Was Männer zur spirituellen Gemeinschaft beitragen können
Die Frauen, so höre ich immer wieder, hätten sich schon vor längerer Zeit auf den Weg gemacht. Sie seien in die Selbstermächtigung gegangen, hätten sich aus Abhängigkeiten gelöst und für spirituelle Fragen geöffnet. Nun seien die Männer dran. Sie müssten nachziehen. Doch was genau bedeutet das für die Männer? Ist ihre Aufgabe bereits erfüllt, wenn sie es schaffen, ihre Gefühle zuzulassen und darüber zu reden? Macht es den Mann schon zum „neuen Mann“, wenn er sich Schwächen und Ängste eingesteht? Eine erhöhte Sensibilität ist gewiss wünschenswert, aber das allein reicht nicht, der spirituellen Herausforderung unserer Zeit gerecht zu werden. Es braucht eine Neuausrichtung des Denkens.
Die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften und der daraus hervorgegangenen Industrie der letzten Jahrhunderte ist der Erfolg eines forschenden, analytischen, logisch-kausalen und profitorientierten Verstandesdenkens. Diese Art der Hirntätigkeit galt und gilt als spezifisch männlich, das heißt sachlich, emotionslos, objektiv-unpersönlich, egozentrisch und zielstrebig. Ich sage keineswegs, dass wir all die Segnungen und Flüche der Technik ausschließlich den Männern verdanken. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass die hier gemeinte Denkweise besonders häufig bei Männern anzutreffen ist. Seit dem Jahrhundert der großen Entdeckungsreisen wurde und wird das Verstandesdenken vor allem benutzt, um die Welt zu beherrschen und die Natur zu unterwerfen. Der eine oder andere Forschergeist mag noch von einem reinen Erkenntnistrieb beseelt gewesen sein, das erworbene Wissen wurde am Ende doch meistens in den Dienst der Macht, der Kontrolle und Manipulation gestellt. So wurde das Verstandesdenken ein männliches Mittel, sich der mütterlichen Erde patriarchalisch untertan zu machen.
Nun hat aber dieses Verstandesdenken auch seine gute Seite. Ihm verdanken wir die Herausbildung präziser Begriffe, unparteiischer Analysen, ehrlicher Kritik und die Fähigkeit, aus Beobachtungen logisch nachvollziehbare Schlüsse zu ziehen. Diese Errungenschaften können uns vor Aberglauben und Vorurteilen bewahren. Dank ihnen sind wir in der Lage, unsere eigenen Denkfehler zu erkennen und zu korrigieren. All diese Fähigkeiten werden in der heutigen Zeit mehr denn je gebraucht. Es wäre bedauerlich, wenn Männer sie zugunsten eines gefühlvollen, scheinbar harmonischen, in Wirklichkeit aber unkritischen und unfreien Zusammenseins vernachlässigen oder gar aufgeben würden.
Was das Verstandesdenken in Verruf gebracht hat – zurecht, wie ich meine – ist die einseitige Fokussierung auf die Außenwelt, die Welt der materiellen Dinge und Sachen, gepaart mit einem aggressiven Wunsch, diese zu bezwingen, zu beherrschen, zu besitzen. Aber nicht nur das! Gefährlich, weil im Grunde unmenschlich, wird das Verstandesdenken durch seine Neigung zum Abstrakten, Lebensfernen. Es liebt Modelle, Berechnungen, Konzepte, Pläne, Gesetze, Statistiken. Es schaut immer auf das Allgemeine, nicht auf das Besondere. Für das Konkrete hat es wenig übrig, das konkrete Leid eines Mitmenschen, die einzelne Blume am Wegesrand, die Wünsche eines Kindes, das Los eines herrenlosen Hundes oder die Tischdekoration bei einer feierlichen Einladung.
Hier muss die Neuausrichtung des männlichen Denkens ansetzen. Diese Wandlung umfasst drei Aspekte:
1. Die einseitige Ausrichtung auf die materielle Welt erfährt eine Erweiterung dahingehend, dass neben der Außenwelt auch die Innenwelt betrachtet und erforscht wird.
2. In Bezug auf diese Innenwelt tritt das gewohnt aggressive, besitzergreifende und kontrollierende Vorgehen zugunsten einer rezeptiven, fragenden, ja demütigen Haltung zurück.
3. Das unmittelbar Vorhandene, das Konkrete im Hier und Jetzt, rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, seien es die eigenen Gedanken, Gefühle und Impulse oder Gegebenheiten und Ereignisse in der direkten Umgebung.
Ich werde zunächst erläutern, wie ich diese Aspekte verstehe, um anschließend darzulegen, wozu diese Änderungen führen und was insbesondere Männer zur Bildung spiritueller Gemeinschaften beitragen könnten.
Erstens: Wer sich wie ein Eroberer in die berufliche Karriere stürzt oder wie ein Abenteurer immerzu die Grenzen des technisch Machbaren überschreiten will, verliert sich zwangsläufig in der Endlosigkeit der Entwicklung. Das Streben nach immer mehr, immer höher, immer weiter, immer besser führt grundsätzlich nie in einen sicheren Hafen, wo man befriedigt und friedfertig vor Anker gehen kann. Es ist wie der Blick ins materielle Universum: Je weiter man kommt, umso weiter rückt das Ganze in die Ferne und alles erscheint nur noch sinnlos. Die natürliche Entwicklung ist zyklisch und wir sehen ein ständiges Kommen und Gehen. Das Werden ist allgegenwärtig, das Sterben ebenso. Der Verstand betrachtet die endlose Wiederkehr dieser Zyklen und fragt sich: Wozu das Ganze? Er strebt danach, den „ewigen“ Kreislauf der Natur mit einer linearen, fortschreitenden Entwicklung zu durchbrechen, einer Entwicklung entlang einmaliger, nie dagewesener Stationen. So hat sich gerade die männliche Schöpferkraft in der Erfindung und Konstruktion technischer „Verbesserungen“ der Natur erschöpft.
Um wieder zu sich zu finden, braucht jeder Mann eine Umkehr, eine Hinwendung zu dem, was im Innern bei ihm lebt. Damit ist keine Abwendung von der materiellen Welt gemeint, keine Verleugnung der dreidimensionalen Realität. Umkehr bedeutet hier vor allem die Einsicht, dass ich über den Weg der natürlichen, technischen oder kulturellen Entwicklung nie zu mir selbst finde. Man mag einiges erreichen, vielleicht sogar spektakuläre Erfolge feiern, flieht aber weiterhin der Frage nach dem Sinn. Denn man weiß sehr wohl, dass alles Aufgebaute, jedes Denkmal, das man sich selbst errichtet hat, irgendwann wieder zusammenbrechen und verschwinden wird. Die Flucht endet, wenn ich bei mir ankomme. Damit ist nicht so sehr ein intellektuelles über-mich-Nachdenken gemeint, auch wenn eine Prüfung meiner Motive natürlich seinen Wert hat. Es geht vor allem darum, zu erleben, dass es in mir eine Welt gibt, die keine Entwicklung in zeiträumlichen Sinne kennt. Es gibt nichts zu erreichen; ich kann nichts tun oder machen. Bei mir ankommen heißt sein lassen.
Zweitens: Die verborgene, innere Welt des Geistes entzieht sich jedem Versuch, sie zu bezwingen oder erobern. Hier lebt etwas, das wir nicht objektivieren oder versachlichen und mit Begriffen dingfest machen können. Es ist nicht wichtig, wie man es nennt, ob Seele, höheres Selbst oder Geistführer. Ein Mann, der dieses Lebendige bei sich zulassen möchte, braucht dazu eine Einstellung, die wir vor allem von Frauen kennen. Ich meine damit eine einladende, empfangende und hingebungsvolle Haltung, eine Gewissheit, nicht tun, sondern „nur“ zulassen zu können. Was kommt, ist ein Geschenk, eine Gnade. Still bei sich zu sein, untätig und ohne Ziel oder Zielvorstellung, ist vielleicht für Männer generell schwieriger als für Frauen. Aber es tut not, die Kontrolle abzugeben, und zu erkennen, dass es hier etwas gibt, das gar nicht kontrolliert werden kann. Das bedeutet eine enorme Entlastung.
Zwar gibt es in der inneren geistigen Welt keine Entwicklung im linearen zeiträumlichen Sinne. Das bedeutet aber nicht, das hier alles wie ein stehendes Wasser, ein trüber Tümpel des Seins ist. Im Gegenteil! Hier gibt es Dynamik und Kreativität, auch neue, ungeahnte Räume, die sich einem erschließen können. Im Unterschied zur Entwicklung in der erscheinenden Welt könnte man hier von Entfaltung sprechen, seelischer Entfaltung. Ich möchte diesen Aspekt aber nicht zu sehr betonen, denn ich weiß, wie leicht der männliche Ehrgeiz geweckt wird und ein unheilvolles Streben nach höheren Bewusstseinsstufen oder tieferen Mediationszuständen losgeht. Es genügt, sich dieser verborgenen Seite des Seins demütig, dankbar und freudig zuzuwenden.
Drittens: Was unsere seelische Entfaltung auf jeden Fall fördert, ist die lebendige Beziehung zu dem, was hier und jetzt ist. Für jemanden, der über ein lebenslang trainiertes Verstandesdenken verfügt, ist das gar nicht so einfach. Immer wieder schieben sich Gedanken und Vorstellungen zwischen mich und dem, was ich wahrnehme, sei es irgendein Wissen, das ich in der Vergangenheit angesammelt habe, sei es eine Erwartung oder Befürchtung in Hinblick auf die Zukunft. Manches, vielleicht sogar das meiste, davon lenkt mich vom unmittelbar Vorhandenen ab. Es gibt aber auch Gedanken, Assoziationen oder Einfälle, die eine Reaktion oder Antwort auf die Situation sind, in der ich mich befinde, den Bericht, den ich höre, oder die Beobachtung, die ich mache. Nicht jede „Störung“ meiner Konzentration ist schädlich. Es gibt förderliche Unterbrechungen, solche nämlich, die mich aufmerksam machen auf das, was gerade im Moment ist.
Man könnte bei alldem meinen, es gehe darum, sich selbst zu analysieren, zu rechtfertigen, vielleicht die eigene Großartigkeit darzustellen oder im Gegenteil, vermeintliche Schwächen zu entdecken und sich Vorwürfe zu machen. Doch dem ist nicht so. Es geht auch nicht darum, irgendwelche Gefühle auszudrücken, was eh ein heikles Unterfangen ist, da Gefühle sehr flüchtig sind und es leicht damit endet, dass man über Gefühlskonzepte spricht. Wenn es um die Bildung einer spirituellen Gemeinschaft geht, ist man selbst als Person gar nicht so wichtig. Im Gegenteil! Es ist notwendig, zu dieser Person auf Distanz zu gehen. Und genau bei diesem Bemühen um Unparteilichkeit hilft der klare analytische, objektivierende, das heißt „unpersönliche“ Verstand, den man natürlich nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend bei Männern antrifft. Man will sich selbst nichts vormachen, nichts einreden, aber auch nichts einreden lassen. Man reagiert eher skeptisch und reserviert, wenn andere wortreich von ihren Empfindungen und Gefühlen sprechen, spürt die suggestive Wirkung, die von solchen Berichten ausgeht, spürt, wie der Mensch sich selbst in eine Art Gefühlstrance versetzen, in Gefühlszustände hineinsteigern kann.
Ich meine, man tut den Männern Unrecht, ihre mit einer wortkargen Verschlossenheit gepaarten Skepsis als Beweis einer „verkopften“ Art zu kritisieren.
Wenn ein Mann nach einer geführten Meditation sagt, er habe nichts „gesehen“, oder in einer Familienaufstellung meint, er spüre nichts, so ist es immerhin zu begrüßen, dass er die schlichte Tatsache akzeptiert und sich nichts einbildet. Diese ehrliche, selbstkritische Einstellung ist unbedingt erforderlich, denn das, was einem einfällt, plötzlich als Impuls oder Bild auftaucht, bedarf immer der Prüfung. Es ist nun einmal so, dass wir Menschen es in der Kunst der Selbsttäuschung zu einer gewissen Perfektion gebracht haben. Damit wir uns nicht im eigenen Lügengespinst verheddern, ist so etwas wie eine wissenschaftliche Disziplin durchaus vonnöten.
Meiner Beobachtung nach sind viele Menschen der Ansicht, ihr Denken zurücklassen zu müssen, sobald sie sich ihrer Innenwelt zuwenden. Man dürfe spüren, allerlei Körperempfindungen haben und Bilder „bekommen“, aber das Denken habe dort nichts zu suchen. Das ist insofern richtig, als man ohne Konzepte, ohne gedanklich gefasste Erwartungen oder Befürchtungen in sich hineinhorchen sollte. Man macht sich leer und wagt sich quasi wehrlos in unbekanntes Terrain vor. Vielleicht taucht dann etwas auf, eine Körperempfindung, eine Stimmung, ein Bild, ein Wort, eine Erinnerung. Ganz gleich aber, was es ist, es will befragt werden. Was bedeutet es? Was bedeutet es im Kontext der Situation, in der ich mich befinde, hier und jetzt? Ich weiß es zunächst gar nicht. Vielleicht sehe ich etwas, weil ich von einem Wunsch oder einer Angst erfüllt bin. Vielleicht bringt sich ein Traum oder eine Begegnung in Erinnerung, scheinbar ohne Zusammenhang. Möglicherweise „produziere“ ich Bilder, weil ich einem Erwartungsdruck nachgebe. Befinde ich mich gerade in einer Gruppe, hat das, was mir einfällt, vielleicht überhaupt nichts mit mir, sondern mit einer anderen Person im Raum zu tun. All das gilt es zu prüfen. Das geht nur, indem man still bei sich darüber nachdenkt.
Gelingt die hier gemeinte Neuausrichtung des Verstandesdenkens, gelangt das Männliche im Menschen zu einer schöpferischen Potenz, die in unserer Zeit dringend gebraucht wird, die Fähigkeit nämlich, dem einzelnen Augenblick, der jeweils besonderen Situation oder aktuellen Begegnung Sinn zu verleihen.
Im kreativen Akt der Sinngebung wird der Moment geheiligt. Es handelt sich dabei nicht um eine intellektuelle Erklärung, bei der das aktuelle Geschehen rational auf bestimmte Ursachen zurückgeführt wird. Die Zahl derlei Erklärungsmuster ist Legion; es gibt psychologische, physiologische, soziologische, wirtschaftliche, politische, neurologische, naturgesetzliche und viele andere. Erklärungen dieser Art haben nichts mit Sinn zu tun. Sinn zu erfassen ist nicht das Ergebnis kausalen Denkens, sondern eher wie die spontane Erinnerung an unseren Ursprung, an eine Wahrheit jenseits von Zeit und Raum.
Der Sinn, der einem unvermittelt kommt, einfällt, aufgeht oder einleuchtet, ist eng mit der Sprache verbunden. Worte haben die besondere Eigenschaft, Welten zu verbinden, nicht nur meine Wahrnehmung mit der meines Nachbarn, sondern auch die unsichtbare Welt des Geistes mit der äußeren Welt der Dinge. Ja, bis hinauf in die Dimension des höchsten Ursprungs, scheint das Wort als schöpferische Kraft bedeutsam zu sein. Ich verweise hier auf das, was in der griechischen Antike Logos spermatikos genannt wurde, gerade weil dieser Begriff so deutlich auf den männlichen Schöpfungsimpuls hinweist. Natürlich ist es nicht so, dass ein diesseitiges Wort dieselbe Qualität hat wie ein jenseitiges, dass ein Engel so zu mir sprechen müsste wie mein Nachbar, aber die jenseitige Qualität des Wortes, des befruchtenden Logos, die sich vielleicht eher in Zahlen und Proportionen ausdrückt, ist doch verborgen in unseren diesseitigen Worten enthalten, schwingt im Sprechen mit. Darauf aufmerksam zu werden, hilft, den geistigen Hintergrund dessen, was ich vordergründig beobachte und erfahre, zu verstehen. Man ahnt, dass es Worte sind, bestimmte Worte, die das Gerüst der momentanen Erfahrung bilden.
Dem patriarchalisch geprägten Verstandesdenken fällt es schwer, zurückzutreten und sich vorbehaltlos und vorurteilslos der unbekannten Welt des Verborgenen hinzugeben. Das ist seine Schwäche und man beobachtet sie öfter bei Männern als bei Frauen. Die Stärke dieses männlich geprägten Denkens ist die kritische Selbstprüfung, die Skepsis gegenüber Sentimentalität und Schwärmerei, das Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen, nüchtern und unparteiisch. Wenn es Männern gelingt, sich für die seelisch-geistige Welt in ihnen zu öffnen, könnte gerade dieser wissenschaftliche Denkansatz ihnen zu wirklich neuen Erkenntnissen verhelfen – zum Wohle aller.
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