Verwirrung

Warum wir Einseitigkeit vermeiden sollten

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Verwirrung entsteht aus Unordnung. Wo Unordnung herrscht, sind viele Dinge nicht an ihrem Ort. Wenn das Feuer im Kamin lodert und eine behagliche Wärme das Wohnzimmer erfüllt, ist die Welt in Ordnung. Aber die Behaglichkeit ist dahin und ein großes Durcheinander entsteht, sobald das Feuer sich außerhalb vom Kamin ausbreitet. Eltern geben ihren Kindern Halt, indem sie deren Spielraum schützen, so dass die Kinder ruhig gedeihen können. Sind aber die Eltern selbst ohne Halt im Leben, verwirrt sich das Schicksal der Kinder, da diese nun ihrerseits versuchen müssen, ihre Eltern zu stützen. Derlei Verwirrungen können über Generationen hinweg andauern.

Wenn unser Verstand die äußeren Sinneseindrücke mit Hilfe von Begriffen zu einer verständlichen Wahrnehmung ordnet, nimmt er den ihm angemessenen Platz ein. Konstruiert aber derselbe Verstand eigenmächtig Ansichten, die keine Entsprechung in der Wahrnehmung finden, stößt er in Bereiche vor, für die er nicht zuständig ist. Da verliert er sich in selbst geschaffenen Abstraktionen und stiftet mehr Verwirrung als Einigung. Konzepte, beispielsweise, die der Verstand vom Universum entwickelt, gründen nicht in unmittelbarer Anschauung. Indem sie den Menschen als zufälliges Geschöpf in einer unendlichen, leblosen Leere erscheinen lassen, überantworten sie ihn einer inneren Verzweiflung, da er die damit vermittelte Sinn- und Bedeutungslosigkeit nicht ertragen kann.

Um die Neigung des Verstandes, sich in Abstraktionen zu versteigen, einzudämmen oder zumindest auszugleichen, solle er sich, wie es öfter heißt, auch für innere Eindrücke oder Impulse öffnen. Nun gibt es in der deutschen Sprache für das Organ unserer Psyche, das dafür zuständig ist, die Bezeichnung „Vernunft“. Das Wort stammt vom Verb „vernehmen“, was „hören“ bedeutet und damit auf den innersten unserer äußeren Sinne verweist. Gemeint ist ein inneres Horchen, um dessen gewahr zu werden, was metaphorisch manchmal die Stimme des Herzens genannt wird. Die Vernunft ist also ein vernehmendes Organ. Sie ist an ihrem Ort, wenn sie auf Empfang eingestellt ist. Dann kann sie Einfälle wie Bilder, Assoziationen, plötzliche Erkenntnisse oder Erinnerungen aufnehmen, um sie dem Verstand als eine seine Außenwahrnehmung ergänzende Information einzugeben. Bleibt der Verstand bei seinem Leisten und spielt sich nicht zum Richter über die Vernunft auf, nimmt er das von ihr Vernommene still zur Kenntnis und setzt es mit dem von ihm Wahrgenommenen in Verbindung.

Ihrerseits aber darf sich auch die Vernunft nicht über den Verstand hinwegsetzen und ihre innere Wahrnehmung vernünftelnd zu objektivieren suchen. Das, was uns aus unserem Innern erreicht, ist zunächst einmal nur für uns selbst von Bedeutung. Es kann ein Licht auf unsere Lebenssituation werfen und uns beispielweise auf eine Einseitigkeit hinweisen. Doch es bedarf der verständigen Anschauung unserer Erfahrungen, um erkennen zu können, inwiefern es auch für andere von Bedeutung ist. Während manche darauf beharren, dass nur der Verstand Realität erfassen kann, halten andere das von der Vernunft Vernommene für das einzig Reale. Die einen sehen sich durch die anderen in ihrer Einstellung bestätigt und umgekehrt.

Eine medial vernommene Botschaft stellt zunächst eine subjektive Realität dar. Als solche, das heißt, an ihrem Ort in der Psyche des Mediums, hat sie uneingeschränkte Gültigkeit. Nur das Medium vernimmt die Botschaft; alle anderen fassen sie als gesprochene oder geschriebene Mitteilung mit ihren äußeren Sinnen, das heißt über den Verstand auf. Das ist notwendig, denn der Verstand ist dazu da, zu prüfen, inwiefern die Mitteilung in der Anschauung oder Erfahrung ihre Bestätigung erhält. In der uns umgebenden Natur ist alles an seinem Ort. Die Fische sind im Wasser, die Vögel in der Luft; die Wurzeln sind unten, die Blätter und Blüten oben; der Mond scheint nachts, die Sonne strahlt am Tage. Schon die erste der beiden biblischen Schöpfungsgeschichten erzählt von dieser Ordnung. Die Natur auf Erden, das heißt die gesamte erscheinende Welt, spiegelt dabei eine himmlische Ordnung wider. Das, was wir sehen, wenn wir Bäume und Berge, Wolken und Wiesen, anschauen, sind Sinnbilder, die uns an einen himmlischen oder verborgenen Sinn zu erinnern vermögen. Wenn Christus in Gleichnissen spricht, verweist er nicht nur auf den sinnbildlichen Charakter dessen, was wir in der Natur sehen und erfahren. Er lehrt uns auch, für das im Innern Vernommene in der Außenwelt eine Entsprechung zu suchen. Erst wenn es sich in der allgemeinen Erfahrung oder Anschauung widerspiegelt, können wir wissen, dass ihm eine objektive Gültigkeit zukommt.

Ich möchte dazu ein Beispiel geben. Es zeigt, wie meine subjektive Wahrnehmung von mir als älterem Menschen und von den Jugendlichen, mit denen ich arbeite, in der äußeren Anschauung ihre Entsprechung findet. Wenn ich in meinen Garten schaue, fällt mein Blick auf einen jungen Rosenstrauch mit zahllosen gefüllten Blüten. Da seine Zweige noch zart und weich sind, kann er die schweren Blüten nicht tragen. Und so hängen sie alle nach unten. Ich wende meinen Blick und betrachte alte Rosenstöcke, deren Stängel über die Jahrzehnte verholzt sind. Sie tragen nur eine Handvoll Blüten, schaffen es aber, diese senkrecht in die Höhe zu strecken. Der junge Strauch scheint an seinen eigenen Blüten zu zerbrechen. Er muss gestützt und hochgebunden werden; ihm fehlt noch der innere Halt. Er treibt üppige Blüten in verschwenderischer Vielzahl, doch indem sie sich alle zur Erde neigen, lassen sie die Vergeblichkeit seiner Bemühungen erkennen. Er kommt nicht über sich selbst hinaus.

Hier zeigt sich das Bild der Jugend, so wie ich diese in meiner Arbeit erlebe. Denn der junge Mensch treibt mitunter ebenfalls fantastische oder auch wunderliche Blüten. Er will sich schmücken und bewundert werden, belastet sich damit aber selbst. Er trägt schwer an seiner Erscheinung, die ihm häufig nicht schön genug dünkt. Und so macht er zu viel: zu viel Muskeltraining, zu viel Styling, zu viel Make-Up. Man spürt, es ist alles nicht getragen von einer inneren Stärke. Offenbar hat der Jugendliche noch nicht gelernt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er will zu schnell zu viel. Damit verausgabt er sich. Und es scheint, dass er der Enttäuschung nicht entgehen kann. Bald schon wird der Boden um ihn herum mit den welken Blättern seiner einstigen Blüte übersät sein.

Die alten Rosenstöcke dagegen sind ein Bild der Selbstständigkeit. Sie hängen nicht herab, sind also unabhängig von äußeren Stützen. Hoch hinauf recken sie ihre Blüten, weit über meinen Kopf hinaus. Das heißt, sie präsentieren ihre Schönheit nicht mir, in der Hoffnung auf meine Bewunderung, sondern bieten sie dem Himmel dar, öffnen ihm ihre ganze Pracht. Das ist ein schönes Bild unserer Bestimmung und doch kann diese Eigenständigkeit auch zur Versuchung werden. Während der junge Strauch in der Gefahr ist, an seiner Eitelkeit zu zerbrechen, droht dem alten Rosenstock die Verhärtung in seinem Stolz und seiner Überheblichkeit. So muss sich der alte Mensch vor Verstocktheit hüten, damit seine Ausrichtung nach oben tatsächlich Hingabe und nicht etwa Eigensinn zum Ausdruck bringt. Er sollte dessen eingedenk sein, dass am Ende auch seine Blätter zu Boden fallen werden.

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