Wann endet der Streit um die Geschichte?

Die Wahrheit verliert sich in der Zeit

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Die Geschichte, das heißt, die Erzählung von früheren Ereignissen, gibt immer wieder Anlass zum Streit. Die moderne Geschichtsschreibung mit ihrer wissenschaftlichen Erforschung von archivierten Dokumenten hat daran nichts geändert. Im Gegenteil, der Streit scheint in den letzten Jahrzehnten noch an Heftigkeit zugenommen zu haben. Die einen sagen, es war so und so, wir können es beweisen. Die anderen sagen: Falsch, es war ganz anders, wir widerlegen eure Beweise und liefern stattdessen bessere. In regelmäßigen Abständen werden uns von Historikern oder investigativen Journalisten neue Fakten präsentiert. Dabei wird stolz und manchmal auch etwas rechthaberisch verkündet, jetzt wisse man endlich, wie es wirklich war, und die Geschichte müsse neu geschrieben werden. Aber auch diese Erzählung wird nicht das letzte Wort sein. Man könnte gar meinen, jede Generation habe ihr eigenes Geschichtsverständnis. Wir wundern uns, dass die einst als unumstößlich gehandelten Fakten mit der Zeit an Gültigkeit und Bedeutung zu verlieren scheinen. Was bedeutet das?

Keine Frage, die Vergangenheit ist umstritten! Gewiss, man mag einen Kriminalfall lösen, den Täter ermitteln und vielleicht sogar sein Geständnis bekommen. Aber schon bei der Rekonstruktion des Tathergangs gibt es Ungenauigkeiten und mehr oder weniger voneinander abweichende Darstellungen. Das angestrebte Ziel der Eindeutigkeit rückt vollends in weite Ferne, wenn wir die Motivation des Täters und anderer Beteiligten in den Blick nehmen. Es geht dabei um innere Beweggründe, die den Betroffenen oft selbst nur zu einem geringen Teil bewusst sind. Das, was in unserem Innern lebt, bringen wir zwar mit Worten und Taten im Laufe der Zeit zum Ausdruck, doch ist dieser Ausdruck fast immer unvollständig und häufig auch verstümmelt. Wie oft mussten wir schon feststellen, dass wir doch eigentlich etwas ganz anderes wollten? Wir fanden nicht die richtigen Worte, wir reagierten anders, als wir uns vorgenommen hatten. Der Verbrecher muss natürlich nach seinem Verbrechen gerichtet werden, das heißt, nach dem, was als seine Tat in der Vergangenheit geschehen ist. Ein gerechter Richter trachtet zwar danach, die Motivation und Gemütsverfassung des Angeklagten zu berücksichtigen, muss aber auch feststellen, dass er damit den Bereich der sogenannten „harten“ Fakten verlässt.

Wir sehen also, dass die eindeutige, das heißt, unumstrittene Darstellung eines geschichtlichen Ereignisses bereits ein schwieriges Unterfangen ist. Doch wenn wir uns den inneren Vorgängen oder Erlebnissen zuwenden, müssen wir feststellen, dass ein solches Unterfangen nahezu unmöglich ist. Der Grund dafür ist, dass der Ursprung unseres Innenlebens nicht in der geschichtlichen Zeit zu finden ist. Innere Realitäten kommen aus einer Welt jenseits der Zeit. Damit rühren sie aus einer Dimension her, die unterhalb unserer subjektiven Vorlieben, Meinungen, Pläne und Absichten existiert. Die Quelle, aus der wir geschöpft sind, aus der wir als Geschöpf gespeist werden, ist ewig.

Wir sollten uns hüten, unsere persönlichen, subjektiven Ansichten zu objektivieren. Auch wenn es zutreffen mag, dass der Mensch in seinem tiefsten Wesenskern göttlich ist, so sind seine Meinungen und Urteile noch keineswegs ewige Wahrheiten. Denn sein Göttliches liegt tief unterhalb seiner zeitgebundenen Erscheinung im Unbewussten verborgen. Umgekehrt aber sollten wir uns auch davor hüten, die Sinnbilder ewiger Wahrheiten in die geschichtliche Zeit zu projizieren und sie als historische Fakten anzusehen. Solche Sinnbilder sind etwa die uns überlieferten mythologischen Erzählungen, wie sie in den Heiligen Schriften zu finden sind. Das Heilige geht verloren, wenn wir es ans Kreuz von Raum und Zeit nageln. Sobald wir das Leben eines Heiligen nur noch als geschichtliches Ereignis verstehen und nicht mehr als Darstellung eines inneren Sinnes erleben, verlieren wir den Zugang zur Wahrheit und verstricken uns im endlosen Streit um faktische Richtigkeit.

Wie viele Bücher wurden nicht schon über das Leben Jesu geschrieben, in denen die Autoren versuchen, ihn als Mensch seiner Zeit, als äußere Erscheinung darzustellen! Wann genau hat er gelebt? Wer waren seine Eltern, unter welchen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umständen wuchs er auf? Was hat ihn beeinflusst, wer waren seine Lehrer? Welche Gewohnheiten und Rituale gab es in seiner Zeit? Die Ausgangfrage scheint dabei immer zu sein: „Wer war Jesus wirklich?“ Daran erkennt man bereits, dass der Sinn der überlieferten Bilder und Erzählungen verfehlt werden muss. Um zu erfassen, was die Überlieferung für unser eigenes Leben bedeutet, müssten wir fragen: Wer ist Jesus wirklich? Er kommt doch aus der Ewigkeit, war, ist und wird immer sein. Nähern wir uns Ihm auf diese Weise, weitet sich die Frage dahingehend, dass sie schließlich lautet: Wer ist Christus in Wahrheit?

Durch die Historisierung und damit Vergegenständlichung innerer Wahrheiten ist schon viel Unheil über uns gekommen. Wie oft haben nicht Religionsgemeinschaften oder Völker argumentiert, dass ihr Prophet zeitlich vor den Propheten der anderen erschienen und somit der Ursprüngliche und einzig Wahre sei. Die zeitlich Späteren hätten nur dessen Lehre kopiert und verwässert. Oder aber die früheren werden nur als Vorboten anerkannt, als Wegbereiter für den späteren Stifter ihrer Religion. Immer wieder kommt es zu unseliger Rechthaberei: „Unsere Tradition geht auf den Schöpfergott zurück; wir sind die Hüter der reinen Lehre. Die anderen haben nicht die Offenbarung, die uns zuteilwurde. Wie oft wird nicht mit Verweis auf Heilige Schriften die Herrschaft über Territorien beansprucht? „Das ist unser Land; es steht geschrieben.“ Man sieht sich berechtigt, den Tempel einer anderen, geschichtlich jüngeren Glaubensgemeinschaft zu zerstören, weil man meint zu wissen, dass zeitlich vorher an dessen Stelle ein Tempel der ihren gestanden war.

Würde man aufhören, mythologische Erzählungen auf einer Zeitlinie zu verorten, was bliebe dann? Es gäbe keine Hierarchien mehr, kein Höherstehen des einen Propheten über den anderen, nicht den Stolz, Teil einer alten Tradition zu sein, keine Überheblichkeit, weil man in ein Volk hineingeboren wurde, das angeblich von Gott auserwählt sei. Man lässt die Vergangenheit ruhen, denn man spürt, dass sich die Wahrheit zwangsläufig in der Zeit verliert. Da man erkennt, dass die mythologischen Erzählungen allen Menschen gleichermaßen gehören, verschwinden Meinungsstreit und Rechthaberei.  Macht für sich und die Seinen zu beanspruchen, erscheint nunmehr töricht. Was bleibt ist das Jetzt, in dem ein jeder mehr oder weniger offenständig anwesend ist. Was vor hunderten oder tausenden Jahren geschah, weiß man nicht. Seine Bedeutung, sein Sinn, kann sich nur in der wach erlebten Gegenwart offenbaren. Das Große drückt sich im Kleinen aus. Ein unerwartetes Missverständnis, ein plötzlicher Stimmungswechsel, eine merkwürdige Wortwahl oder auch die Anordnung von Gegenständen im Raum können zu Zeichen werden, die auf größere Sinnzusammenhänge hinweisen. Ob der Prophet als geschichtliche Person eine moralische Autorität gewesen sein soll, ein Brennpunkt sentimentaler Schwärmerei oder ein mutiger Sozialreformer, das alles ist nun unwichtig. Andere Frage rücken in den Vordergrund: Wie macht Er sich hier und jetzt bemerkbar? Wo lebt Seine Lehre? Und, vor allem, was hindert mich ganz konkret daran, Sein Licht zu erfassen?

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