Wir wissen zu viel

Und wundern uns zu wenig

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Je älter ich werde, umso stärker wird meine Skepsis, ja sogar meine Abneigung all jenen gegenüber, die für alles und jedes eine Erklärung haben. Mitunter scheint mir die Welt voll zu sein von Menschen, die es kaum erwarten können, mir zu erklären, worum es im Leben geht, wie der Mensch funktioniert, was das Weltall ist oder weshalb es Krieg und Krankheit gibt. Ihre Gewissheit, in der kein Platz für Zweifel oder offene Fragen ist, beeindruckt mich aber nicht. Auch macht sie mich weder neidisch noch verspüre ich die Versuchung, mich auf einen Disput und damit auf Rechthaberei einzulassen. Vor allem aber, überzeugen mich diese Menschen selbst nicht, spüre ich doch mehr oder weniger stark, dass sie Getriebene sind, beherrscht vom Zwang, immer alles ganz genau zu wissen, so als könnten sie es nicht ertragen, vor einem unerklärlichen Mysterium oder Rätsel zu stehen. Ehrlich gesagt, erlebe ich ihren Erklärungszwang als eine Art Krankheit, und ich sehe immer deutlicher, dass sich diese bedauernswerten Menschen in Illusionen verstricken.

Wer liebt, sucht nicht nach Erklärungen. Er spürt, dass die Liebe etwas Unerklärliches ist, das er sie mit dem Intellekt nicht fassen kann. Im Übrigen braucht er auch gar keine Erklärungen. Ich meine natürlich nicht die Schwärmerei des Verliebten, die letztlich doch nur eine Art Rausch ist, welcher Sinn und Verstand benebelt. Der Liebende ist keiner, der von seinem Verlangen hingerissen wird, kein Sklave seiner Triebe. Es wäre zutreffender, ihn als nüchtern und gelassen zu beschreiben, durchaus nicht irrational oder blind. Da er es jedoch vermag, sich der Welt hinzugeben, sich ihr zu öffnen, erkennt er die Realität auf eine viel tiefergehende, intimere Art als jener, der alles logisch zu erklären sucht. Und wenn man sich nun fragt, als was sich dem Liebenden die Realität offenbart, so ist die Antwort darauf eindeutig: als Wunder!

Noch einmal: Wer liebt, sucht nicht die romantische Verklärung der Wirklichkeit, trägt keine rosarote Brille, zieht sich nicht in ein Wolkenkuckucksheim zurück. Er sieht im Gegenteil sehr klar – gerade auch das Kleine, das scheinbar unbedeutende Detail oder die vermeintliche Nebensächlichkeit. Und während diese dem oberflächlichen Betrachter selbstverständlich vorkommen, weshalb er sie nicht weiter beachtet, staunt der Liebende darüber. Er weiß schon, dass es für den Duft der Blüten, die Herkunft der Worte oder die Wohltätigkeit eines Helfenden wissenschaftliche Erklärungen gibt. Aber er sieht, dass all diese gelehrten Erläuterungen die Wirklichkeit verschließen, anstatt sie zu öffnen.

Etymologisch bedeutet Definition so viel wie „Beschluss“, „Abgrenzung“ oder auch „abschließendes Urteil“. Wer für alles eine Erklärung hat, wer alles zu definieren weiß, schließt sich selbst in seinen Erklärungen ein. Jedes Mal, wenn mir so jemand begegnet, habe ich den Eindruck, dass sich der Betreffende mit seinen Definitionen der Wirklichkeit gegenüber abgrenzt. Es scheint, als mache er der Welt seinem Intellekt untertan. Er meint, so mein Eindruck, die Welt im Griff zu haben, wenn er alles logisch darlegen, für alles eine Ursache finden und mit Begriffen benennen kann. Man könnte fragen, woher das Bedürfnis nach dieser Art von intellektueller Kontrolle kommt.

Was lässt uns nach Macht streben? Offensichtlich ist doch, dass nur derjenige nach Macht sucht, der sich ohnmächtig fühlt. Es ist ihm alles zu viel, die Welt mit ihren endlosen Problemen, die Menschen mit ihren widersprüchlichen Reaktionen, sämtliche Situationen und Zustände, die ihm chaotisch und verwirrend vorkommen. Er kann weder die Welt ändern noch aus seiner Haut heraus und ebenso wenig vermag er, seine Ängste und Verstimmungen abzustellen. Aber er sieht und ergreift die Möglichkeit, sich selbst mit logischen Erklärungen, mit einem in sich geschlossenen Weltbild zu beruhigen. Die Logik wird ihm zu einem Instrument der Macht. Seine Überlegungen, um es in ein Wortspiel zu fassen, legen sich über die Wirklichkeit.

Das naturwissenschaftlich dominierte Bildungssystem, so wie es heute fast überall auf der Welt vorherrscht, stärkt in den Heranwachsenden die Neigung, sich intellektuell gegen die Wirklichkeit abzuschließen. Indem es den Kindern mit einer Unmenge an Wissen über ursächliche Zusammenhänge überschüttet, mit dem also, was man einst Bücherwissen nannte, fördert es nicht deren Öffnung für die Realität. Die Schüler lernen, was Wolken oder Regenbögen physikalisch sind, wie ihre inneren Organe technisch betrachtet funktionieren, wodurch es zu Erdbeben oder Vulkanausbrüchen kommt oder auch, dass so etwas wie Mutterliebe letztlich nur ein nützlicher Instinkt ist. Ihnen wird mit anderen Worten beigebracht, dass es für alles eine Erklärung gibt, und dass derjenige gebildet ist, der möglichst viel zu erklären weiß. Ich sehe darin eine tragische Fehlentwicklung.

Man mag bedauern, dass die Welt und unser Leben infolge rationaler, naturwissenschaftlich geprägter Erklärungen komplett entzaubert wurde. Das Weltbild des modernen Menschen kommt ganz ohne die Personalisierung von Naturkräften aus, ohne Erd-, Wasser-, Luft- und Feuerwesen. In ihm haben auch keine Engel Platz – egal ob sie erhaben oder gefallen sind. Doch diese Entzauberung ist nicht das eigentliche Problem. Problematisch ist vielmehr, dass uns unser Wissen hindert, tiefer in die Realität des Lebens einzudringen. Wir meinen Bescheid zu wissen, und deshalb sehen wir keine Veranlassung, unser Wissen radikal zu hinterfragen. Philosophen mögen sich noch ernsthaft mit der Frage abmühen, warum etwas überhaupt ist und nicht vielmehr nicht ist. Doch im täglichen Leben halten wir die Welt im Großen und Ganzen für erklärt, wobei wir großzügig einräumen, dass es noch ein paar offene Detailfragen gibt.

All unser heutiges Wissen, ganz gleich, ob es sich auf eine konkret-physikalische oder rein logische Beweisführung stützt, hat die Tendenz zu einem geschlossenen System zu werden. Das hängt unzweifelhaft damit zusammen, dass der Intellekt zurzeit unsere vorherrschende psychische Funktion ist. Sogar das, was früher Glaubensinhalt war, ist heute ein durch spirituelle Forschung zutage gefördertes Wissen. Hier wirkt sich der Anspruch, vollumfängliche, abschließende Erklärungen zu liefern, vielleicht noch verheerender aus. Man spricht dann leichthin von „Seele“, „Geist“, „Ich“ oder „Bewusstsein“ so, als sei es ohne weiteres möglich, diese gewaltigen Realitäten zu definieren, sie also in intellektuelle Begriffe zu fassen. Dabei kommt es offensichtlich zu einer Überschätzung der Verstandeskräfte. Nicht alles, was wir uns vorstellen und in logischen Sätzen ausformulieren können, entspricht der Realität des Seins. Es wird doch kaum jemand bestreiten, dass wir in der Lage sind, uns selbst etwas vorzumachen.

Ich staune immer wieder, wenn ich andere erklären höre, was die Seele ist, welche Absicht sie hat, woran man ihr Alter erkennen kann und in welchem Verhältnis sie zu unserer körperlichen Erscheinung steht. Für die einen herrscht der Geist über die Seele, für die anderen ist es genau umgekehrt. Meine Verwunderung über diese gar nicht aus dem unmittelbaren Erleben entstandene Gewissheit schlägt dann aber bald in Betrübnis um. Denn ich spüre, dass sich mein Gegenüber nicht aus dem Gefängnis befreien kann, zu dem ihm sein Wissen geworden ist.

Bei allem Wissen zu erkennen, dass wir nicht wissen, dass vielmehr das Leben und die Schöpfung ein unfassbares Mysterium sind, verstehe ich als Ausdruck wahrer Bescheidenheit. Dazu bedarf es des Mutes, so wie es auch Mut braucht, zu lieben. Denn diese Bescheidenheit oder Demut bedeutet, all das loszulassen, was wir zu wissen meinen, was wir mühsam gelernt haben, was man uns beigebracht hat. Erst dann, wenn wir vollständig aufgehört haben, das Leben „fassen“, danach greifen und es begreifen zu wollen, können wir vom ihm erfasst werden. Die Erkenntnis meines Nichtwissens öffnet mich für die Realität, die doch so ganz anders ist als alles, was ich mir jemals vorzustellen vermag. Die Offenbarung kommt immer wie eine Überraschung, ganz gleich, ob es sich um eine plötzliche Eingebung oder die unerwartet auflebende Beziehung zu einem anderen Wesen handelt. So gesehen ist das Nichtwissen die Grundlage dessen, was wir zumeist als Meditation bezeichnen.

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