Individuum

Die spontane Gegenwart

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Wann ist ein Mensch ein Individuum? Wann ist er ein einzigartiges, ungeteiltes und unteilbares Einzelwesen? Natürlich, in physischer Hinsicht ist jeder Mensch ein Individuum. Schließlich hat sein Körper besondere Merkmale, die ihn von all den Milliarden anderen Menschenkörpern eindeutig unterscheiden. Man denke nur an den Fingerabdruck oder die Iris-Färbung. Einen Menschen aufgrund seiner körperlichen Erscheinung als Individuum zu verstehen, hieße jedoch, ihn nur oberflächlich zu erfassen. Wir spüren, dass wir ihm nicht gerecht werden können, solange wir nur das Äußerliche in Betracht ziehen.

Suchen wir das Individuelle eines Menschen in seinem Innern, so müssen wir fragen, was dort wirklich einzigartig und unvergleichlich ist. Ist es das, was wir mit dem Begriff Charakter zu fassen versuchen? Geht es um Geschmack, um bestimmte Vorlieben? Zeichnet sich der Mensch durch sein Temperament aus? Hebt er sich durch eine bestimmte Begabung von allen anderen ab? Oder sind es eher seine Gedanken, Vorstellungen oder Ideale, die ihn von seinen Mitmenschen unterscheiden? Auf unserer Suche nach dem Einmaligen, müssen wir bald feststellen, dass es gar nicht so leicht zu finden ist. Ganz gleich, welche Neigung, Abneigung oder Begabung wir uns vorstellen, es gibt immer andere, mit denen wir sie teilen. Dasselbe gilt für all die durch das Temperament bedingten Schwächen und Stärken: Zorn, Langmut, Tatendrang, Traurigkeit, Einfühlsamkeit, Trägheit, Bedächtigkeit, Oberflächlichkeit, Fröhlichkeit – um nur einige zu nennen. Und wo finden wir einen Menschen, der etwas denkt, was noch kein anderer gedacht hat, dem Ideale vorschweben, an denen nicht auch andere sich orientieren? Schwer vorstellbar, einen solchen zu finden! Ganz sicher nicht individuell indes sind unsere Ängste und Sorgen, unser Streben nach Sicherheit. Diese teilen wir offensichtlich mit den allermeisten anderen.

Es scheint also, dass wir im Innern des Menschen keine Einzelheit finden, die wir nicht auch in anderen finden könnten. Da wir aber doch spüren, dass jeder Mensch etwas Einzigartiges ist, vielleicht auch, weil wir nicht akzeptieren können, selbst nichts Besonderes zu sein, erklären wir jeden Menschen zu einer einzigartigen Mischung psychischer Eigenschaften. Jede Eigenschaft für sich ist nichts Ungewöhnliches – die Mischung macht’s! Der eine ist vielleicht intellektuell, misstrauisch, cholerisch, musikalisch begabt, mag scharfes Essen, neigt zur Depressionen und liebt schnelle Autos. Der andere erscheint emotional, quirlig, sprachbegabt, isst gern Süßes, braucht Menschen um sich herum, ist gutgläubig, aber auch etwas indiskret, kleidet sich gern bunt und liebt Filme. Tatsächlich gibt es so viele Eigenschaften in schier endlosen Abstufungen, dass daraus Millionen unterschiedlicher Mischungen erschaffen werden können.

Das erinnert mich an die Astrologie. Ausgehend vom Geburtsort und der exakten Geburtszeit kann für jeden Menschen ein eigenes Horoskop erstellt werden. Die Elemente des Horoskopes sind zwar immer die gleichen: die zwölf Tierkreiszeichen, die 360 Grad des Himmelskreises, die Planeten unseres Sonnensystems, die Mondknoten und die immergleichen Bahnen der Himmelskörper, aber aus ihnen lassen sich endlos viele Konstellationen errechnen. Dementsprechend könnte man die Individualität eines Menschen aus der bestimmten Stellung der Gestirne zum Zeitpunkt seiner Geburt erklären. Was ihn ausmache, wäre demnach ein teils harmonisches, teils disharmonisches Zusammengehen verschiedener Energien. Doch hätten wir damit das Einzigartige eines Menschen erfasst? Die Antwort liegt auf der Hand, wenn wir bedenken, dass sich die Aussagekraft des Horoskopes immer nur auf das beschränkt, was durch die Geburt in Erscheinung tritt, also auf die jeweilige Inkarnation, möglicherweise auch auf andere Inkarnationen. Die Astrologie kann zwar aussagen, wie ein Mensch in die Welt tritt, aber nicht, wer dieser Mensch in seinem individuellen, nicht erscheinenden Kern ist. Wer sich inkarniert, muss sich zeitlich und räumlich festlegen. Es geht nicht anders. Er muss sich den Naturgesetzen des physischen Universums fügen. Aber das Sein unterliegt nicht der Herrschaft dieser Gesetze. Mit anderen Worten: Wer ein Mensch ist, lässt sich nicht aus physikalischen Gegebenheiten errechnen oder ablesen.

Es gibt viele Systeme, mit denen der erscheinende Mensch typisiert oder klassifiziert werden kann. In einem älteren Beitrag „Brillen und Schubladen“ habe ich das bereits thematisiert. All diese Systeme erlauben es, so etwas wie ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen. Mitunter verblüffen sie uns mit erstaunlich zutreffenden Beschreibungen unserer Neigungen und Verhaltensweisen. Aber wenn solche Beschreibungen in Büchern nachzulesen sind oder von Computerprogrammen generiert werden, können sie grundsätzlich nicht unser Individuelles erfassen. Natürlich, so wie wir Pflanzen nach Gattungen einteilen, können wir auch Menschen in bestimmte Typen aufteilen: ein norddeutscher Typ, ein Künstlertyp, eine typische Grundschullehrerin und so weiter. Aber diese Typen sind keine Einzelwesen, sondern Kategorien, denen jeweils Millionen Menschen zugeordnet werden können. Sind wir stark mit unserer Inkarnation, mit der erscheinenden Person, identifiziert, mag es so aussehen, als würden derlei Kategorien uns komplett erfassen. Aber je mehr wir zum Erscheinenden auf Distanz gehen und es nüchtern betrachten, umso intensiver spüren wir, das wir diese Person zwar tragen, aber nicht wesentlich sind.

Wer ist es denn, der unsere Person mit all ihren Eigenheiten und ihrem Lebenslauf trägt? Wir können uns einer Antwort annähern, indem wir uns selbst erforschen. Fragen wir uns also, wie wir das, was wir beim Eintritt in die Welt erhalten haben, tragen? Können wir es ertragen? Können wir es nüchtern zur Kenntnis nehmen – ohne Dünkel und falsche Bescheidenheit? Oder lehnen wir es ab, leugnen und verdrängen es? Wie stellen wir uns zu dem, was das Schicksal für uns bereithält? Beklagen wir uns darüber, brüsten wir uns damit, oder nehmen wir es gelassen als unsere individuelle Aufgabe an? Darin, so meine ich, drückt sich etwas von dem aus, wer wir sind. Das ist mehr als nur eine Charakterfrage. Es geht auch um das ehrliche Bestreben, die Wahrheit unserer Selbst zu finden. Es geht um die Bereitschaft, die Sonnen- und Schattenseite unserer Person mit gleichbleibender Gelassenheit anzusehen. Zwar scheint vieles in unserem Dasein physikalisch bedingt und festgelegt zu sein, nicht jedoch die Frage, wie wir uns dazu stellen.

Das Sein ist ein geistiges. Das heißt, es tritt nicht physisch in Erscheinung. Als nichtphysische, nicht zeiträumliche Realität kann es weder durch unsere Gene, unsere Nahrung, unsere Lebensumstände noch auch durch den Lauf der Sterne bedingt werden. Da es nicht den Naturgesetzen unterliegt, ist es frei. Mit anderen Worten: Es ist wesentlich spontan und diese Spontaneität ist die Grundlage unserer Kreativität. In der spontanen Bewegung oder Äußerung, vor allem auch im Einfallsreichtum leuchtet unsere Individualität auf. Das Individuum, das eigene und das des anderen, kann nur in der Gegenwart erlebt werden. Dieser Moment des Seins ist einmalig und unvergänglich.

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