Leichte Beeinflussbarkeit

Unsere größte Schwäche

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Die globalen und regionalen Krisen der letzten Jahre haben in erschreckender Deutlichkeit gezeigt, wie leicht wir in unserer Meinungs- und Willensbildung manipuliert werden können. Offenbar haben wir die unselige Tendenz, uns vom Strom der Masse mitziehen zu lassen. Es gibt Menschen, deren Beruf es ist, andere in ihrer Geschmacksbildung und ihrem Konsumverhalten zu beeinflussen. Wie es scheint, sind manche von ihnen recht erfolgreich. Wären wir nicht so leicht zu beeinflussen, könnten sich Modeerscheinungen gewiss nicht derart epidemisch verbreiten, wie sie es derzeit tun. Offenbar wollen wir mitmachen, dazugehören und das haben, was andere auch haben.

Nur ein Beispiel! Anders als noch vor einigen Jahrzehnten gibt es inzwischen Millionen Menschen mit Tätowierungen. Ich frage mich, wer sich von all diesen Leuten ein Tattoo hätte stechen lassen, wenn er damit der einzige in der ganzen Gesellschaft gewesen wäre und diese Art von Hautschmuck allgemein als verwerflich und primitiv gegolten und er sich selbst damit als Asozialer stigmatisiert hätte. Läge dem Tragen eines Tattoos eine wirklich freie Entscheidung zugrunde, müsste jeder Tätowierte auch gegen die offene Ablehnung seinesgleichen daran festhalten. Aber ich habe da so meine Zweifel. Überlegen wir einmal, wer von uns bereit wäre, eine Zeitlang ein Verhalten zu zeigen, worüber unsere „Community“ missbilligend die Nase rümpfen würde, sagen wir, bei jeder Gelegenheit barfuß zu erscheinen. Für jeden, der nicht gerade Freude an der Provokation hat und es genießt, Menschen zu irritieren oder gar zu schockieren, bilden die stillschweigende Ächtung der anderen inklusive deren abschätzigen Blicke eine eher unangenehme Erfahrung.

Nun, da schwanken wir alle zwischen Eitelkeit und Stolz, wollen auf der einen Seite gefallen, andererseits aber auch zu uns selbst stehen. Unser Verhalten ist ein schwieriges Übungsfeld, weil so viel davon unbewusst geschieht. Ich meine damit, dass wir oft nicht erkennen, was uns zu dieser oder jener Handlung innerlich bewegt. Wir können ihr zwar im Nachhinein eine rationale Begründung zugrunde legen und uns selbst damit suggerieren, vollbewusst und widerspruchsfrei gehandelt zu haben. Aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass wir häufig unüberlegt handeln und uns im Moment des Tuns keine Rechenschaft über unsere Motivationen ablegen. Unsere Rationalisierungsbemühungen zeigen allerdings, dass es uns leichter fällt, bewusst zu denken.

Möchten wir also selbstständig aus eigenen, inneren Beweggründen, das heißt, frei handeln und zugleich gegen jede emotionale Wallung in unserem Umfeld immun sein, sollten wir uns zunächst unserem Denken zuwenden. Fangen wir damit an, uns zu fragen, was es heißt, selbstständig zu denken. Selbstständiges Denken ist wesentlich aktiv, nicht reaktiv. Das heißt, es erfolgt nicht nach dem Reiz-Reaktions-Schema, wie wir es zum Beispiel erleben, wenn wir am Straßenverkehr teilnehmen. Sobald wir ein Automobil über vielbefahrene Straßen steuern, läuft unser Denken weitgehend automatisch ab. Aufgrund der Inputs unserer Sinne, insbesondere des Sehsinnes, interpretieren und antizipieren wir fortlaufend das Geschehen um uns herum, was uns erst in die Lage versetzt, angemessen darauf zu reagieren. Selbstständig zu denken erfordert von uns nun aber gerade, dass wir zu allen Inputs auf Distanz gehen. Dazu brauchen wir Ruhe und auch eine gewisse Besinnlichkeit.

Doch worauf besinnen wir uns, wenn wir anfangen, selbst zu denken. Nun, das Wort sagt es bereits aus: Wir fragen nach dem Sinn dessen, was wir wissen oder erfahren haben. Was bedeutet das, was hier gerade geschieht? Diese Frage soll uns nicht zum klügeln einladen, sondern uns in eine Kontemplation führen. Selbstständiges Denken schöpft aus der Quelle, die verborgen in unserem Innern entspringt. Erinnern wir uns daran, dass Vernunft von „Vernehmen“ kommt. Es geht also darum, auf das zu horchen, was sich aus dem Innern meldet, Einfälle, Assoziationen, Inspirationen.

Die bloße Offenheit für das, was uns als Gedanke oder Vorstellung einfällt, ist für sich genommen natürlich noch kein selbstständiges Denken. Dazu ist es vielmehr nötig, sowohl diese Einfälle als auch das, was wir im Alltag erfahren und was darüber hinaus in der Welt geschieht, zusammenschauen und über diese nicht-zufällige Gesamtheit in einen intensiven, aktiven und völlig ergebnisoffenen Denkprozess einzusteigen. Die Absicht, die wir damit verfolgen, ist es, bislang ungeahnte Sinnzusammenhänge zu erkennen – oder anders gesagt, bewusster im Leben zu stehen. Dabei ist es wichtig, sich zumindest vorerst jeder Bewertung zu enthalten. Wir sollten uns also weder eines Erfolges rühmen noch für einen Misserfolg tadeln. Das fällt uns gewiss leichter, wenn wir uns eingestehen, dass wir die wahre Bedeutung sowohl des einen wie des anderen für das größere Ganze nicht kennen. Dazu gibt es eine bemerkenswerte Aussage Gurdjieffs. Er sagt nämlich: „Es kommt oft vor, dass in dem gemeinsamen Existenzprozess das Geschick für ein einzelnes Individuum im Prozess seiner persönlichen Existenz für dieses selbst absolut ungerecht ist, wobei aber für alle anderen, die mit ihm zusammen existieren, sich daraus im objektiven Sinne eine Unmenge gerechter Früchte ergeben.“[1]

Man könnte also sagen, dass selbstständiges Denken seinen Ausgangspunkt im Nichtwissen hat. In der Informationsgesellschaft, in der wir leben, ist das notwendige Nichtwissen leider unter einem Wust von Fakten, Fantasien, Meinungen und Überzeugungen verschüttet. Diese lösen automatisch Reaktionen in uns aus, neben motorischen und emotionalen eben auch intellektuelle. Und so bleibt unser Verstand ein Spielball der ständig heranflutenden Informationen. Oft fehlt uns die Zeit, uns so weit zurückzuziehen, dass wir uns besinnen können, was natürlich auch immer ein Hinweis darauf ist, wonach wir unser Dasein ausgerichtet haben. Verwirrt durch die aberwitzige Menge von oftmals unnützen, unzusammenhängenden und widersprüchlichen Informationen und um nicht vollends überfordert zu werden, suchen wir nach irgendetwas, das uns Halt zu geben verspricht. Wir meinen es bei denen zu finden, die scheinbar dasselbe denken, dieselbe Ansichten und Überzeugungen haben wie wir. Je größer die Gruppe dieser Gleichdenkenden ist, umso sicherer und beruhigter fühlen wir uns. Diese Zugehörigkeit entlastet uns intellektuell, da wir nun über ein Raster verfügen, in das wir sämtliche Informationen einordnen können. Das geschieht weitgehend automatisch, so dass von einem selbstständigen Denken keine Rede mehr sein kann.

Warum schlagen wir uns gern auf die eine oder andere Seite? Warum bilden wir Gruppen, die sich von anderen Gruppen abgrenzen oder diese gar bekämpfen? Warum sind wir immer wieder für oder gegen etwas, überschwänglich, fanatisch, rechthaberisch? Kann es sein, dass wir für kollektive Erregungen deshalb so empfänglich sind, weil uns das tägliche Dasein mit seinen öden Routinen zutiefst langweilt? Mir scheint es zumindest oft so, als würden wir dankbar jede Gelegenheit nutzen, uns zu empören, zu ängstigen, über andere lächerlich zu machen oder sentimentalen Anwandlungen hinzugeben. Die Welle kommt – und wir lassen uns davontragen. Selbstständig zu denken bedeutet auch, sich mit seinem Alleinsein zu konfrontieren. Wer selbst denkt, gehört keinem Lager an, keiner Strömung, keiner Mode. Still geworden steht er alleine und erst als solcher kann er sich dem Zug der Massenpsychose entziehen.


[1] Georg Iwanowitsch Gurdjieff, Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel. Eine objektiv unparteiische Kritik des Lebens des Menschen, Sphinx Verlag Basel, 1981, Drittes Buch, Seite 966

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