Die Illusion der Exklusivität

Spaltung beginnt und endet in uns

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Wir lernen schon früh, uns selbst als etwas Besonderes zu betrachten. Häufig wird diese Exklusivität von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe hergeleitet, einer lokal einflussreichen Familie oder Sippe etwa, einem sozialen Milieu, einer politischen Strömung, einer traditionsreichen Glaubensgemeinschaft oder auch einer Nation, eines Kulturraums oder einer Rasse. Sich selbst als etwas Besonderes anzusehen, setzt die Annahme voraus, dass die anderen nichts Besonderes, das heißt gewöhnlich und letztlich weniger wertvoll bzw. minderwertig sind. Damit haben wir das Wesen der Egozentrik beschrieben. Womit wir unsere angebliche Besonderheit begründen, wechselt je nach geschichtlicher Zeit und geografischer Lage. Aber auch wenn sie von außen befeuert werden kann, so ist die Egozentrik in ihrem Kern doch ein psychisches und kein soziales Problem.

Früher haben wir uns in Deutschland und Europa auf die Überlegenheit der weißen Rasse berufen, auf ihre kulturellen Blüten, wissenschaftlichen Fortschritte und technischen Innovationen. Der weiße Europäer konnte sich als Angehörige einer Elite von Heilsbringern betrachten. Heute ist das nicht mehr opportun, was allerdings nicht bedeutet, dass damit die Überzeugung, wir seien etwas Besonderes, verschwunden wäre. Denn Hand aufs Herz, halten wir nicht unser Gesellschaftssystem demjenigen anderer Kulturräume für überlegen? Beurteilen wir unsere westlichen Ideale und Projekte wie Demokratie, Zivilgesellschaft, Gleichberechtigung oder Umweltschutz nicht als Leuchttürme, nach denen die weniger entwickelten Völker ihren Kurs ausrichten sollten?

Aber nicht nur unsere Werte sehen wir als maßgebend an. Rasse und Religion spielen offenbar weiterhin eine Rolle, wenn auch unterschwellig und uneingestanden. Das zeigt sich etwa dann, wenn wir weiße, christlich geprägte Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen, während wir jene, die dunkelhäutig und muslimisch geprägt sind, abweisen und ihrem beklagenswerten Schicksal überlassen. Wenn wir uns selbst unvoreingenommen betrachten, müssen wir feststellen, dass wir in unserer moralischen Entrüstung sehr selektiv sind. Das Elend der Millionen De-facto-Sklaven in Subsahara-Afrika treibt uns nicht Transparente schwenkend auf die Straße, wohl aber der mutmaßliche Rassismus in unserer von dieser Sklaverei profitierenden Gesellschaft. Die obszöne und verheerende Ungleichheit in der Verteilung des Vermögens weltweit ist uns offenbar keine Demonstration wert. Dafür gehen wir auf die Straße, um die mutmaßliche Ungleichbehandlung von Menschen mit einer vom Gros abweichenden sexuellen Orientierung anzuprangern.

Wenn wir uns entrüsten, haben wir bereits eine Spaltung vorgenommen, eine Trennung zwischen uns, die wir im Recht, und jenen anderen, die im Unrecht sind. Wir empören uns nie darüber, dass wir selbst Unrecht tun. Wir regen uns nur über die anderen auf. Daran haben wir uns so gewöhnt, dass es uns nicht mehr, wie es eigentlich sollte, erstaunt. Und so gibt es Trennung allenthalben. Wir, die Guten, Modernen, Fortschrittlichen, Freiheitlichen sehen uns den anderen gegenüber, den Demokratiefeinden, den Rückständigen, Unzivilisierten und Abergläubischen. Dass diese ihrerseits sich selbst und uns ganz anders bewerten, können wir uns nur so erklären, dass sie eben dumm, unaufgeklärt oder Opfer von Repression und allgegenwärtiger Propaganda sein müssen.

Wir bringen unseren Kindern in der Schule kaum ernsthaft bei, sich in die Lage des anderen zu versetzen und dessen Wohl genauso wie das eigene im Blick zu haben. Mitgefühl für das menschliche Gegenüber ist kein Schulfach, wird nirgendwo gefördert. Stattdessen werden immer wieder Sentimentalitäten geschürt. So sieht man gelegentlich zwar die Bereitschaft, der Umwelt zuliebe im eigenen Konsumverhalten Verzicht zu üben, aber die damit einhergehende fanatische Missionierung offenbart, dass die Betreffenden keineswegs die Notwendigkeit erkannt haben, ihre Rechthaberei aufzugeben. Manche stellen das Wohl bestimmter Tiere über das ihrer Mitmenschen. Sie alle treten in die Exklusivitätsfalle, indem sie sich selbst in kaum erträglichem Hochmut als Retter des Planeten gebärden.

Mittlerweile sind wir so einseitig auf die Außenwelt, insbesondere auf die verschiedenen elektronischen Kommunikationsgeräte fixiert, dass wir gar nicht mehr bemerken, wo die Spaltung ihren Anfang nimmt. Tatsächlich mag für viele die traurige Realität eingetreten sein, dass sie fast nur noch automatisch, das heißt, vorhersehbar auf die Impulse von außen reagieren. Wie auf Knopfdruck zeigen sie sich je nach Input begeistert, entrüstet, gerührt, erschrocken, angewidert, erbost, begierig, betrübt und dergleichen mehr. Aber wenn wir nicht auch offen sind für Impulse von innen, tragen wir die Spaltung bereits in uns. Wir haben dann unsere innere seelisch-geistige Realität abgespalten. Die unbewusste Dimension unseres Seins, die wir auch als Traumbewusstsein bezeichnen können, ignorieren wir bereits, indem wir nur die Rationalität des Verstandes gelten lassen. Wir täuschen uns selbst, wenn wir meinen, dass wir aus rationalen Erwägungen heraus handeln, dass unser Tun wohlüberlegt ist und auf bewusst getroffene Entscheidungen gründet.

So sind wir beispielsweise geneigt, Geld und Macht als die letztlich einzige Triebfeder für politisches Handeln zu betrachten. Das Streben nach Reichtum und Einfluss ist etwas Berechenbares, es überrascht uns nicht. Wir kennen es; es ist uns verständlich, rational. Aber genau besehen ist damit noch nichts erklärt. Woher kommt dieser Wunsch, reicher und mächtiger als andere zu sein? Nur weil viele das Verlangen danach kennen, heißt das noch nicht, dass es etwas Gesundes, Menschenwürdiges und Sinnvolles ist. Doch meistens lassen wir es dabei bewenden, dass der Mensch eben so sei, dass es ganz normal sei, zu dem privilegierten einen Prozent gehören zu wollen. Denn müssten wir einräumen, dass uns völlig irrationale Motive leiten, so würde uns das extrem beunruhigen. Aber Hass und Hochmut, Angst und Abscheu oder auch die Überzeugung, mit einer göttlichen Mission betraut zu sein, sind offensichtlich weitaus stärkere Triebfedern als Geld und Macht.

Gurdjieff nannte die Selbstberuhigung einen inneren bösen Gott[1], den wir anbeten. Er ist deshalb böse, weil er von uns selbst zwar keine Opfer verlangt, dafür aber uns zwingt, andere zu opfern. In den Kriegen dieser Welt sehen wir, was das im Extremfall bedeutet: Hinrichtung des anderen statt eigene Hingabe. Schlecht, falsch, ungerecht und irregeleitet sind nur die anderen. Die kritische Frage, ob wir selbst denn so viel anders seien, soll uns nicht stören. „Wer nicht leiden will, muss hassen“, sagte einmal der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter[2]. Gemeint ist natürlich das Leiden an den eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen, auch an der eigenen Boshaftigkeit. Zu sehen, dass wir nicht besser, edler und moralischer höherstehend sind als die anderen, ist der erste Schritt zur Überwindung der Spaltung.


[1] G. I. GURDJIEFF, Beelzebub Erzählungen für seinen Enkel. Eine objektiv unparteiischen Kritik des Lebens des Menschen, Sphinx Verlag Basel, 1981, Band III, Seite 1128

[2] Horst-Eberhard Richter, Wer nicht leiden will muss hassen: zur Epidemie der Gewalt, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1993

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