Der Ruf des Gewissens
Es ist schwieriger geworden, das Leid der anderen auszublenden. Was wir nicht innerlich erleben, erfahren wir von außen kommend. Das Internet, insbesondere die sogenannten sozialen Medien konfrontieren uns faktisch rund um die Uhr mit Krieg, Vernichtung und Elend irgendwo auf dem Planeten, in Ländern, die nun gar nicht mehr so fern erscheinen. Derlei Nachrichten, verstärkt durch schockierende Bilder und Videos, wühlen uns auf. Die Reaktionen sind unterschiedlich und widersprüchlich: Hilflosigkeit, Wut, Resignation, Aktionismus, Leugnung, Trauer, Angst. Allmählich dämmert uns, dass die Menschheit als Ganzes ein Organismus ist. Und wenn irgendwo in diesem Menschheitskörper eine Entzündung auftritt, zieht dieser Krisenherd den gesamten Organismus in Mitleidenschaft. Wir mögen uns mit Schmerzmitteln b1etäuben oder auf vielfältige Weise ablenken, aber das Leiden ist dennoch da. Es ist wie ein dunkles Basso Continuo, von dem jede Lebensmelodie berührt wird. Es spricht unser Gewissen an; es verlangt unser Mitgefühl.
Die Geschichte nimmt ihren gewaltsamen Lauf. Wir verstehen die dabei entfesselten Kräfte nicht. Sie scheinen übermenschlich oder im wahrsten Sinne des Wortes unmenschlich zu sein, so als handele es sich um dämonische Mächte. Wer kann sie aufhalten? Wer kann sich den rollenden Panzern entgegenstellen? Wer kann die Kampfjets daran hindern, ihre tödliche Bombenlast abzuwerfen? Wir spüren unsere Ohnmacht, erleben die enorme Übermacht der geschichtlichen Entwicklung. Was können wir überhaupt tun? Da kommt mir ein Wort des chinesischen Weisen Laotse in den Sinn: „Plane das Schwierige da, wo es noch leicht ist! Tue das Große, wo es noch klein ist!“ Übertragen auf unser Thema hieße das: Frieden ist fern, wenn der Krieg einmal ausgebrochen ist. Frieden zu stiften, bedeutet dann eine zu große Aufgabe, fast ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn es so weit gekommen ist, dass die Bataillone vorrücken und die Raketen abgefeuert sind, kann wahrscheinlich nicht einmal eine Gottheit den Wahnsinn noch aufhalten. Es ist zu spät. Und so sehen wir, dass die meisten Kriege erst dann aufhören, wenn sich die Kräfte erschöpft haben und die Völker von Kriegsmüdigkeit gelähmt werden.
So viel wir aus der Beobachtung und dem Studium der Geschichte erkennen können, treten Kriege periodisch auf. Zwar gibt es immer politische, wirtschaftliche, finanzielle oder religiöse Interessen, die für die Entstehung eines Krieges verantwortlich zu sein scheinen. Aber in Wahrheit hat jeder Krieg seinen Grund in einem kollektiven Wahn. Der Krieg ist zutiefst irrational, was viele nur deshalb nicht sehen, weil ihnen alles Irrationale, das heißt Unkontrollierbare, noch stärker bedroht als der Krieg selbst. Völker, die Krieg führen, egal mit welcher Begründung, sind tatsächlich verrückt, Opfer einer Massenpsychose. Kein Mensch, der Krieg führt oder ihm das Wort redet, ist Herr seiner selbst. Er ist nicht bei Sinnen, was ihm aber nicht aufgeht, weil die Menschen um ihn herum genauso wie er selbst vom Irrsinn befallen sind.
Krieg ist ein Massenschicksal, das wie eine Sturmflut ganze Völker mitreißen kann. Das Schicksal einer Masse ist in gewissem Sinne dem Schicksal des Einzelnen übergeordnet. Kommt eine Flut, so trifft sie nicht nur die Groben, Dummen und Gewaltsamen, sondern auch die Feinen, Klugen und Friedfertigen. Die Katastrophe macht hier keinen Unterschied. Und so kommen Menschen im Krieg zu Tode, die ihrem eigenen Lebensplan gemäß nicht hätten sterben sollen. Ihr Tod ist damit zutiefst tragisch, ein in der kosmischen Ordnung nicht vorgesehener Unfall. Es mag uns beunruhigen, aber tatsächlich entspricht nicht alles, was den Menschen geschieht, ihrem persönlichen Karma. Das gilt vor allem für jene, die das Pech haben, in einem Land zu leben, das von Krieg heimgesucht wird.
Bislang haben wir es nicht vermocht, die periodisch auftretenden Kriege zu verhindern. Es scheint unmöglich, denn alle Institutionen, Konventionen, Verträge und Gesetze, die zu diesem Ziel geschaffen wurden, haben sich als rein rationale Konstrukte völlig wirkungslos gezeigt. Es kommt nicht auf internationale Institutionen, sondern auf den einzelnen Menschen an. Und nur derjenige kann den gewaltigen Wogen des kollektiven Wahns standhalten, der mindestens so viel Selbstständigkeit erlangt hat, dass er imstande ist, selbst zu denken und unparteiisch zu urteilen. Ein solcher Mensch kann intellektuell und emotional allein stehen, ist nicht abhängig von der Zustimmung oder Sympathie anderer. Das aber ist offenbar leichter gesagt als verwirklicht.
All jene, die vom Kriegsfieber erfasst werden, die mit irrer Begeisterung zu den Waffen greifen oder mit kalter Präzision und gedanklich völlig mechanisch am Computerbildschirm todbringende Drohnen lenken, sind wahrlich zu bedauern. Sie sind doch Menschen, uns vielleicht sogar ähnlicher, als wir es gern hätten. Immerhin ist ungewiss, wie wir uns verhalten würden, gerieten wir unverhofft in einen Krieg. Können wir sicher sein, dass es uns gelänge, die Ruhe zu bewahren und friedfertig zu bleiben? Wir sollten also diese vom kollektiven Wahn Erfassten nicht abschreiben, so wie man sich von unliebsamen Verwandten distanziert, mit denen man nichts zu tun haben möchte. Auch wenn sie im Dunkeln wandeln, heißt das nicht, dass sie auf ewig verloren sind. Widerstehen wir also der Versuchung, all diese Verrannten und Verstiegenen vom guten und lichten Teil der Menschheit, zu dem wir gewiss uns selbst zählen, abzuspalten. Hat nicht auch der Gute Hirte versprochen, kein einziges Schaf Seiner Herde verloren zu geben?
Die Kriegsbegeisterten werden nur noch durch starke Erschütterungen aus ihrer völligen Verblendung erlöst. Bis dahin laden sie Schuld auf ihre Schultern. Wer will den Stab über sie brechen? Sie sind im Grunde schwache, willenlose Wesen, mitgerissen von der Wucht eines psychischen Tsunamis. Bedenken wir, wie leicht kleine Kinder von irgendeinem albernen Kasperletheater oder einer billigen Verkleidung in den Bann geschlagen werden, wie leicht man sie kollektiv zum Lachen, Schreien, Klatschen oder Hüpfen bringen kann! So sind diese Menschen: irregeführte Kinder, die unglücklicherweise todbringendes Spielzeug in die Hände bekommen haben. Möge Gott sich ihrer erbarmen.
Sind schon all jene vom Vernichtungs- und Eroberungswahn Erfassten bedauernswerte Geschöpfe, so gilt das erst recht für die wehrlosen Opfer von Kriegsgewalt. Es geht nicht nur um die Getöteten, denn immerhin können wir den Tod, auch wenn er endgültig und ein echter Verlust ist, doch noch als Erlösung aus Enge und Täuschung betrachten, Befreiung von den Beschränkungen des physischen Körpers. Aber was ist mit all den traumatischen Erfahrungen, mit Schmerz, Hunger, Erschöpfung und Todesangst? Wollen wir ernsthaft daran festhalten, dass es das Karma eines kleinen Kindes ist, an den Folgen eines Angriffs mit Brandbomben qualvoll zu sterben? Können wir angesichts von zehntausenden schwer verletzten Kindern wirklich behaupten, sie alle hätten sich letztendlich für dieses Schicksal entschieden?
Ich verstehe natürlich, dass die Behauptung einer karmischen Notwendigkeit uns als hilflose Betrachter seelisch entlastet. Das ferne Grauen wird erträglicher, wenn wir uns selbst sagen, dass hier kosmische Gesetze walten, dass all dieses furchtbare Leid letztlich in geistigen Dimensionen irgendwie geplant ist und folglich seine Richtigkeit hat. Wenn wir der Auffassung sind, diese bedauernswerten Geschöpfe hätten sich ihr Leid selbst inszeniert, seien selbst dafür verantwortlich, können wir darüber unser Gewissen beruhigen, müssen uns innerlich nicht mehr mit ihnen befassen. Aber wenn ich so denke, wehrt sich etwas in mir dagegen. Wir sind doch ein Menschheitskörper; das Leid jener Kriegsopfer ist doch auch mein Leid.
In letzter Zeit tauchen Beschreibungen von außerirdischen Rassen auf, sonderbaren Wesen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Intentionen, die alle ein mehr oder weniger starkes Interesse an der Erde zeigen. Ich halte solche Erzählungen für bedenklich, insofern als sie unterstellen, dass all diese intergalaktischen Wesen in unseren irdischen Konflikten und Kriegen irgendwie mitmischen, vielleicht sogar die Fäden ziehen. Ich sehe die Gefahr einer neuen Rassenlehre, der zufolge manchen Rassen ein Führungsanspruch gebühre, während andere unterentwickelt, das heißt, minderwertig seien und sich unterzuordnen hätten. Beziehen wir diese neuartige, quasi wissenschaftliche „Götterlehre“ auf die Menschheit, wächst in uns die Vorstellung und reift leicht zur Überzeugung, dass die Erde ein Schachbrett außerirdischer Mächte sei. Das hieße, die Menschheit zu spalten. Auf der einen Seite sähen wir dann jene, die mit den guten und lichten intergalaktischen Rassen im Bunde sind, und auf der anderen Seite der Teil der Menschheit, der unter dem Einfluss dunkler und übelwollender Mächte steht. Aber vergessen wir nicht: „Star Wars“ ist eine menschliche Fantasie.
Wir können kein Mitgefühl haben, wenn wir parteiisch sind. Mitgefühl macht keinen Unterschied zwischen einem Menschen, der als Täter, und einem solchen, der als Opfer in Erscheinung tritt. Der Mitfühlende weiß, dass beide leiden. Die Vorstellung eines kosmischen Krieges, dessen zentraler Schauplatz die Erde ist, mag sehr wohl eine Projektion unserer inneren Kriege auf den Himmel sein. Dann erscheinen uns die modernen Götter genauso heillos in Konflikten verwickelt wie wir selbst. Auf jeden Fall birgt eine solche Vorstellung die Gefahr, dass sie uns selbstgerecht, misstrauisch und hart macht, selbstgerecht; weil wir uns auf der richtigen Seite wähnen; misstrauisch, weil wir nicht ausschließen können, dass unser Nachbar innerlich zu den Widersachern gehört; und hart, weil sich unser Herz all jenen gegenüber verschließt, die wir als dunkel oder böse ansehen.
Sollte jetzt, wie manche behaupten, ein Teil der Menschheit „aufsteigen“, während ein anderer Teil zurückbleibt oder gar absteigt, wäre das so, als würde man ein Glied des Menschheitskörpers amputieren. Er verlöre seine Ganzheit. Ich befürchte, dass auch wir damit unsere Ganzheit einbüßen würden. Mir kommt hier der tibetische Archetypus des Bodhisattwas in den Sinn, eines erleuchteten Meisters, der gelobt, so lange der Menschheit zur Seite zu stehen, bis alle aus der Illusion des Samsara befreit sind. Das ist Mitgefühl in Reinform. Ähnlich sieht es die Avatara Mutter Meera. Auf die Frage, ob der Aufstieg zu Gott nicht mit einer Bergbesteigung vergleichbar sei, antwortet sie: „Ja, und wenn man den Gipfel erreicht hat, muss man wieder hinuntersteigen und anderen nach oben helfen, nach ihren Fähigkeiten und ihrer Kraft. Bei dieser Arbeit gibt es keine Rast: Der Höchste dient am liebevollsten, der Weiseste hört am aufmerksamsten zu, der, der gesehen hat, setzt sein ganzes Leben ein, um anderen zu helfen, damit auch sie sehen. Das ist der göttliche Weg.“2
Wir leben offensichtlich in Dualität und damit scheinen Konflikte unvermeidlich. Dass der Menschheitskörper immer wieder von Kriegsfieber befallen wird, zeigt, dass er nicht heil ist. Fieber ist lediglich der Heilversuch des Organismus, der im Extremfall allerdings zum Tode führen kann. Wir wissen, dass die Ursachen von Krankheiten letztlich seelisch-geistiger Natur sind. Und das bedeutet, dass es jedem von uns obliegt, innerlich heil oder ganz zu werden. Je mehr wir verstehen oder lieben, umso weniger sind wir geneigt, das andere oder den anderen zu verwerfen. Wir spüren, dass er oder es zum Ganzen dazugehört. Wer in diesem Sinne erleuchtet ist, wird zu dem, was Laotse ein Berufener nennt. Davon sagt er, und mit diesem Zitat möchte ich enden: „Der Berufene versteht es immer gut, die Menschen zu retten; darum gibt es für ihn keine verworfenen Menschen. Er versteht es immer gut, die Dinge zu retten; darum gibt es für ihn keine verworfenen Dinge. Das heißt die Klarheit erben. So sind die guten Menschen die Lehrer der Nichtguten, und die nichtguten Menschen sind der Stoff für die Guten. Wer seine Lehrer nicht werthielte und seinen Stoff nicht liebte, der wäre bei allem Wissen in schwerem Irrtum. Das ist das große Geheimnis.“3
- LAOTSE, Tao te king. Das Buch vom Sinn und Leben. Übersetzt und mit einem Kommentar von Richard Wilhelm, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, Köln 1978, Seite 106, Abschnitt 63 ↩︎
- MUTTER MEERA, Antworten, Dornburg-Thalheim 1994, Seite 184ff. ↩︎
- LAOTSE, Tao te king. Das Buch vom Sinn und Leben. Übersetzt und mit einem Kommentar von Richard Wilhelm, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, Köln 1978, Seite 67, Abschnitt 27 ↩︎
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