Ein Maß, das uns frommt
Wir sind gehalten, aber damit noch nicht geheilt. Gehalten werden wir in einer uns fremden Lebensform, der greifbaren Formulierung eines unbegreiflichen Wortes. Vom Wort kommt das Heil. Es heilt, wenn die Bedeutung leidvoller Erfahrung in einem sinnvollen Satz aufklingt. Was uns hält, können wir nicht halten. Wir können und sollen es aber tragen. Im Ertragen des Formenschicksals lernen wir bemerken, wie das verborgene Wort uns bewegt. Missgeschicke zeigen häufig, wo wir den Weg missverstehen. Dann wollen wir eigenwillig Schritte tun und Ziele erreichen, ohne im Einklang mit dem Sinn-Laut des formgebenden Wortes zu sein. So entstehen Missklänge, die uns als schmerzhafte Verzerrung oder störender Streit hindern, und unsere Werke können nicht gelingen. Horchen wir stille den Nachklang unserer Beweggründe, erkennen wir, wie fein die Form gestimmt sein muss, um noch im täglichen Tun den uns gründenden Wort-Ton durchtönen zu lassen. Schlafen wir über unser Tun ein, so erschlaffen die Sinne und wir vergessen das Formleben. Dann handeln wir grundlos und somit sinnwidrig. Schlafend sind wir taub für die Stimmungen, mit denen das Wort uns auf den Weg einstimmt. Schließlich erstarrt unsere Bewegung in starrsinniger Wiederholung lebloser Gesten, die allesamt eitel sind.
Wir können einen Beruf ergreifen und erhalten ein Gehalt, das uns ermöglicht, für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Das ist aber noch nicht die Formpflege, die uns das Maß unseres Wirkens lehrt. Die Treue zu unserem Maß schützt uns vor Missgriffen, mit denen wir uns an der Lebensform vergreifen. Dann suchen wir Freiheit in der Missachtung von Grenzen, die uns auf dem uns gemäßen Weg halten, und werden vermessen. Gewiss lässt jede Lebensform dem in ihr Gehaltenen einen wohl bemessenen Spielraum. Wir können nicht nur, wir sollten uns auch strecken und dehnen, müssen uns aber immer vor Überdehnung und Überhebung in Acht nehmen. Zerren wir ehrgeizig und stur an Haltung und Verhalten, reißt die Verbindung zu dem, was uns unser heilsames Maß gibt. Wir fühlen uns zu Höherem berufen, sind aber nicht so weit gereift, dass wir den Ruf zum einzig freien Tun vernehmen. Wir reifen, indem wir schrittweise erfahren, wofür wir geformt sind. Form, die wir tragen, eröffnet uns unseren Auftrag.
Unerträglich ist ein sinnloses Leben. Dann ist die Form zur leeren Hülle geworden, die wir mit aufregenden Erfahrungen verzweifelt zu füllen suchen. Doch weder Lust noch Leistung können die Leere heilen; sie werden zur Last und das Leben wird schwer. Sinn können wir nicht haben, sondern nur in Momenten des Seins erleben. Auch unser Leib hat nicht Sinn, hält uns aber im Leben, das uns als solches Seinserfahrungen ermöglicht. Der Leib ist also kein Werkzeug, mit dem wir Sinn machen können, sondern ein Instrument, das als belebte und bewegte Form dem Sinn Ausdruck verleihen kann. Gelingt dies, verschmelzen Ästhetik und Ethik zu einer Einheit, denn schön ist jener Ausdruck, der sich im Maß der inneren Berufung so bewegt, dass in dieser Bewegung Tugend aufscheint. Schönheit können wir genauso wenig haben wie Güte. Wo wir dennoch danach trachten, greifen wir zu den Mitteln der Kosmetik. Damit überformen wir die uns zuteilgewordene Form zur Maske unserer Eitelkeit, so dass unser Ausdruck in unaufrichtiger Selbstdarstellung erstarrt.

Unsere Form ist vollkommen, weil sie unserem Auftrag und damit unserem Sein maßvoll entspricht. Diese Vollkommenheit ist kein statischer Zustand, den wir durch die Zeit hindurch erhalten müssten. Sie ist nicht das Ergebnis einer Entwicklung, nicht der Erfolg von Bemühungen. Insofern können wir sie weder erreichen noch verlieren. Da es für sie kein Vorbild oder Ideal gibt, ist sie unvergleichlich. Wir missverstehen daher die Formvollkommenheit, wenn wir sie an einem Schönheitsideal messen. Erleben können wir sie nur als Einklang unserer Lebensform mit allen Lebensformen im geteilten Moment des Seins. Vollkommenheitsideale, die zu Zielvorstellungen werden, verführen uns leicht zu Zwangsgedanken und den daraus folgenden Zwangshandlungen. Hierin wurzelt unsere Gewalt, denn im Eifer des Erreichen-Wollens vergewaltigen wir andere Lebensformen genauso achtlos wie unsere eigenen.
Jede Geste ist eine Form, die mehr oder weniger harmonisch unserem Sein entspricht. Dasselbe gilt auch für jeden Gesichtsausdruck. Wie wir uns gebärden, kann uns zeigen, welche Aufgabe uns aufgebürdet wurde. Es erfordert allerdings ein gewisses Maß an Hingabe, um auf Gesten aufmerksam zu werden, ohne sie sogleich einem Ideal entsprechend anders gestalten zu wollen. Erst in der reinen Wahrnehmung kann sich der Geist der Geste zeigen und wir lernen zu verstehen, was uns im Innern bewegt. Oft findet Fremdes in unserer Form seinen Ausdruck, denn im Gegensatz zu anderen Lebensformen ist unsere grundsätzlich offen und in ihrer Durchlässigkeit unbegrenzt. Auch Landschaften, Bäume, Tiere oder andere Menschen können in unserer Gestik oder Mimik vorübergehend oder auch dauerhaft zum Ausdruck kommen.

Nur einer offenen Form wird Heilung verliehen. Sie ist hohl in dem Sinne, wie eine Gebärmutter hohl ist, das heißt, empfangsbereit für das Formgebende. Ist der Hohlraum still, kann in seinem Innern der reine Ton des Wortes erklingen. Wo dagegen Enge herrscht, ist keine Empfänglichkeit für das Heil. Der ängstliche Mensch neigt angestrengt dazu, festzuhalten und deshalb kann er nicht tragen. Ständig auf der Suche nach Sicherheit verschließt er jede Form, sei es nun eine Körperform oder eine Gedankenform, und kann das Fremde nicht sein lassen. So ist er eingesperrt in der Enge seiner Verkrampfung und jeder freie Ton, der seine Erstarrung lösen könnte, schmerzt ihn. Mitunter ist es also nötig, im Schmerz zu entspannen, ihm vertrauensvoll nachzugeben, damit Heilung geschehen kann.
Was heilt, hallt erlösend in freier Form. Es bringt uns in Einklang mit allen Lebensformen, denn auch diese erleben unser Heil. In unserer Form kommt Welt zu Wort, wenn wir erkennen, dass Eines in allem waltet. Es richtet uns auf, so dass wir tragfähig werden. Dann erst sind wir frei, fremde Namen zu vernehmen. Die Welt harrt ihrer Erhörung. Wir sind gehalten, zu heilen.
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