Vater oder Formel?

Wie können wir das Unvorstellbare erleben?

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In der hebräischen Überlieferung, die ihrem Sinngehalt nach eng mit dem Christentum verbunden ist, gibt es die Anweisung, sich von dem, „was oben im Himmel“ ist, kein Bildnis zu machen.[1] Man spricht vom „Bilderverbot“, wohl deshalb, weil ein Verbot gut zu unserer Vorstellung von einem gestrengen, rachsüchtigen Judengott passt. Hebt man das Wort jedoch aus seinem geschichtlichen, zeitgebundenen Kontext, das heißt, sucht man es von der Ewigkeit her zu verstehen, öffnet sich uns eine andere Perspektive. Nur vordergründig geht es um den Verzicht auf Zeichnungen, Gemälde oder Statuen, die Gott darstellen sollen. Schaut man tiefer hinein, erkennt man nicht ein Verbot, auch keinen wohlmeinenden Rat, sondern eher die Feststellung einer Tatsache: „Das, was auf Erden gar nicht erscheint, was keine irdische Form hat, könnt ihr euch nicht vorstellen. Es geht gar nicht. Versucht ihr es dennoch, geht ihr in die Irre.“

Damit haben wir ein Problem. Denn wie sollen wir mit etwas in Beziehung sein, etwas lieben, was wir uns gar nicht vorstellen können? Gott zu lieben ist doch das Höchste. Diesbezüglich ist dieselbe Überlieferung ganz klar: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt.“[2] Aber, noch einmal, wie kann ich etwas lieben, ohne es mir überhaupt vorzustellen? Eine mögliche Antwort finden wir vielleicht, wenn wir uns das Wort „vorstellen“ genauer anhören. Es sagt uns unmissverständlich, dass wir etwas vor uns hinstellen. Das heißt, wir schaffen etwas aus uns heraus und stellen es uns gegenüber, und auf dieses Gegenüber beziehen wir uns dann. Wir sehen es vor uns; wir haben ein Bild vor Augen. Das muss also gar keine Steinstatue oder Holzplastik sein, vor dem wir auf die Knie gehen. Auch unsere Vorstellung ist etwas nach außen Projiziertes, etwas Veräußerlichtes. Wenn nun aus dem Geiste Gottes die Mitteilung kommt, dass wir uns kein Bild von Gott machen können, verstehe ich das so, dass wir die Beziehung zu unserem göttlich-geistigen Ursprung verlieren, wenn wir das Geistige veräußerlichen, ihm eine Form verleihen. Mit anderen Worten, Gott zu lieben, heißt, Ihn im Innern zu erleben.

Es ist nicht zu überhören, dass die Worte lieben und leben einander nahe sind. Ähnlich wie die Liebe ist das Leben etwas, was aus dem Verborgenen kommt. Wir sehen zwar, dass es wie eine unerschöpfliche Quelle mit verblüffender Kreativität ständig zahllose Formen hervorbringt. Aber das Wesen dieser Quelle kennen wir doch nicht. Was ist das Leben? Woher kommt es? Wir wissen es nicht. Und doch haben wir als Mensch zu ihm ein intimes Verhältnis. Wir empfinden das Leben unmittelbar leiblich; wir fühlen uns lebendig, wenn wir uns freuen, wenn wir Lust erfahren, aber auch wenn wir Schmerzen haben oder traurig sind. Lust oder das Leid sind allerdings nur die äußeren Formen, die das Leben für uns annimmt, so wie alle Pflanzen und Tiere, die wir mir unseren Sinnesorganen von außen her wahrnehmen, belebte Formen sind. Das Leben selbst bleibt verborgen. Sucht man es in der Form, das heißt, in der Materie, verliert man es. Man zerlegt die Materie in immer kleinere Teilchen oder Bausteine, die für sich genommen leblos sind. Vielleicht stellt man gar eine mathematische Formel für das Leben auf. Von einer lebendigen Beziehung kann dann aber keine Rede mehr sein.

Gott zu lieben, zu erleben, heißt für mich, eine Beziehung zum Verborgenen zu haben. Dem steht das Bildliche ganz klar im Wege. Dazu gehört auch das wörtliche oder geschichtliche Verständnis religiöser Überlieferungen. Sobald ich sage, das war dort und damals, verhindere ich jegliche Beziehung zu dem, was in mir erlebt werden will. Doch was heißt das eigentlich, erleben? Es bedeutet in erster Linie Vertrauen, das Vertrauen darauf, im Leben immer und überall geführt zu werden – liebend, wohlwollend und umsichtig. Ich denke, daran erkennt man schon, dass es sich um eine sehr fragile Beziehung handelt. In manchen Momenten ist unser Vertrauen stark und wir haben das Gefühl, mit unseren Schritten und Handlungen genau der göttlichen Absicht zu entsprechen. Doch schon im nächsten Augenblick können uns Zweifel kommen und wir denken: Das, was hier gerade passiert, kann Gott unmöglich gewollt haben. So wankelmütig wie unser Vertrauen ist, so wankelmütig ist auch unsere Liebe.

Warum sind wir so kleinmütig, dass wir beim geringsten Gegenwind das Vertrauen verlieren und sogleich befürchten, alles, was wir nicht unbedingt selbst unter Kontrolle haben, werde misslingen, werde uns ins Verderben führen? Meiner Ansicht nach hat diese Vertrauensschwäche oder Kleingläubigkeit damit zu tun, dass in unserer modernen Psyche abstraktes Denken und Vorstellen dominieren. Wir haben den uns als kindlich anmutenden Glauben des mittelalterlichen Menschen überwunden. Mit der Vorstellung von Gott als bärtigem Mann auf einer Wolke hat die Aufklärung radikal aufgeräumt. Das war gewiss ein notwendiger Entwicklungsschritt. Denn das Bild eines körperlich erscheinenden Gottes im physisch vorgestellten Himmel war für den Menschen schließlich zu einem unüberwindlichen Hindernis auf seinem Weg zur Selbsterkenntnis geworden. Sein Glaube war zweifellos echt, aber auch naiv und blind in Bezug auf seine eigene Psyche. Als dann die Neuzeit kam, bestand für einige die Beseitigung dieses Hindernisses darin, den Glauben an Gott vollständig aufzugeben und zum Beispiel nur noch den Kräften der Natur zu vertrauen. Jene aber, die in sich spürten, dass es daneben auch Übernatürliches gibt, fingen an, sich Gott als eine Art intelligente Energie, als reines Licht oder allumfassendes Bewusstsein vorzustellen, sehr erhaben, sehr hoch schwingend, aber auch sehr abstrakt und vor allem – völlig unpersönlich.

Der Klarstellung in der hebräischen Torah, dass wir uns von Gott kein Bild machen können, steht der anderen Mitteilung gegenüber, die besagt, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild erschaffen wurde. Das bedeutet nun nichts anderes, als dass wir selbst das Bild Gottes sind, aber nicht so, wie wir körperlich erscheinen, sondern wie wir im Innern, im lichten, lebendigen Kern unserer Seele sind. Dort im Verborgenen ähneln wir Gott, sehen wir ihm gleich. Es geht also um eine Ähnlichkeit im Geiste. Mit anderen Worten: Nichts lebt in uns, was nicht auch in Gott lebt. Wir können denken, weil auch Gott denkt. Wir können fühlen und uns nach Liebe sehnen, weil auch Gott fühlt und sich nach Liebe sehnt. Und dass wir leiden, heißt, dass auch Gott leidet, gewiss aus anderen Gründen, aber dafür vielleicht umso mehr.

Mir ist schon bewusst, dass man nun gleich einwenden könnte, ich hätte eine anthropomorphe Gottesvorstellung, würde also meine allzu menschlichen Schwächen und Bedürfnisse unkritisch auf ein übernatürliches Wesen projizieren. Ich verstehe den Einwand und sehe die Gefahr. Gerade bei denen, die in ihrer beruflichen Laufbahn sehr rational unterwegs waren, beobachte ich im fortgeschrittenen Alter gelegentlich einen Rückfall in naive Glaubensvorstellungen. Ich kritisiere das nicht und es gibt dafür wahrscheinlich auch gute Gründe. Mit dem, was ich hier darzulegen versuche, rede ich aber nicht dem Anthropomorphismus das Wort. Denn ich suche die Beziehung zu Gott gerade nicht im Anthropomorphen, also nicht in der menschlichen Form, überhaupt in keiner Form. Mir geht es um das, was jenseits aller Form ist, das Unvorstellbare, das ich aber gleichwohl in meiner Seele erleben kann. Denn dort ähnele ich Gott, meinem Schöpfer.

Diesen Schöpfer von allem, was ist, nennen wir seit Alters Gottvater. Es ist eine in unserer Zeit umstrittene Bezeichnung, die im Ruf steht, ein Relikt aus patriarchalischen Zeiten zu sein. Die Vorstellung eines allmächtigen Patriarchen scheint uns zu unmündigen und absichtlich klein gehaltenen Kindern zu machen. Man vermisst das Weibliche, die Gottmutter. In der Natur ist das Weibliche dasjenige, was den männlichen Samen empfängt und das dadurch Erzeugte austrägt, ihm Form gibt. Das Männliche wird nicht zur Form, bleibt verborgen. Das erinnert an einen Begriff aus der stoischen Philosophie, den sogenannten logos spermatikos. Und auch das Sinnbild vom Samenkorn, das in den Schoß der Erde versenkt wird, gehört hierher. Gott, könnte man sagen, versenkt seine Gedanken in uns, wonach wir ihnen Form verleihen, nicht nur in Worten oder Handlungen, sondern auch in unserem Leib. Das heißt, dass jeder Mensch als Formgebender weiblich ist, weil er den weiblichen Schöpfungsanteil verkörpert. Dass es Männer und Frauen auf Erden gibt, verstehe ich als Sinnbild von etwas, was im Grunde eine Einheit ist, innen und außen, Schöpfer und Schöpfung.

Die Aufforderung, Vater und Mutter zu ehren[3], erhält vor diesem Hintergrund eine tiefere Bedeutung. In der Natur, in allem Erscheinenden ehren wir das Mütterliche. Im Geist, im Verborgenen, ehren wir das Väterliche. Als erscheinende Form existieren wir in der Zeit, sind vergänglich. Im Innern aber sind wir mit der Ewigkeit verbunden. Und diese Beziehung zur Ewigkeit erleben wir als eine Beziehung zum himmlischen Vater. Lebt diese Beziehung in uns, haben wir Vertrauen zum Vater. Dann ist der Vater uns nahe. Wenn wir dagegen meinen, Gott sei als energetisches Phänomen so erhaben und so fern unserer kleinen Erde, dass Er mit unserem Seelenleben gar keine Berührung habe, fällt es uns natürlich schwer, Ihm zu vertrauen. Was sollen wir auch erwarten von einem Gott, der unsere Sorgen und Ängste, unsere Not und Trauer gar nicht kennt, für Den das alles, salopp gesagt, Pipifax ist? Wie sollen wir eine lebendige Beziehung zu einem „Prinzip“, einer „Weltformel“ oder einer Zentralsonne haben? Das geht nicht. Das ist blutleer – und also ohne Wahrheit.

Darin könnte aber auch gerade der Reiz eines abstrakten, quasi physikalischen und unpersönlichen Gottes bestehen, in dieser Ferne, Distanziertheit und Gleichgültigkeit. Eine Millionen Lichtjahre entfernte Superintelligenz appelliert nicht an unserer persönlichen Verantwortung. Sie lässt uns in Ruhe, lässt uns gewähren, stört uns nicht in unseren weltlichen Bestrebungen, unseren Projekten und Geschäften. Sie redet uns nicht ins Gewissen, erwartet keine Umkehr, keinen Wandel. Schließlich ist jede Erfahrung gleich gültig, ist die eine unserer Handlungen genau so berechtigt wie jede andere. Vor einem universalen Prinzip brauchen wir uns ob unseres Mangels an Liebe nicht zu schämen. Sinnlos einem Hyperbewusstsein gegenüber Reue zu verspüren.

Es hat schon seinen Grund, dass die Überlieferung vom einem Gottvater spricht. Dabei geht es allerdings nicht um eine Nützlichkeitserwägung, etwa die Erwartung, dass sich der Mensch aus Respekt oder Angst vor dem Vater anständiger oder moralischer verhält. Dass der Gottvater furchteinflößend sei, muss nun wirklich als eine Projektion unserer eigenen Angst oder Allmachtsfantasie verstanden werden. Gott hofft auf unsere Liebe und wartet mit unendlicher Geduld darauf, dass wir Ihn erkennen und zu Ihm heimkehren. Es ist Ihm keineswegs egal, was wir tun oder denken, doch da Er weiß, dass die Liebe nur dort erblühen kann, wo weder Angst noch Zwang herrschen, muss er vieles erdulden. Umso mehr jubelt sein Herz, wenn wir heimkehren.


[1] 2.Mose 20,4

[2] 5.Mose 6,5

[3] 2.Mose 20,12

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