Scham

Ein untrüglicher Indikator

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Ähnlich wie Reue ist Scham ein Gewissensimpuls.[1] In ihrer ursprünglichen, authentischen Form zeigt uns Scham, dass wir etwas denken, fühlen, wollen oder tun, was wir nicht denken, fühlen, wollen oder tun sollten, weil es unserem Menschsein zuwider ist, weil es sich für uns als geistgeborene Geschöpfe nicht geziemt. Man könnte auch sagen: Es verletzt unsere Würde. Dann fühlen wir uns unwohl, vielleicht sogar unrein, und möchten uns am liebsten verstecken, können uns selbst nicht mehr im Spiegel anschauen. Es scheint so, als würde uns dieser Gewissensimpuls verurteilen, als gäbe es eine innere Stimme, die uns zuruft: „Schäm dich!“ Zutreffend daran ist nur, dass es sich um einen Impuls aus einer Dimension handelt, die wir unser Inneres nennen, womit der Sitz unseres authentischen Seins gemeint ist. Was von dort kommt, ist allerdings keine Verurteilung. Die Scham sagt uns vielmehr: „Hab Acht! So kannst du nicht leben. Gehst du diesen Weg, so verlierst du deine Selbstachtung. Dann wird Hass dein Herz vergiften und du fängst an, ungerecht zu urteilen, aggressiv und zerstörerisch zu handeln.“ 

Solche Hinweise, Mahnungen oder Warnungen aus dem Innern sind originäre Impulse; sie stehen selbstverständlich in Beziehung zur äußeren Welt der Erscheinungen und Ereignisse, werden aber nicht von diesen verursacht oder bedingt. Letzteres ist entscheidend. Wenn wir uns schämen, wenn der Gewissensimpuls der Scham in uns entsteht, ist das nicht eine Reaktion auf gesellschaftliche Konventionen, etwa einen historisch bedingten Moralkodex, den wir im Prozess unserer Erziehung und Anpassung, wie man sagt, „verinnerlicht“ haben. Diese Theorie, wonach wir uns nur deshalb schämen, weil uns andere in der Vergangenheit eingebläut haben, was sich für uns gehört und nicht gehört, ist typisch für unsere Zeit. Irgendjemand muss anscheinend schuld sein und meistens trifft es die Eltern, Lehrer oder Priester.

Diese Art von Schuldzuweisung geschieht fast schon reflexartig. Das kommt daher, dass wir schon früh gelernt haben nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip zu denken, wobei es sich bei den Ursachen stets um etwas Äußeres, Erscheinendes, Messbares oder Nachweisbares handelt. Fühlen wir uns unwohl, schlussfolgern wir, dass irgendetwas oder irgendjemand dieses Unwohlsein verursacht haben muss, sei es nun das Wetter, die Mahlzeit von gestern Abend oder die negative Ausstrahlung eines uns begegnenden Menschen. So zu denken führt eben dazu, dass wir, sobald wir Scham oder Reue verspüren, sofort daraus schließen, dass irgendjemand uns ein, wie wir sagen, „schlechtes Gewissen gemacht hat“. Die Folge dieser Theorie-der-äußeren-Ursachen ist, dass wir heute Scham für etwas Überflüssiges und Demütigendes halten, ein Gefühl, das nur anzeigt, dass uns gesellschaftliche Institutionen klein und schwach halten wollen. Mit anderen Worten, wir betrachten Scham im Zuge dieser Denkweise als etwas, von dem jeder moderne Mensch sich befreien sollte.

Es ist sonderbar, dass wir uns sträuben, die innere Autorität des Gewissens, von dem der Impuls der Scham kommt, anzuerkennen, während wir gleichzeitig zahlreiche äußere Autoritäten nicht nur anerkennen, sondern sogar nacheifern. Zu diesen äußeren Einflussfaktoren zähle ich neben den Menschen, die wir uns zum Vorbild nehmen, auch Theorien, Erklärungen, Meinungen, Wertmaßstäbe oder Modeerscheinungen.[2] Unser Widerstand und mitunter gar unsere heftige Abneigung gegen die Stimme oder Stimmung des Gewissens rühren wohl vor allem daher, dass Gewissensimpulse autonom und kompromisslos sind. Weder können wir Scham nach Belieben hervorrufen, noch sie an ihrer Entstehung hindern. Auch lässt sie sich nicht auf Diskussionen ein, die zum Ziel haben, ihre Bedeutung zu relativieren, das heißt, abzuschwächen. Dagegen bietet uns die Welt, in der wir unser Dasein haben, beliebig viele Autoritäten, nach denen wir uns ausrichten können. Wir haben die Wahl, diese oder jene Richtlinie zu befolgen, Anhänger jeder möglichen Partei, Doktrin oder Glaubensrichtung zu werden. Wir können uns Meinungen und Sitten zu eigen machen oder verwerfen – ganz so, wie es uns passt, das heißt, wie es uns innerlich beruhigt. Dagegen lässt ein echter Gewissensimpuls keinen Raum für solch eine Beliebigkeit und Scham stört zutiefst jede mühsam gepflegte Selbstberuhigung.

Da wir gelernt haben, uns in allem nach äußeren Autoritäten zu richten, entscheiden inzwischen Gesetze darüber, was wir in moralischem Sinne dürfen und nicht dürfen. Gesetze sind sozusagen die Vorschriften oder Spielregeln der äußeren Welt, seien es Naturgesetze, Verkehrsregeln, Konventionen oder Strafgesetze. Sie alle halten auf ihre Weise eine physikalische bzw. gesellschaftliche Ordnung aufrecht. Von ihnen kann aber niemals unsere Tugend kommen. Das zeigt sich gerade überall dort, wo anstelle des inneren Impulses der authentischen Scham die gerichtlich bestätigte Schuld oder Unschuld getreten ist. Tun wir im Rahmen dieser Ordnung nichts, was die Gesellschaft als Unrecht definiert hat, „brauchen“ wir uns nicht zu schämen. Mit der Verlagerung zur Schuldfrage wird Scham gewissermaßen rationalisiert, berechenbar und kontrollierbar gemacht. Außerdem können wir vor Gericht nur angeklagt werden für das, was wir tun, nicht für unsere geheimen Gedanken, Gefühle oder Begehren. Auch hier zählt offenbar nur das Erscheinende. Wer brav die gesellschaftlichen Gesetze und Vorschriften befolgt, kann also gleichwohl ganz üble Gedanken, Gefühle oder Verlangen in sich tragen.

Und so kommt es vermehrt zu Schamlosigkeit. Ihre Devise lautet: „Du kannst machen, was du willst, darfst dich nur nicht erwischen lassen.“ Wenn es kein Zeuge unserer durch Gier, Neid, Rachedurst oder Eitelkeit bedingten Handlungen gibt, kann uns, so das Kalkül, auch niemand anklagen oder schuldig sprechen. Wir sind so frei, zu tun, was wir insgeheim möchten. Menschen, die für den Gewissensimpuls der Scham taub geworden sind, neigen zu Paranoia. Sie gehen davon aus, dass alle anderen so wie sie selbst zu jeder Schamlosigkeit bereit wären, sobald sich ihnen nur die Gelegenheit böte. Deshalb verlangen sie nicht nur strengere Gesetze, sondern fordern auch eine möglichst lückenlose Überwachung aller.

Dass wir inzwischen so etwas wie einen Überwachungsstaat haben, sehe ich als Ausdruck einer Verdrängung, denn sehr viele verdrängen offenbar die Realität ihres inneren Zeugen, der über sie wacht. „Gott sieht alles“, hieß es früher; heute heißt es „big brother is watching you“. Wir haben verlernt, auf den Rat eines über uns wachenden Seins, eines Schutzengels oder Geistführers, zu achten und sehen uns nun mit einer übergriffigen, uns angeblich schützen wollenden Obrigkeit konfrontiert. Durch ein Aufbegehren gegen staatliche Ausforschung und Gängelung kann sich diese Situation nicht ändern. Es mag gerechtfertigt erscheinen, sich über die Anmaßung der staatlichen Behörden zu empören. Aber diese Empörung zeigt auch, dass in uns die Beziehung zum Gewissen verschüttet ist. Wir lehnen uns gegen äußere Überwachung auf, erkennen aber nicht, dass eine innere, geistige Instanz dauernd über uns wacht. Diese ist es, die uns ins Gewissen redet, nicht mit Worten, sondern mit Stimmungen oder Verstimmungen. Solche authentischen Impulse weisen uns darauf hin, welchen Weg zu gehen für uns im wahrsten Sinne des Wortes notwendig ist. Nicht die große Auswahl an Möglichkeiten in der äußeren Wirklichkeit macht uns frei, sondern die Erfüllung der einen inneren Notwendigkeit. Verfehlen wir unseren Weg, wird es uns, so Gott will, am Ende reuen. Denn auch die Reue heilt.


[1] Zum Thema Gewissen verweise ich hier auf meinen entsprechenden Beitrag.

[2] Inwiefern das auf unsere „leichte Beeinflussbarkeit“ zurückzuführen ist, zeige ich im gleichnamigen Artikel.

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