob man nun von „höheren Wesensgliedern“, göttlicher Seele, Neschamah oder Geist spricht, ist nicht in der linearen Zeit zu Hause. Das ist von entscheidender Bedeutung, denn damit stehen Seele und Geist nicht in der endlosen Kette von Ursachen und Wirkungen. Es wäre absurd, in diesem jenseitigen Bereich meines Seins die übliche Kausalität zu erwarten und zu meinen: Wenn ich dies tue, geschieht das. Oder: Um jenes zu erreichen, muss ich dieses unterlassen. Hier gibt es kein Erreichen – zumindest nicht im Sinne der natürlichen oder technischen, das heißt gesetzmäßigen Entwicklung. Deshalb ist es nicht möglich, eine lebendige Beziehung zur geistigen Welt mit Hilfe einer Technik herzustellen. Man kann sich dieser verborgenen Welt nicht annähern, als wolle man sie beherrschen, so wie man ein Musikinstrument oder eine sportliche Disziplin beherrscht.
Wenn wir sehen, wie die materielle Welt mit ihren ständigen Verlockungen unsere Kinder in virtuelle Welten, in Konsumzwänge und Süchte hineindrängt, erkennen wir mit Entsetzen, dass die natürliche Spiritualität ihrer frühen Kindheit verlorengegangen ist. Wir wollen dagegenhalten, wollen etwas Positives tun. Aber hier geht es um das Sein, nicht um die Welt der Macher und Machthaber. Das Wesentliche lässt sich nicht tun. Natürlich ist es gut und sinnvoll, mit Kindern in den Wald zu gehen. Aber dann ist es wichtig, sie dort sein zu lassen. Natürlich ist es immer möglich, mit Kindern Yoga zu machen, Mantras zu rezitieren, Gebete zu sprechen oder eine Meditationstechnik einzuüben. Man solle sich aber darüber im Klaren sein, dass die Beziehung zur Seele nie und nimmer erzwungen werden kann. Das gilt für uns genauso wie für das Kind. Wenn wir Freude an derlei Unternehmungen und Übungen haben, ist das wunderbar, denn dann hat unser Tun seine eigene Erfüllung. Und Freude ist eine Sprache, die die göttliche Seele versteht. Möchte man damit aber „spiritueller“ werden, vielleicht sogar ein reinerer, höher schwingender Mensch, sollte man es besser lassen.
Auch und vor allem hier gilt es, unsere Beweggründe zu prüfen. Fragen wir uns, ob in uns, angesichts der Beschränkungen und Zwänge der erscheinenden Welt, eine Sehnsucht nach Erlösung lebt. Die Flamme der Sehnsucht lodert mitunter so stark auf, dass sie uns im Gebet, in der Meditation oder Kontemplation zu beflügeln vermag, so dass wir unserer Neschamah, unserem höheren Selbst, wirklich näherkommen, dass eine lebendige Verbindung da ist. Aber eine solche Sehnsucht, ich sage es noch einmal, können wir nicht machen. Sie ergreift uns, so dass wir überrascht feststellen müssen: Es sehnt sich in uns. Eine aufrüttelnde Begegnung, ein Schicksalsschlag, eine tief empfundene Reue, vielleicht auch Ekel am Überdruss – derlei Ereignisse haben das Potenzial, unsere Sehnsucht nach Befreiung zu wecken. Planen oder einüben können wir sie nicht.
Unsere Freude, unser Glaube an das Gute, Schöne und Wahre, unsere Dankbarkeit für die Fülle des Lebens – diese sind es, die unseren Kindern am meisten helfen, auch in späteren Jahren ein sinnerfülltes Leben zu führen.
Gelingt es uns, heranwachsende auf diese Weise als freudvolle, glaubende und dankbare Menschen zu begegnen, erleben sie in uns, was es bedeutet, in lebendiger Beziehung zur geistigen Welt zu stehen. Da muss nichts erklärt oder trainiert werden. Das Sein ist schon da und wirkt unmittelbar.
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