Ein himmelweiter Unterschied
Viele Menschen würden mir wohl zustimmen, dass es sich bei dem, was wir wissen, und dem, was wir sind, nicht um dasselbe handelt. Dennoch beobachte ich, dass wir aufgrund unserer Identifikation mit dem Verstandesdenken, oft dazu neigen, Wissen und Bewusstsein gleichzusetzen. Wir wissen zum Beispiel, dass wir ein Herz haben. Wir sagen dann, dass wir uns dessen bewusst sind. Aber wie bewusst sind wir wirklich in Bezug auf dieses zentrale Organ? Wenn wir die Treppe in den dritten Stock hochlaufen, merken wir, oben angekommen, dass unser Herz heftiger schlägt. Wir legen unsere Hand auf die Brust und sind uns in diesem Moment der erhöhten Aktivität des Herzens bewusst. Aber nehmen wir bewusst die verschiedenen Kammern und Klappen wahr, das Strömen des Blutes? Nehmen wir wahr, wie es unserem Herz geht? Und was ist mit all den anderen Momenten des Tages, in denen wir gar nicht an unser Herz denken? Wir wissen schon, dass wir eins haben, aber wir sind offensichtlich nicht ständig „herzbewusst“.
Noch flüchtiger wird unser Bewusstsein, wenn wir vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen übergehen. Wir wissen wahrscheinlich, dass wir so etwas wie ein Herzchakra haben. Auf der Grundlage von gesammelten Informationen haben wir uns eine Vorstellung von seiner Lage und Funktion gemacht. Vielleicht benutzen wir dieses Wissen zu bestimmten Konzentrations- und Visualisierungsübungen. Aber nehmen wir das Herzchakra bewusst wahr? Erkennen wir die Qualität der dort lokalisierten Energie und sind wir uns ihres Einflusses auf unsere Gesamtverfassung bewusst? Oder bleiben wir mit unserem Bewusstsein auf der Ebene der Vorstellung, des Denkens, also des Verstandes?
Nach Rudolf Steiner steht die Menschheit entwicklungsgeschichtlich im Übergang von der Verstandesseele zur Bewusstseinsseele. So wie ich es verstehe, ist damit nicht gemeint, dass der Verstand im Laufe der kommenden Jahrhunderte als Funktion unserer Psyche verschwinden wird. Vielmehr dürfte es sich darum handeln, die Identifikation mit dem, was uns das Verstandesdenken präsentiert, immer weiter zu lockern, so dass wir allmählich erkennen, wie begrenzt das alles ist und als welch ein Geplapper sich dieses Verstandeswissen häufig entpuppt. Das können wir aber nur, wenn wir uns selbst nicht mit dem Verstandeswissen gleichsetzen. Vielleicht ist es nicht ganz falsch, zu sagen, dass die Entstehung unseres Bewusstseins mit der Trennung zwischen Sein und Wissen anfängt. Dann beginnen wir darüber nachzudenken, was das eigentlich ist, was wir wissen.
Wenn wir etwas wissen, dann meistens, weil wir es gehört oder gelesen haben. Es steht in einem Buch, ist Gegenstand eines Films, Inhalt eines Vortrags oder Thema eines Gesprächs. Wir erfahren davon und lassen uns von der Richtigkeit überzeugen. Oftmals erscheint uns eine Behauptung oder Vorstellung logisch und wir akzeptieren sie, weil wir gewohnt sind, etwas als Tatsache anzuerkennen, was uns schlüssig präsentiert wird. Mitunter spielen auch andere Faktoren eine Rolle bei unserer Entscheidung, Gehörtes oder Gelesenes als Wissen anzunehmen. Vielleicht passt es gut ins Bild, das wir uns von der Welt gemacht haben, so dass wir uns davon bestätigt fühlen. Vielleicht finden wir es tröstlich oder ermutigend. Es kann aber auch sein, dass wir vor allem den Überbringer der Information, also den Schriftsteller, Redner oder Lehrer, für sympathisch und glaubwürdig halten. Es braucht auf jeden Fall keine eingehende Untersuchung, um festzustellen, dass wir über sehr viel Wissen verfügen, welches wir nie in der Erfahrung geprüft haben noch je durch direkte Beobachtung prüfen könnten.
Die Welt des Geistes, die verborgene, weil hier nicht erscheinende Welt, können wir grundsätzlich nicht mit unseren gewöhnlichen Sinnesorganen wahrnehmen. So verstanden, ist sie tatsächlich nicht erfahrbar. Wir können also kein Erfahrungswissen von ihr haben. Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern. Denn wir meinen häufig, auch in Bezug auf das Seelisch-Geistige über Wissen oder bestimmte Gewissheiten zu verfügen. Überliefert ist zum Beispiel die Kunde, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild erschaffen wurde. Heute beziehen wir uns – bewusst oder unbewusst – auf diese Mitteilung, wenn wir sagen: „Ich bin Schöpfer“. Die Vorstellung spricht uns an und aus verschiedenen Gründen akzeptieren wir sie als Tatsache. Sie drückt Selbstermächtigung aus, ein Gefühl von Freiheit und das Versprechen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. „Ich bin Schöpfer, mein Schicksal liegt in meiner Hand.“ Nun wissen wir, dass wir unserem Schöpfer ähnlich und ebenfalls Schöpfer sind. Wie vieles andere ist das zwar kein Erfahrungswissen. Schließlich können wir unsere Entstehung aus dem Geist Gottes nicht mit unseren äußeren Sinnen erfahren. Es handelt sich eher um eine Art Überzeugungswissen. Doch wir behandeln es durchaus wie ein Wissen, eine Gewissheit. Manchmal scheint sich unser Schöpfertum in der Lebenspraxis zu bestätigen, dann wieder nicht. Gelingt es uns nicht, unsere Daseinsverhältnisse nach unseren Vorstellungen zu erschaffen, ziehen wir nicht unser Wissen in Zweifel, sondern eher unsere Fähigkeit, es anzuwenden.
Nun hat das Wissen um unsere Gottesebenbildlichkeit im Kern eine enorme Sprengkraft, ist im Grunde die Offenbarung einer tiefgehenden, grundlegenden Wahrheit. Würden wir dieses Wissen in uns erleben, gelänge es ihm also, die harte Schale unserer Intellektualität zu durchbrechen und tief in unser Wesen einzudringen, so dass es uns ganz ausfüllen und keinen Platz für Zweifel oder Relativierung ließe, wäre es tatsächlich in der Lage, unser Dasein vollständig zu revolutionieren. Die ganze Art und Weise, auf die wir uns selbst und anderen begegnen, würde sich radikal ändern. Denn wir wären uns ständig bewusst, in jedem anderen Menschen ein gottähnliches Wesen vor uns zu haben, völlig unabhängig davon, was dieser Mensch in der Welt darstellt, tut oder sagt. Zuneigung und Abneigung könnten dieses Bewusstsein nicht erschüttern. In unserem Wesen käme es zu einer Explosion der Liebe. Wir wären nicht länger imstande, Gewalt auszuüben, weder physische Gewalt noch jene, die in Rechthaberei, Überheblichkeit oder Zwang zum Ausdruck kommt. Ein großer, heiterer Ernst würde uns erfüllen. Wir sähen die enorme Hoffnung, die Gott in uns setzt, in jedem von uns, und nähmen die damit gegebene Verantwortung dankbar und demütig an.
Doch merkwürdigerweise geschieht nichts dergleichen. Wir reden darüber, wir erklären vielleicht sehr eloquent, was es damit auf sich hat, suchen das Wissen für uns nutzbar zu machen und verteidigen seine „Wahrheit“ gegen kritische Einwände. Aber das Wissen erreicht uns nicht in der Tiefe; es bleibt an der Oberfläche und verwandelt uns nicht. Es ist damit im Grunde sinnlos. Warum ist das so? Die naheliegende Antwort ist, dass Angst uns hindert und schwächt. Wir fürchten radikale Änderungen nicht nur im Äußeren, sondern auch im Innern. Durch die Jahre haben wir uns, so gut es eben ging, auf unsere Daseinsverhältnisse eingestellt, uns an innere und äußere Abläufe gewöhnt. Wir haben unser Leben mit Besitztümern, Errungenschaften und Ansichten eingerichtet und damit ein Gefühl relativer Sicherheit gewonnen. Eine Wahrheit, die dieses Haus, in dem wir uns doch so heimelig fühlen, sprengen würde, können wir nicht zulassen. Und deshalb schirmen wir sie mit der ganzen Macht unseres Intellekts ab.
Sich dieser Mechanismen bewusst zu werden, das heißt, seine innere Unfreiheit zu erkennen, ist gewiss ein erster Schritt hin zu dem, was Steiner Bewusstseinsseele nennt. Während Wissen aus der Vergangenheit stammt, existiert Bewusstsein nur in der Gegenwart des jetzigen Moments. Dieser Augenblick eines plötzlichen Innewerdens kann uns durchaus sprachlos machen. Der Verstand ist gewissermaßen überwältigt. Wir spüren, dass seine üblichen Erklärungen und Herleitungen allesamt unzulänglich sind. Unser Intellekt kann den Moment des erwachenden Bewusstseins nicht von irgendwo herleiten, denn er wurzelt nicht in der Vergangenheit, ist nicht die Fortsetzung oder Folge des Bekannten.
Weil wir Bewusstsein nur im Jetzt zu erleben vermögen, ahnen wir in diesem Moment, was damit gemeint sein könnte, wenn gesagt wird, die Zeit sei eine Illusion. Wir bekommen ein Gefühl dafür, dass alles in diesem Jetzt aufgehoben oder enthalten ist, der ganze Mensch mit all seinen vergangenen und möglichen Taten, seiner Sehnsucht und Hoffnung, seinen Erfolgen und Misserfolgen, seinem Stolz und Bedauern. Es folgt nicht das eine aus dem anderen. Was ist, entwickelt sich nicht im Laufe der Zeit. Wir sind außerstande, dieses Ganze, die Einheit des Moments, zu fassen, erleben es als unfassbar, merken aber doch, dass alle vom Verstand entwickelten Konzepte nichts mit dieser Realität gemein haben. Diese Erkenntnis führt uns vor Augen, dass unser Wissen, insbesondere jenes, das sich auf die sogenannte geistige Welt bezieht, uns gar nicht hilft, mit der Realität des Jetzt in Berührung zu kommen. Im Gegenteil! Ernüchtert und enttäuscht, vielleicht auch etwas erschrocken, stellen wir fest, dass es uns vielmehr genau daran hindert, indem es uns immer wieder an Bekanntes bindet, das heißt, in der Vergangenheit festhält. Intellektuell gesehen stehen wir in der Begegnung mit der allumfassenden Gegenwart sozusagen nackt da. Wir wissen nicht, was das Neue ist, das sich in diesem Moment offenbart. Aber wir wissen, dass wir es nicht wissen. Und es scheint, als würde unser Bewusstsein damit ihren Anfang nehmen.
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