Gibt es Gerechtigkeit?

Warum wir im Streit oder Krieg nicht Partei ergreifen sollten

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Wer sich über den Sieg der Seinen freut, freut sich auch über die Niederlage der anderen. Das mag ihm nicht gefallen, ist aber unvermeidlich, denn es war doch erst deren Niederlage, die den Triumph der Seinen ermöglichte. Der Jubel der Sieger verhöhnt die Trauer der Unterlegenen. Während jene die Fäuste in die Luft recken, ballen diese sie in der Tasche. Frustration, Missgunst, Rivalität und Rachedurst treiben den Verlierer um – und treiben ihn an, bald schon die Sieger von heute zu schlagen. Auf diese Weise beschwört der Sieger selbst das Schicksal seiner künftigen Niederlage herauf. Wer im Sieg triumphiert, schafft sich schnell Feinde.

Im Mannschaftssport gilt es als Fairplay, als schöne Geste, wenn die Sieger die Leistung der Besiegten würdigen und die geschlagenen Spieler trösten. Erfahrene Sportler wissen sehr genau, wie es sich anfühlt, ein Spiel oder gar ein Finale zu verlieren. Doch es hängt von ihrer seelischen Reife ab, ob sie sich auch im Siegestaumel daran erinnern und Mitgefühl für die Geschlagenen zulassen können. Wo das gelingt, kann vom Geschehen auf dem Spielfeld eine in moralischem Sinne erzieherische Wirkung auf die Zuschauer ausgehen. Ähnlich wie im antiken griechischen Theater, würde das Spiel zum Spiegelbild des Schicksals mutieren. Stellen wir uns einmal vor, wie das wäre! Das ist nicht so schwer, denn tatsächlich sind Sieg und Niederlage schicksalhafte Bestandteile des Spiels. Am Ende muss eine Mannschaft als Sieger daraus hervorgehen, was zwangsläufig bedeutet, dass eine in die Rolle des Verlierers zu schlüpfen hat. Ist das Los besiegelt, werden die Sieger für ihre Leistung gefeiert, aber die Verlierer für ihre Bereitschaft, die Last der Niederlage zu tragen, geehrt.

Das Leben hält für jeden von uns Erfolge und Misserfolge bereit. Wir streben selbstverständlich nach Erfolg, sei es wirtschaftlich, beruflich oder gesellschaftlich. Das zu tun, wird uns schon früh eingeimpft. Unsere Schulen und Universitäten scheinen den Heranwachsenden nicht nur zu vermitteln, dass Erfolg erstrebenswert ist und unbedingtes Ziel im Leben sein sollte. Darüber hinaus wird den jungen Menschen gegenüber auch noch so getan, als könnten alle gleichzeitig Erfolg haben. Das ist natürlich unmöglich. Vielmehr entspricht es der Realität, dass die Erfolgreichen nur sein können, weil es Erfolglose gibt. Wenn wir das Augenmerk unserer Kinder auf dieses Zusammenspiel lenken würden, könnten wir dahin kommen, dass die Unterlegenen in unserer Gesellschaft die ihnen zustehende Achtung erhielten.

Die sogenannten Versager, die Armen und Schwachen für das Schicksal, das sie tragen, zu achten, hieße nicht, sie zu bedauern. Solch ein Mitleid geriete sehr leicht zu einer herablassenden Geste. Auch geht es nicht darum, die Verlierer aus der Verantwortung zu entlassen. Unsere Achtung ruht vielmehr auf der Erkenntnis, dass wir alle unser jeweiliges Schicksal nur bedingt ändern können. Die Behauptung, es wäre doch alles machbar, man könne alles durch eigene Anstrengung oder positive Gedanken erreichen, ist allzu oft die Lüge, mit denen die Erfolgsverwöhnten ihr Gewissen beruhigen. Tatsache ist doch, dass bereits mit unserer Geburt sehr vieles in unserem Leben bestimmt ist. Ob wir in Wohlstand oder Armut, in einer ländlichen Idylle oder einem Kriegsgebiet aufwachsen, setzt in vielerlei Hinsichten die Weichen für unser weiteres Dasein. Ich sage nicht, dass es keine Spielräume gibt. Aber in vielen Fällen besteht unsere Freiheit offensichtlich nur darin, wie wir uns innerlich zu den vorgefundenen Umständen einstellen.

In intellektuellem Sinne heißt, zu siegen, recht zu haben. Das Streben danach, in einem Gespräch oder einem Meinungsaustausch, der Gewinner zu sein, das heißt sich durchzusetzen, zu glänzen und allgemeine Bewunderung einzuheimsen, ist das Wesen der Rechthaberei. Es ist der Drang, die eigene Ansicht zu objektivieren und als die einzig richtige oder, wenn nicht die einzige richtige, so doch die beste zu behaupten. Diese Besserwisserei bedarf natürlich einem ihr entsprechenden Gegenüber, wofür alle anderen als die mutmaßlich Dummen oder schlecht Informierten herhalten müssen. Über kurz oder lang führt Rechthaberei zwangsläufig zu Streit. Die Aggressivität des Neunmalklugen provoziert eine mehr oder weniger verbitterte Widerrede. Dann geht es hin und her und man schaukelt sich gegenseitig hoch.

Im Streit kann es aber niemals Gerechtigkeit geben, denn wer Gerechtigkeit sucht, streitet nicht. Streit setzt ja voraus, dass jeder der Streitenden felsenfest überzeugt ist, recht zu haben. Der andere sei es, der sich irre. Aber wer aufrichtig Gerechtigkeit im Sinn hat, strebt nicht länger danach, recht zu bekommen, denn er versteht, dass die Annahmen und Ansichten zu denen ein Mensch gelangt, stets seiner besonderen Perspektive und seinem biografischen Hintergrund entsprechen. Daraus folgt, dass Gerechtigkeit damit anfängt, dass wir den Menschen uns gegenüber als einzigartiges Wesen betrachten. Das ist etwas Großes, gewiss, aber eher werden wir ihm nicht gerecht werden können.

Den anderen als einzigartiges Individuum zu sehen, heißt ihn zu achten. Diese Achtung hängt nicht von irgendeiner Leistung ab. Was den anderen einzigartig macht, ist ja nicht sein Erfolg oder sein Geschick, nicht das, womit er sich schmückt, auch nicht seine Bildung oder sein Expertentum. Einzig als Mensch, das heißt, als Ausdruck eines inneren, seelisch-geistigen Wesens, ist er einmalig. Und das gilt für jeden, ohne Ausnahme. Es sind oftmals Meinungen, Sachkenntnisse und gesellschaftliche Stellungen, die unsere Einzigartigkeit verschleiern. Jemand mag Unsinn reden, auf andere Zwang ausüben, gemein oder intrigant sein – ein einzigartiges Wesen mit einem ganz eigenen Weg durchs Leben ist er dennoch. Ihn zu achten, heißt aber nicht, ihm zuzustimmen oder sein Handeln gutzuheißen. Eine solche Billigung würde unter Umständen ja bedeuten, ihn an Täuschungen auszuliefern und seine Identifikation mit einer irrigen Selbstwahrnehmung zu verstärken.

Das führt uns zur Frage des Widerspruchs. Auch derjenige, der sich aufrichtig bemüht, gerecht zu sein, kann in eine Situation geraten, in der es für ihn unumgänglich wird, zu widersprechen. Die besondere Herausforderung besteht dann darin, dies so zu tun, dass kein Streit entsteht. Der Rechthaber widerspricht anderen, weil er überzeugt ist, es besser zu wissen. Er möchte seine Sicht der Dinge, sein Verständnis der Zusammenhänge, dem Gegenüber aufzwingen. Und warum? Weil er unbedingt als Sieger aus dem hervorgehen will, was er als Streitgespräch ansieht. Nicht so der Gerechte! Ihm geht es immer darum, das Dunkel zu lichten. Er wünscht seinem Gegenüber Einsicht, die Erfahrung einer Befreiung durch Erkenntnis. Er denkt nicht an seinen eigenen Erfolg oder seine Selbstbehauptung, sondern sucht allzeit die seelische Entfaltung des anderen zu fördern. Wo es notwendig ist, wird er widersprechen, aber ohne die Pose des Rechthabers, ohne Aggressivität oder Arroganz. Sein Widerspruch gilt der allgemeinen Verständigung und dem Wohl des Ganzen.

Die letzte Konsequenz des Streites ist der Krieg. Es gibt immer politische, wirtschaftliche, soziale und finanzielle Umstände, die zur Entstehung eines Krieges führen. Aber ohne die Rechthaberei und Parteilichkeit vieler wäre er nicht möglich. Erst die Besserwisserei führt dazu, dass wir der Sichtweise des anderen die Berechtigung absprechen. Infolgedessen gerät unsere parteiische Sicht der Dinge zu einer Sackgasse, die uns schließlich den Krieg als unvermeidlich erscheinen lässt. Unser Denken wird mechanisch und verfällt der sogenannten „Logik“ des Krieges, in der Begriffe wie Abschreckung, Vergeltung, Präventivschlag, Irreführung und Überrumplung zur Geltung gelangen. Das Kennzeichen dieser Kriegslogik ist der Zwang. Sind wir erst einmal darin gefangen, scheinen Angriff und Krieg die zwingende Schlussfolgerung unseres Denkens zu sein. Man meint, vernichten zu müssen, um nicht selbst vernichtet zu werden. Das ist Wahnsinn.

Kriege sind niemals gerecht, noch können sie jemals Gerechtigkeit herbeiführen, denn wer gerecht ist, tötet nicht. Lange vor dem ersten Schuss oder Schlag aber fängt das Töten damit an, dass wir das ganz andere bei uns selbst töten, das Verborgene, Unbewusste, also das, was uns seelisch-geistig einzigartig macht. Die biblische Überlieferung erzählt davon im Bild des Kindesmordes. Verstehen wir den tieferen Sinn! Wir selbst sind der weltliche Herrscher, Nimrod, Pharao oder Herodes, der das Kind, den Keim des inneren Himmelreiches tötet. Denn dieses innere Kind stört uns bei unserem beruflichen Aufstieg, im sogenannten Kampf ums Dasein, beim Rechthaben. Wir lernen schon früh, seine Existenz zu leugnen. Sind wir aber für unsere Einmaligkeit, das heißt unseren göttlichen Ursprung, blind geworden, können wir auch nicht mehr die Einzigartigkeit unseres Gegenübers erkennen. Somit haben wir die Möglichkeit eingebüßt, gerecht zu urteilen, zu handeln, zu sein.

Solange wir Partei ergreifen, sei es im Streit oder Krieg, teilen wir die Menschen in zwei Lager. Auf der einen Seite sehen wir die „Richtigen“, also jene, die die richtigen Ansichten und Absichten haben. Es sind diejenigen, die nicht nur meinen, recht zu haben, sondern sich auch berechtigt sehen, ihre Sichtweise nötigenfalls gewaltsam durchzusetzen. Auf der anderen Seite befinden sich dann natürlich all jene, deren Ansichten und Absichten wir für falsch oder böse halten. Mit dieser Einteilung werden wir aber weder unserer eigenen seelisch-geistigen Realität noch der Realität der anderen gerecht.

Gottes Gerechtigkeit ist vollkommen, weil Er allen gerecht wird. Er kann es, weil Er das Sein eines jeden kennt, das innerste Geheimnis, das Allerheiligste. Wir können uns darin üben, zu bemerken, was im anderen lebt, indem wir zunächst aufmerksam registrieren, was in uns selbst lebt, wie wir gestimmt sind, was uns bewegt. In der Regel wissen wir nicht, woher wir kommen oder wohin wir gehen. Und natürlich weiß es unser Gegenüber erst recht nicht. Ist es da verwunderlich, dass wir uns unverstanden fühlen? Dieses Gefühl, nicht gesehen zu werden, mag uns enttäuschen, verbittern oder ärgern, aber für die gegenseitige Verständigung wäre es förderlicher, sich selbst näher kennenzulernen. Im Zuge dessen merken wir eines Tages, dass wir uns selbst gar nicht so verständlich sind, wie wir immer angenommen hatten. Auch uns selbst gegenüber, so stellen wir erstaunt fest, waren wir nicht gerecht. Diese Erkenntnis macht uns bescheiden und zeigt uns einen Weg aus der Verzweiflung, in die uns die scheinbare Ungerechtigkeit der Welt so leicht stürzt.

Kommentare

Hallo lieber Leonard,

danke für Deinen ausführlichen Beitrag. Ich glaube auch – genau wie Du ausführst, geht es jetzt um Aufhebung eines tief verwurzelten Glaubensmusters, daß einige von uns mehr wert seien als andere. Unsere Hauptaufgabe zur Zeit ist Gleichheit, ungeachtet von äußeren Lebensumständen. Weder dürfen wir uns selbst unter- oder überlegen fühlen, noch diesen Grundsatz auf andere anwenden. Niemanden verdammen und niemanden auf einen Sockel stellen!

Da fällt mir die afrikanische Lebensphilosophie von Ubuntu ein. Ein Gleichnis verdeutlicht es: Ein Entwicklungshelfer hat einer Gruppe von Kindern einen Preis in einiger Entfernung aufgestellt: wer von ihnen dieses Ziel zuerst erreicht, darf ihn behalten. Da hielten sich die Kinder alle an den Händen und rannten vereint dorthin. Sie erklärten, alle wären traurig, hätte nur einer von ihnen den Vorteil gehabt.

Christel

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