Warum wir es uns nicht zu leicht machen sollten
Als kleiner Junge, ich war vielleicht neun oder zehn, träumte ich einmal den Traum technischer Perfektion. Ich erinnere mich, dass ich zusammen mit ein paar Spielkameraden genussvoll die Vision eines vollautomatisierten Hauses heraufbeschwor. Wir fantasierten, wie überall roboterähnliche Greifarme uns alles, was wir uns nur wünschten, anreichen würden. Modelleisenbahngleise zögen sich durchs Haus und kleine Züge lieferten uns das Essen an den Tisch, ohne dass wir auch nur einen Schritt zu gehen hätten. Wir überboten uns eine Weile mit immer grandioseren Vorstellungen, ließen dann aber von unserer Science-Fiction ab und wandten uns wieder unserem Spiel zu.
Wir Kinder waren uns sicher, dass sich unser Traum so bald nicht erfüllen würde, dass es eben „nur“ ein Traum war. Aber wir täuschten uns – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Es war eben nicht bloß ein Tagestraum, ein spontane Fantasie, sondern vielmehr der Ausdruck mächtiger Gedanken, die dabei waren und sind, die Welt in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken. Wir irrten uns also auch in der Annahme, es handele sich um unseren Traum. Wir waren gar nicht in der Lage zu erkennen, was wir da Ausdruck verliehen, eine in die Menschheit hineinprojizierte Vision, hinter der eine klare Absicht steht. Vor allem aber täuschten wir uns in Bezug auf die Realisierung, denn die Umsetzung dieses Zukunftstraums in materielle Wirklichkeit war bereits damals in vollem Gange.
Was ist eigentlich der Reiz, das Verlockende dieser Vision? Da muss ich nicht lange überlegen. Alles Beschwerliche, genauer gesagt alles, was wir für beschwerlich halten, wird uns abgenommen. Maschinen, Geräte und – was wir Kinder damals gar nicht überblickten – ihre automatische Steuerung, also die sogenannte künstliche Intelligenz, machen uns das Leben leicht. Wir müssen uns nicht mehr mit lästigen Arbeiten und umständlichen Prozeduren abmühen. Egal ob es um Behördengänge geht, ums Einkaufen, Bezahlen, Autofahren, Kochen, Kommunizieren oder um die Orientierung im Straßennetz – immer soll alles schneller und bequemer vonstattengehen. Mit dem Zusatz „leicht gemacht“ werden heute Produkte und Dienstleistungen beworben. Das heißt doch, dass der Kunde sich genau das wünscht, ein leichtes Leben.
Ich möchte hier nicht auf die Vor- und Nachteile eines Navigationsgerätes eingehen oder die Gefahren des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, überhaupt der ganzen Digitalisierung, diskutieren. Ich will auch nicht einer asketischen Lebensführung mit selbst auferlegten Entbehrungen und einer Abkehr von jeglicher Bequemlichkeit das Wort reden. Mir geht es um etwas anderes. Ich frage mich, was diese Neigung, es sich leicht zu machen, für unsere seelische Entfaltung, unsere Spiritualität, bedeutet.
Was einem Bauer aus dem Mittelalter die tägliche Mühsal seines harten Lebens erträglich machte, war doch die Gewissheit eines noch ganz anderen Lebens. Sein Leben hier sah er als eine kurze Episode voller Wechselfälle an, das Leben dort aber als ewig, voller Frieden und Glückseligkeit. Ich weiß schon, Ideologien späterer Jahrhunderte, als der Glaube an Gottes ewige Liebe diskreditiert worden war, haben auf die Unterdrückung und Ausbeutung des mittelalterlichen Bauern hingewiesen und behauptet, die Lehre eines jenseitigen Lebens sei bloß eine schnöde Doktrin skrupelloser Machthaber. Manipulation und Unterdrückung hat es wahrscheinlich immer gegeben, so wie es sie auch heute gibt. Deshalb mag es damals schon so gewesen sein. Ich habe nicht die Absicht, die mittelalterlichen Lebensverhältnisse in irgendeiner Form zu idealisieren. Mir geht es hier nicht um gesellschaftliche Strukturen oder politische Systeme, sondern darum, wie der einzelne Mensch sein Dasein erlebt.
Mir scheint, der Wunsch nach einem leichten Leben rührt vor allem von der Überzeugung her, nur dieses Leben zu haben. Historisch gesehen ertönte der Ruf nach einem leicht gemachten Alltag doch zeitgleich mit der Säkularisierung der westlichen Industriegesellschaft. Gott und damit auch Seele und Geist waren abgeschafft, die Entzauberung der Welt war weit fortgeschritten. Seitdem gilt der Mensch und sein ganzes Handeln in der Welt als wissenschaftlich erklärt, enträtselt, entmythologisiert. Und was sagt sich nun der aufgeklärte Mensch unserer Zeit? Seine Schlussfolgerung geht etwa so: Wenn ich nichts anderes bin als ein Zufallsprodukt der Evolution, eine sinnlose Kreatur, gefangen in Illusionen und ohne Freiheit, die nach Ablauf ihrer Zeit auf Nimmerwiedersehen verschwindet, so will ich mir diese kurze Spanne meines Daseins wenigstens bequem gestalten.
Wenn ich die Gewissheit habe, dass meine Existenz hier in den konkreten irdischen Verhältnissen nur die eine Seite einer größeren, viel umfassenderen Wirklichkeit ist, bin ich durchdrungen von einem Gefühl, in dieser Einheit aufgehoben zu sein. Meine Gewissheit rührt nicht von einer Erklärung oder einem wissenschaftlichen Beweis her. Sie ist viel stärker, denn sie hat ihren Ursprung in mir selbst, in einem inneren Erleben von Liebe und Geborgenheit. Ich sehe nur einen kleinen Ausschnitt vom Ganzen, vertraue aber darauf und glaube unerschütterlich, dass die Einheit da ist, nicht nur das Diesseits, sondern das Diesseits und das Jenseits. Und deshalb bin ich nicht verzweifelt, wenn in meinen konkreten Lebensverhältnissen nicht alles vollkommen ist, wenn es Beschwernisse, körperliche Einschränkungen, Misserfolge oder Rückschläge gibt.
Was die Apologeten des leichten Lebens im Grunde versprechen, auch wenn sie das so nicht sagen, ist das Paradies auf Erden. Hier im Materiellen soll alles vollkommen sein, die Behausung, das Essen, die Ablenkung, der Sex, der eigene Körper. Mit Hilfe technischer Geräte, chirurgischer Eingriffe oder künstlicher Produkte sollen sämtliche Bedürfnisse der menschlichen Kreatur befriedigt werden. Die Zumutungen des Daseins, das Unrecht, überhaupt in diese Welt „geworfen“ zu sein, rechtfertige ja wohl jede nur mögliche Erleichterung, jede Befreiung von lästigen Handgriffen oder mühseligen Schritten.
Die Folge ist unübersehbar. Je perfekter alles im materiellen ist, je raffinierter unsere Bedürfnisse befriedigt und alle unsere Mühen erleichtert werden, umso stärker sind wir mit der Materie, mit der erscheinenden, diesseitigen Welt identifiziert und verkettet. Zwar gibt es dann das Streben nach immer größerer Perfektion, aber keine Sehnsucht nach einem Leben im Geiste. Die Empfindungsseele, das, was in der jüdischen Mystik Nefesch genannt wird, also der Sitz unserer Triebe, Begierden und Leidenschaften, wird so stark und dominant, dass keine Impulse aus der höheren, göttlichen Seele, der Neschamah, mehr zu uns durchdringen. Die Neschamah sehnt sich zwar nach der Einheit von Sein und Werden, von Jenseits und Diesseits, aber wir sind taub geworden für ihre Stimme.
Dem hyperbequemen, reibungslosen Dasein liegt ein ganz bestimmtes Ideal zugrunde, das Maschinen-Ideal. Perfekt funktioniert eine Maschine ja dann, wenn sie reibungslos läuft und mit minimalem Energieaufwand eine maximale Leistung erbringt, gestern genauso wie heute und heute genauso wie morgen. Wenn wir unser Leben tatsächlich nach diesem Ideal ausrichten, werden wir selbst zwangsläufig mechanisch. Ich meine das nicht so sehr in motorischem Sinne, insbesondere da so manche Erleichterung unseren Bewegungsaufwand reduziert oder gleich ganz überflüssig macht. Mechanisch wird aber auf jeden Fall unser Denken. Unsere Denkvorgänge verkommen zu Automatismen, wenn wir immer mehr von Maschinen und Steuerungssoftware umgeben sind, die uns das Denken abnehmen. Die technischen Geräte, deren „Bediener“ wir sind, geben die Wege vor, entlang derer wir denken. Eigenständige, kreative Gedanken sind dabei wie Sand im Getriebe, sie stören.
Spätestens seit der großen Vertrauenskrise der letzten Jahre steht unser Bildungssystem massiv in der Kritik. Es ist eine fundamentale Kritik und ihr Hauptvorwurf lautet, dass immer weniger junge Menschen am Ende ihrer Schulzeit in der Lage seien, selbstständig zu denken und gesellschaftliche Strukturen und öffentliche Meinungen kritisch zu hinterfragen. Manche vermuten dahinter die Absicht von Machthabern aus Politik und Wirtschaft. Schließlich ließe sich ein Volk von gehorsamen Jasagern leichter steuern und kontrollieren. Aber ich frage mich, ob nicht vielmehr die zunehmende Technisierung und Digitalisierung des Lehrbetriebs für das Verschwinden von Kreativität und Kritik verantwortlich sind. Reibungslos werden die medial schön aufgemachten Inhalte in die Köpfe von Schülern und Studenten – auch Lehramtsstudenten! – transportiert. Die schnell generierten Bilder und Videos, die glatten Grafiken und Modelle wirken allein schon kraft ihrer technischen Perfektion überzeugend, ja überwältigend. Beeindruckt und vielleicht auch etwas eingeschüchtert von dem, was am Bildschirm oder auf dem Smartboard präsentiert wird, trauen sich Schüler und Lehrer gleichermaßen kaum noch, den so transportierten Inhalt grundsätzlich zu hinterfragen und den Dingen auf den Grund zu gehen, quer zu denken.
All das, was mir in der erscheinenden Welt begegnet, zu hinterfragen, garantiert allein natürlich noch keinen lebendigen Bezug zur geistigen Welt in mir. Aber diese kritische Prüfung ist eine wichtige Voraussetzung, zumindest wenn man fragend nicht an der Oberfläche bleibt, sondern in die Tiefe geht, in die Tiefe des eigenen Wesens. Es gibt eine verborgene Verwandtschaft zwischen den Wörtern fragen und graben. Ich komme deshalb darauf, weil die Wörter in meiner niederländischen Muttersprache aus exakt den gleichen Buchstaben gebildet sind: vragen und graven. Fragen, die nicht mit oberflächlichen Antworten zugeschüttet werden, haben das Potenzial, unsere innere Weisheit auszugraben. Doch gerade dort, wo wir es uns leicht machen, geben wir uns gern mit oberflächlichen Antworten zufrieden. Warum? Weil sie bequem sind.
Gefangen in den reibungslosen Abläufen unseres leicht gemachten Lebens, sind wir immer weniger empfänglich für Eingebungen, Impulse oder Hinweise aus der geistigen Welt, von der Seite des Seins also, die in uns verborgen ist. Unser Verstand passt sich immer mehr den Geräten an, mit denen er sich täglich beschäftigt. Da gibt es keine Überraschung mehr, kein Gedanke, der „wie ein Dieb in der Nacht“ einbricht, nur noch reibungslose Routinen. Der Geist aber, um eine andere biblische Redewendung zu benutzen, weht, wohin er will. Es ist bezeichnend, dass das hebräische Ruach nicht nur Geist, sondern auch Wind bedeutet, also mit einer gewissen Unruhe verbunden ist, einer Bewegung, die nicht kontrolliert werden kann. Daher kommt das Lebendige! Wenn wir in unserem Leben keinen Platz mehr für dieses Unvorhersehbare haben, kann uns nur noch der Tod erlösen.
Es gibt ein Paradies auf Erden, aber der Schlüssel dazu liegt nicht im Materiellen, weder in technischen Erleichterungen noch in perfekter Gesundheit, in makelloser Schönheit des Körpers oder einer soliden Existenzsicherung. Trotz aller Betäubung und Berauschung spüren wir doch, dass keine dieser Errungenschaften von Dauer ist. Die Sorge bleibt, die Angst vor dem Alter und Verlust, der Schwäche und Beschwerlichkeit. Und so lauern Depression und Aggression ständig im Hintergrund, jederzeit bereit, ihre Schatten auf uns zu werfen. Wir sind es selbst, die den Schlüssel zum Paradies in Händen halten. Doch sind wir in der Lage, auch unter widrigen Lebensumständen, ja vielleicht gerade dann, Freude und Dankbarkeit zu empfinden? Können wir sowohl das Leichte wie das Beschwerliche, das Lustvolle wie das Schmerzhafte so erleben, dass unser Glaube davon nicht ins Wanken gerät? Wenn es mir gelingt, meine beschränkte Vorstellung von Perfektion aufzugeben, und alles in meinem Leben als ein Geschenk Gottes anzunehmen, Gaben eines Geistes, dessen Weisheit und Güte ich nicht zu erfassen vermag, ist dieses Vertrauen nicht nur ein Akt der Liebe, sondern auch der Freiheit.
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