Wann mich der Anblick nackter Menschen irritiert
Es ist Sommer und es zeigt sich, dass viele Menschen, sofern sie nicht verreist sind, ihre Freizeit gerne an einem der natürlichen oder künstlich angelegten Seen ihrer Umgebung verbringen. Dort nun erfreuen sich sogenannte FKK-Bereiche wachsender Beliebtheit – zumindest sofern mich mein subjektiver Eindruck nicht trügt. Sogar im katholisch geprägten Bayern, wohin mich mein Schicksal verschlagen hat, ist es offenbar nicht länger anrüchig, sich vor aller Augen nackt auf die Wiese eines Baggersees zu legen. Gewiss entscheiden sich manche auch deshalb für das Nudistenufer, weil es dort so schön ruhig ist. Denn Kinder und Jugendliche, die ihren Badespaß bekanntlich gern lautstark zelebrieren, trifft man dort nur selten an. Wie dem auch sei, der Anblick nackter Menschen, insbesondere wenn es sich um eine größere Anzahl handelt, hat für mich etwas Irritierendes.
Bevor du nun meinst, ich sei prüde oder bieder, erkläre ich am besten gleich, dass ich im Sommer sehr gern nackt bade und folglich regelmäßig solche FKK-Uferabschnitte aufsuche. Ich generiere mich nicht, mich in der beschränkten Öffentlichkeit solcher Bereiche vollständig meiner Kleidung zu entledigen. Befangen macht mich auch nicht etwa eine versteckte Lüsternheit, auf Grund derer ich mich zwingen müsse, nicht auf die enthüllten Körperteile der anderen zu schauen. All das erklärt nicht meine Irritation. Aber sie hat mit Enthüllung zu tun. Rein äußerlich lässt der Mensch hier seine Hüllen fallen; er offenbart sein Verborgenes. Würde man diese Geste in Worte fassen, könnte sie folgendermaßen lauten: „Schaut her, ich habe nichts zu verbergen; ich zeige mich vollständig.“ Das trifft aber nur im oberflächlichen, naturhaften Sinne zu. Was wirklich unser Verborgenes ist, das Seelisch-Geistige, wird dabei trivialisiert und profaniert, vielleicht sogar verneint.
Diese Ansicht erklärt, weshalb mich eine Situation im Kreis der Entblößten stets besonders befremdet. Wenn ich beobachte, wie mehrere Menschen, die sich vielleicht gar nicht näher kennen, nackt beisammenstehen und sich unterhalten, habe ich jedes Mal das Gefühl einer Dissonanz, so als wäre die Nacktheit irgendwie stimmiger, solange nicht gesprochen wird. Nackt zu schwimmen, in der Sonne zu liegen oder meinetwegen auch Körperübungen zu machen, scheint das Natürlichste auf der Welt zu sein. Doch sobald der Mensch den Mund aufmacht, stört seine Nacktheit. Unsere Sprache kommt doch aus dem Verborgenen, dem unbewussten Innern. Sie ist das, was auf Erden uns Menschen vorbehalten ist. Um es in einer biblischen Redewendung zu fassen: Das Wort ward Fleisch[1] – aber aus dem Fleisch ist nie ein Wort geworden. Die Nacktheit zeigt uns als animalische Kreatur. Das sind wir natürlich auch – aber eben nicht nur und vor allem nicht wesentlich.
Apropos Bibel! Im Buch Genesis gibt es eine interessante Begegnung mit der Nacktheit. Noah, mythologisch gesehen, der Gründervater einer neuen Welt, schläft eines Tages seinen Rausch aus, nachdem er dem Wein übermäßig zugesprochen hat. Im Schlaf muss er sich wohl bloß gestrampelt haben. Jedenfalls erzählt die Geschichte, dass sein Sohn Ham ihn nackt liegen sieht und dies seinen beiden Brüdern Sem und Jafet erzählt. Diese decken den Vater zu, ohne ihn dabei aber anzusehen. Als Noah später erwacht und hört, was ihm, wie es heißt, sein jüngster Sohn „angetan“ hat, verflucht er Ham.[2] Die Szene ist zunächst komplett unverständlich. Was kann denn der Sohn dafür, dass er seinen besoffenen Vater nackt gesehen hat? Ihn dafür zu verfluchen, scheint völlig unangemessen. Weil die Erzählung, so wie sie schriftlich überliefert ist, für den modernen Menschen keinen Sinn mehr ergibt, wurde sie zum Anlass für die wildesten Spekulationen. Insbesondere von Seiten der psychoanalytischen Denkschule kamen Vermutungen auf, es könne sich hier um Voyeurismus, einen homosexuellen Übergriff, Inzest mit der Mutter oder gar Kastration des Vaters handeln.
Ich denke, all diese modernen Interpretationen gehen am Kern der Erzählung vorbei. Bleiben wir beim Bild, das uns überliefert wurde! Und dann fragen wir, wessen sich Ham gewahr wird, wenn er seinen Vater nackt sieht? Er hat ihn womöglich schon öfter nackt gesehen, aber worauf die Erzählung hinweist, ist eine völlig neuartige Betrachtungsweise. Er sieht des Vaters Geschlecht, das heißt, er sieht die biologische Ursache seiner Existenz. Und was er im Grunde seinen beiden Brüdern draußen vor dem Zelt erzählt ist das, was er für eine Entdeckung hält: „Schaut nur, wir sind Kinder dieses Geschlechts, nichts anderes! Wir sind das Produkt einer Zeugung, hervorgegangen aus der Natur des Leibes. Die Natur hat mir ihr Geheimnis entdeckt. Wir kommen nicht vom Himmel, sondern aus der Erde.“ Man könnte also sagen, dass dieser Ham der erste Darwinist war, lange bevor Charles Darwin erklärte, der Mensch stamme vom Affen ab.
Vor diesem Hintergrund erhält die Verhüllung unserer Geschlechtsteile eine andere Bedeutung. Betrachtet man sie nur von ihrer zweckmäßigen Seite, gibt es nachvollziehbare Erklärungen. Offenbar ist die Verhüllung insofern nützlich, als sie unsere sexuelle Gier zügele, uns also helfe, unsere Lüsternheit im Zaum zu halten, so dass sie uns nicht immer wieder von anderen Tätigkeiten ablenke. Fragen wir aber nach dem Sinn dieser Verbergung, erhalten wir eine andere Antwort. Indem wir unser Geschlecht bedecken, bringen wir zum Ausdruck, dass unser Ursprung nicht im Geschlecht liegt. Wir mögen manches von unseren Eltern erhalten haben, Erbeigenschaften oder, wie man heute sagt, eine bestimmte genetische Veranlagung. Wir erscheinen in einem weiblichen oder männlichen Körper, groß oder klein, dick oder dünn, aber all das sind wir doch nicht selbst. Indem wir das, was die biologische Ursache unseres Daseins ist, verdecken, verweisen wir auf unsere verborgene, seelisch-geistige Seite, die göttlichen Ursprungs ist. Wir heben den Blick und sehen einander in die Augen, wo wir etwas vom absolut einmaligen Wesen des anderen erkennen können.
Wir sind nicht nackt erschaffen worden. Gott schuf uns als Lichtwesen. Natürlich werden wir nackt geboren und natürlich können wir nur in einem Körper geboren werden, wenn dieser zuvor von Eltern gezeugt wurde. Aber die Eltern zeugen nicht unsere Seele. Der Körper ist lediglich der natürliche Ausdruck unseres Lichtwesens. Scham ist ein authentisches, heiliges Gefühl. Es tritt ein, wenn wir uns erinnern, dass wir in unserem Ursprung nicht unsere organische Umhüllung sind. Wir schämen uns, zugelassen zu haben, dass unsere natürliche Form die Seele in den Schatten stellt. Wenn wir aber vom Sein der Seele nichts wissen wollen, erklären wir Scham zum Relikt einer doch längst überwundenen religiösen Vergangenheit, Ausdruck einer verklemmten Persönlichkeit. Wer nur das Physische, die nackte Tatsache unseres Geschlechts, als real anerkennt, kennt keine Scham, denn für ihn sind wir ja alle gleich, abgesehen natürlich vom Unterschied zwischen Mann und Frau. Bezeichnend, dass auch dieser Unterschied, wie man heute sieht und hört, zunehmend verwischt oder überwunden werden soll!
[1] Joh 1,14
[2] 1.Mose 9,24-25
Kommentare
[ … Hier kann dein Kommentar veröffentlicht werden.]